38.

11.03.2016

Der alte Jusuf und die Heiligen 

Liebe Freunde, ich möchte euch teilhaben lassen an meinen Erlebnissen mit dem alten Jusuf. Ich möchte vorausschicken, dass ich in meinem Leben recht weit herumgekommen bin. Auf einer meiner Reisen lernte ich den alten Jusuf kennen. Wie alt er war weiss ich nicht. Ich möchte es so beschreiben: Sein Gesicht war so voller altersfalten, dass ich dachte, es hat bestimmt keine weitere mehr Platz. Er hatte nur eine minimale Bildung und hat sein Leben lang auf dem Felde gearbeitet, was seine gebräunte ledrige Haut erklärte und seine Hände waren gross wie Teller. Wann genau ich ihn kennenlernte, weiss ich nicht mehr und wo es war ist nicht von Bedeutung.

Eines Tages besuchte ich auf einer Reise eine kleine Kirche. In ihr waren viele Heiligenbilder und Statuen und ein lebensgrosses Kreuz mit Korpus. Für diese kleine Kirche fast zu gross. Ich schlich mich gleichsam in die Kirche und setzte mich ganz hinten in eine Bank. Um ehrlich zu sein, interessierte mich die Architektur und die Kunst fast mehr, als die Tatsache, dass es eine Kirche war. Ein alter Mann stand gerade vor einer Statue des Apostels Paulus. Er betete dort inständig, so konzentriert, dass er mich nicht bemerkte. Mit der Zeit begann ich ihm ganz fasziniert zuzuschauen. Nach einer Weile wechselte er auf die andere Seite zu einer Statue des Apostels Thomas. Auch dort verharrte er länger im Gebet. Schliesslich ging er nach vorne, begab sich hinter den Altar und stieg eine kleine Treppe empor, begann die Christusfigur zärtlich zu streicheln. Er berührte mit seinen grossen Händen in feiner Weise die geschnitzten Wunden an dessen Füssen, dann die an den Händen und schliesslich die Herzwunde. Zu guter Letzt umarmte er die Figur und drückte seine ledrige Stirn so sehr gegen die Dornenkrone, dass er selber Bluttropen vergoss. Nun, ich war gelinde gesagt verwundert und fasziniert zugleich über diese Form der Frömmigkeit. Es fiel mir schwer, nicht innerlich zu urteilen. Ich dachte so im Stillen: Ein interessantes Beispiel an fragwürdiger Volksfrömmigkeit.

Als der alte Mann dann die Stufen vom Kreuz herunterstieg, bemerkte er mich und ich konnte an seinem gerade noch strahlenden Gesicht erkennen, wie es in eine Art Scham wechselte und fühlte, dass es ihm unangenehm war, beobachtet worden zu sein. In diesem Augenblick fühlte ich mich wie einen Voyeur, und schämte mich, diesen intimen Zeitabschnitt „begafft“ zu haben. Der alte Mann kam nun mit festem Schritt und ernstem Blick, wenngleich freundlich auf mich zu und sprach mich an. Nun, ich verstand kein Wort, denn er redete in der Landessprache. Verlegen sagte ich ihm, dass ich nur Deutsch verstehe. Seine dunklen Augen durchbohrten mich beinahe und es trat eine unheimliche Stille ein. Nach einigen Sekunden sagte er ganz gefasst in perfektem Deutsch: „So, dann werde sie Mühe haben, zu verstehen, was sie gerade gesehen haben.“ Ich fühlte mich völlig entwaffnet. Ich weiss nicht mehr, ob ich zuerst sagte: „Sie haben Recht.“ oder ihn fragte: „Woher sprechen sie Deutsch?“

Der Alte meinte dann mit sanfterer Stimme, und ich glaubte ein Lächeln erkennen zu können, es sei besser draussen zu sprechen, dies sei schliesslich eine Kirche. Neugierig folgte ich ihm nach draussen und er sagte zu mir: „Setzen wir uns hier auf die Bank vor der Kirche.“ Dies taten wir. Dann sagte er mir: „Ich bin Jusuf, wer sind sie?“ So stellte auch ich mich vor. Dann meinte er: „Was haben sie für fragen? Denn wer in eine Kirche geht, hat immer Fragen.“ Nun, ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und fragte ihn daher: „Woher sprechen sie so gut Deutsch?“ Er lächelte nun sichtlich erkennbar und meinte: „Das sind zwar sicherlich nicht ihre Fragen, aber die Deutsche Höflichkeit verlangt das anscheinend wieder.“

Jusuf erzählte mir in wenigen Sätzen, dass er während des Krieges in Deutschland war und dort Deutsch lernte und auch lernte, wie grausam die Menschen sein können. Schliesslich sei es ihm gelungen in seine Heimat zurückzukehren. Wie und warum er nach Deutschland verschleppt worden sei, sei heute nicht mehr wichtig. Ich wollte nicht weiter eindringen, denn dies schien mir Warnung genug, nicht weiter in diesem Themenbereich zu Bohren. Da ich seine erste äußerung so interpretierte, als ob er direkte offene Fragen mehr mochte, als höfliches oberflächliches Gespräch, riskierte ich es einfach und ich fragte: „Warum beten sie dieses Schnitzwerk an?“ Seine Augen begannen wieder zu leuchten und er lächelte freundlich und entgegnete: „So ist es besser, wer nicht direkt fragt, bekommt auch keine direkten Antworten.“ Nach einer kleinen Atempause sagte er mir: „Sie denken zu Deutsch. Ich bete diese Figuren nicht an. Das wäre Götzendienst.“ So schnell liess ich mich jedoch nicht kaltstellen. Also entgegnete ich ihm: „Dann beten sie diese Heiligen an, denn das sind sie doch, oder?“ „Nein und Nein und Ja“ meinte er. Nun war ich noch mehr verdutzt. Er meinte: „Nein, ich bete sie nicht an, dann hätte ich andere Götter neben Gott. Und, Nein, dass sind keine Heiligen, dass sind Statuen und Ja, die, welche sie darstellen sind Heilige.“ Mein analytischer Verstand war damit irgendwie nicht konform und so meinte ich: „Das müssen sie mir jetzt erklären.“ Dann wurde er etwas traurig und fragte mich: „Sie können doch bestimmt gut lesen, oder?“ Ich verstand den Zusammenhang zwar nicht, doch bejahte ich seine Frage. Darauf erklärte er mir: „Sehen sie, ich kann es nicht. Unter den Deutschen konnte ich nicht zur Schule und musste immer arbeiten, dann kam ich nach Hause und kämpfte ums Überleben, arbeitete und hatte keine Zeit zum Lesen und Schreiben lernen. Immer wenn ich ein Buch sehe, schmerzt mich das noch heute. So schaue ich den Menschen zu, wie sie die kleinen Bildchen, die ihr Gescheiten Buchstaben nennt, anschauen und sie fast anbetet. Ich staune, mit welcher Ehrfurcht ihr die Bibel, diese vielen kleinen Bildchen, verehrt. Ich kann diese Bildchen nicht lesen. Ihr könnt es und verehrt sie. Diese Statuen sind meine Schrift, doch ihr könnt diese nicht lesen und werft mir dann vor, dass ich sie anbete, nur, weil ihr sie nicht lesen könnt. Diese Statuen sind die einzige Schrift, die ich lesen kann und ich wünschte mir, ihr würdet es auch etwas lernen, dann würdet ihr mich weniger verurteilen. Zugegeben, meine Buchstaben sind grösser als eure, doch beinhalten sie das Gleiche wie eure kleinen Buchstaben, die ihr ohne hinterfragen verehrt.“ Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Da war ein alter Mann, der nicht lesen und schreibe konnte und es gelang ihm mich zu öffnen. Ich dachte darüber nach, wie oft ich die Bibel schon an mein Herz gedrückt hatte und sie verehrte und erkannte nie, dass diese Statuen für einfache Herzen auch nichts anderes sind, als ein Teil der Bibel in ihren Buchstaben geschrieben.

Es dauerte jedoch nur Sekunden und mich holte wieder meine Skepsis ein und ich fragte ihn: „Aber solch innige Heiligenverehrung? Für Menschen die tot sind? Und Totenbeschwörung ist doch auch Sunde.“ Zu meinem Erstaunen sagte er: „Nicht nur eine Sünde, eine grosse sogar. Doch hast du gesehen, dass ein Toter kam?“ Von diesem Moment an waren wir einfach per Du. Ich meinte, nein, ich sah nur eine Statue.“ Er antwortete, nein, du sahst weiterhin meine Buchstaben die ich lesen kann, genauso, wie du die deinen Buchstaben in der Bibel siehst, wenn du sie liest. Ich habe jedenfalls noch bei keinem der Klugen aus seiner Bibel einen Toten entsteigen sehen. Du etwa?“ Ich musste plötzlich lachen und dachte, dass wäre mal ein Film, dann verneinte ich es. Nun ging Jusuf in die Offensive und fragte „Hast du ein Problem mit Heiligenverehrung?“ Ich war verdutzt über diese Kehrtwende und gab zur Antwort: „Zumindest kenne ich viele, die damit ein Problem haben.“ Er fragte mich: „Hast du mich bei Paulus schon gesehen?“ „Ja.“ Sagte ich. Er meinte: „Ich liebe Paulus sehr, genauso wie Thomas. Weisst du, Christus hat uns Erlöst. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Von ihm kann ich alles lernen, was ich brauche, um zum Himmel zu kommen. Von ihm kann ich sogar lernen, die Sünde zu meiden. Aber es gelingt mir nicht, von ihm zu lernen, wie ich mich verändern soll, wenn ich gesündigt habe. Und weisst du warum? Weil Jesus keine Sünde hatte. Ich habe sie jedoch und habe viele in meinem Leben begangen. Ich kann sie Jesus jeden Tag übergeben, doch wie geht der Weg der Besserung? Das lerne ich von den Heiligen. Sie waren allesamt Sünder. Paulus und Thomas in fast gleicher Weise wie ich. Schau, an Jesus kann ich keine Veränderung erkennen, er ist derselbe Gestern, Heute und Morgen; ohne Sünde, ohne Notwendigkeit sich zu bessern. Paulus aber und Thomas; an ihnen erkenne ich Veränderung auf dem Weg zur Heiligkeit. Paulus bezeichnet alle Christen als Heilige. Doch nicht jeder ist ein Vorbild für mich. Die Kirche hat immer wieder einige dieser Menschen als Heilige erklärt, sprich als Vorbilder auf dem Weg zur Heiligkeit. Oder glaubst du allen Ernstes das Märchen, dass Saulus durch seine Bekehrung vom Saulus zum Paulus sofort ein Heiliger wurde?“ Ich antwortete ihm: „Das dachte ich, ja.“ Er grinste verschmitzt und meinte: „Du verstehst ja nicht einmal deine eigenen Buchstaben, wie willst du denn meine verstehen.“ Ich musste lachen und retournierte: „Du wirst es mir gleich beibringen.“

 

Er meinte: „Ich kann es versuchen. Saulus war ein stolzer Mann, er war bei der Ermordung von Christen dabei. Auch ich war bei der Ermordung von Menschen anwesend. Jesus schenkte ihm die Bekehrung, aber nicht die Demut, die musste er selber lernen. Paulus warf dem Petrus Heuchelei im Umgang mit den Juden vor, weil Petrus sich von den Heiden beim Essen zurückzog (Gal 2,11-12). Kurze Zeit später musste Paulus sich selbst ertappen, dass er noch viel der grössere Heuchler war, als er Timotheus um der Juden willen beschneiden liess (Apg 16,3). Oh, wie hat Gott ihn gedemütigt für seine stolze Attacke auf Petrus. Auch ich beschuldigte andere, nur um mich selbst kurze Zeit später in schwerer Sünde zu finden. Beide, Petrus und Paulus mussten die Demut so weit lernen, bis sie alles verloren. Petrus hing kopfüber am Kreuz und Paulus verlor sprichwörtlich seinen Kopf bei seiner Enthauptung. Auch ich habe in meinem Leben alles verloren und werde letztlich auch meinen Leib verlieren im Tode, wie Paulus und Petrus. Oder Thomas, der Zweifler. Er konnte erst Glauben als er die Wunden Christi berührte. Er fand dadurch den Mut am weitesten von allen Aposteln zu Reisen und zu predigen, bis nach Indien. Frag die Christen dort, wer ihnen das Evangelium brachte. Sie werden es dir sagen. Sie waren schon vor den Portugiesen und den Engländern Christen und bezeugen bis auf den heutigen Tag, dass Thomas sie lehrte. Doch auch er verlor alles und wurde erstochen. Der grösste Zweifler ging am Weitesten für Jesu. Im Krieg verlor auch ich meinen Glauben und fand ihn erst wieder bei der Pflege der Winden von Freunden. So berühre ich heute jeden Tag die Wunden des Herrn in meinem Buch und fühle sie inniger als du in deinem Buch. Und es stärkt meinen Glauben. Ich spüre die Dornenkrone Jesu in meinem Buch an meinem Leib, mehr als du in deinem Buch, und danke Gott, dass er mir so meine grossen Sünden vergeben hat. Wenn ich mein Buch an mein Herz drücke, spüre ich das Leiden Jesu, fühle seine Wunden mit meinen Fingern; mit deinem Buch gelang mir das noch nie und ich fand auch noch keinen, dem es gelang.“ Soll ich die nicht ihn Ehren halten, die mir helfen, den Weg zu Jesus durch ihr Beispiel, ihren Kampf in der Sündhaftigkeit zu gehen? Soll ich sie nicht bitten dürfen, mir durch ihr Beispiel zu helfen? Willst du mich zur Einsamkeit verdammen auf dem Weg eines Sünders, wo mich doch das Beispiel der Heiligen begleiten kann? Die übrigens nicht tot sind, denn Gott ist kein Gott der Toten sondern der Lebenden. Sie werden sogar im Leibe auferstehen und ihre Seelen sind bereits jetzt bei Gott.“

Dann überraschte mich Jusuf erneut: „Du hast bestimmt auch ein Problem, wenn ich zu Maria bete. Ich bete Maria nicht an. Dann würde kein Gebet von ihr erhört. Ich flehe sie an, mit mir bei Christus für mich zu beten. Ich bin ein Sünder gewesen und oft auch noch heute. Ich erlebe es immer wieder, dass Christus mir nicht antwortet. Doch wenn ich seine Mutter bitte, mit mir zu beten, antwortet Jesus immer. Oder weisst du nicht, dass Jesu das erste Wunder auf die Fürbitte seiner Mutter wirkte? Weisst du nicht, dass sie die erste Christin war, die Jesus bereits anbetete, bevor er geboren war, in ihrem eigenen Schoss? Ist dir entgangen, dass sie der Tempel für die neue Bundeslade ist? Das Heiligtum, dass sich Gott ausgesucht hat als seinen Tempel um Mensch zu werden? Wenn die Juden auf Gottes Geheiss den Tempel verehrten, in dem die Bundeslade stand, selbst als die Lade nicht mehr dort war, um wieviel mehr ist dann der Tempel zu verehren, in dem Gott Mensch geworden ist, selbst nach der Geburt? Sie ist für uns das grösste Vorbild an Demut unter allen Menschen. Sollen wir da nicht hinschauen dürfen, wie sie gelebt hat, um auch von ihr Demut zu lernen? Ich kann von Jesus lernen, ohne Sünde zu leben, doch nicht wirklich wie ich als Sünder den Weg zu ihm gehe, denn er hatte keine Sünde. Du kannst mich zu schwach nennen. Nun, dann rühme ich mich gerne meiner Schwachheit, denn in ihr bin ich stark. Heilige sind Helfer auf dem Weg zu Jesus, wie sprechende Wegweiser in den Bergen zum Gipfel. Wenn dir Wegweiser nicht hilfreich sind, zwingt dich keiner, diese zu beachten. Doch brauchst du dich dann auch nicht zu beschweren, wenn du vom Weg abkommst. Ah, ich sehe es an deinen Augen. Sprechende Wegweiser, he? Ja, dass Wort deiner gedruckten Bibel sollte nicht toter Buchstabe sein, sondern in deinem Herzen lebendig werden und zu dir sprechen, genauso, wie meine Buchstaben in mir. Ich wundere mich manchmal über den Analphabetismus der heutigen Schriftkundigen, sie haben verlernt, die Bilder der Buchstaben lebendigen werden zu lassen. Ihre Buchstaben sind tot. Weisst du, wenn einer eine Bibel in Deutsch hat, verurteilt er keinen, der eine in Chinesisch hat. Doch Chinesisch kennt keine Buchstaben, sondern nur Bilder, wenn auch sehr vereinfachte. Warum verurteilt derselbe Deutsch mich, der ich eine Bibel in anderen Bildern habe, als die Chinesen, aber eben doch eine Bibel? Schlimmer noch, warum verurteilt der Deutsche einen anderen Deutschen, der versucht die Schriftzeichen meiner Bibel zu erlernen und zu verstehen?“

 

Ich konnte Jusuf nur antworten: „Weil der Deutsche es vermutlich nie aus deinem Blickwinkel betrachtet.“ Er entgegnete: „Ja, jede Sprache ist ein anderer Weg, mit dem Ziel derselben Erkenntnis. Drei Männer stritten, welches der richtige Weg nach Berlin sei. Der Münchner sagte, der nach Norden. Der aus Rostock meinte, der nach Süden selbstverständlich. Einer aus Bonn schüttelte den Kopf und sagte, so kommt ihr nie nach Berlin. Nur nach Osten ist richtig. Jeder verurteilte den Anderen als Dummkopf und jeder marschierte los, nach seiner Vorstellung. Sie kamen alle in Berlin an. So steht auch Jesus für jeden in einer anderen Richtung, wenngleich für alle am selben Ort. Du, mein lieber musst nach Nordwesten.“ Scherzte Jusuf mir zum Schluss zu und verliess mich.