1751.

1.10.2013

Sterbestunde: 20 Uhr

Erinnerung an Erfahrungen zwischen Leben und Tod

1964, vor Weihnachten: Josef Atzmüller, 16jährig, hat einen Blinddarmdurchbruch. 2 Operationen schlagen fehl. Keine Chance, ihn zu retten. Man rechnet mit seinem Ableben. Im Folgenden ein Interview über den Tag, an dem seine Todeserklärung ausgestellt wurde:

Wie erlebten Sie diesen Tag?

Josef Atzmüller: An diesem Tag bekam ich recht viel Besuch, war aber traurig, dass meine jüngeren Geschwister nicht gekommen sind. Wahrscheinlich wollte man es ihnen nicht antun. Aber ich hätte sie gerne bei mir gehabt, weil ich mich in einer Art heiligem Zustand gefühlt habe.

Sie waren sich also im Klaren, dass es dem Ende zugeht?

Atzmüller: Völlig. Dennoch war es mir in den Tagen davor schwierig, darüber zu reden. Ich hatte Angst, meine Besucher zu verletzen. An diesem Tag waren die ersten Besucher meine Eltern. Meine Mutter ist zu mir ans Bett gekommen, hat mich ganz normal begrüßt. Mein Vater blieb am Fußende stehen. Ich habe mich gefragt: Was ist los? Da bemerkte ich, dass ich von meinen Eltern als bewusstlos erlebt wurde. Dennoch habe ich sie gesehen, weiß noch, was sie anhatten, was sie gesprochen haben.

Haben Sie wahrgenommen, wie es den Besuchern dabei gegangen ist?

Atzmüller: Ja. Man nimmt ja nicht nur mit den Sinnen wahr. Ich konnte auch die Gefühle der Menschen wahrnehmen: Wie es ihnen wirklich geht.

In der Bewusstlosigkeit hatten Sie also eine feinere Wahrnehmung als im normalen Leben?

Atzmüller: Ja. Die anderen haben das allerdings nicht mitbekommen. In dem Zusammenhang möchte ich eine spezielle Situation schildern: Als der Priester gekommen ist, um mir die „Letzte Ölung“, wie dies damals genannt worden ist, zu spenden, hatte ich eine große Sehnsucht zu beichten. Ich wollte mich irgendwie verständlich machen, es ging aber nicht. Für den Priester war ich bewusstlos. So ist er mit dem Spenden des Sakraments immer schneller geworden. In diesem Augenblick habe ich mich deswegen sogar etwas über ihn geärgert. Allerdings hängt die Wirkung des Sakraments nicht vom Priester ab.

Sie hätten sich mehr Zuwendung erwartet?

Atzmüller: Ich hatte große Sehnsucht, in diesem Sakrament der Liebe Gottes zu begegnen. Sie war zwar gegenwärtig, aber ich hatte erwartet, dass der Priester dies auch vermitteln kann — was er aber nicht konnte. Daher meine Enttäuschung...

Die meisten Menschen wissen wohl nichts davon, dass Bewusstlose noch so viel mitbekommen können...

Atzmüller: Sicher. Und dazu kommt die eigene Unsicherheit. Viele sprechen ja nicht gerne über den Tod. Das ist so unbekannt. Man weiß nicht, was da geschieht. Davor hat man Angst. Ist unsicher. Dabei ist der Tod etwas Natürliches.

Haben die Besuche Sie gestärkt?

Atzmüller: Für mich war das schön, dass sie da waren. Ich habe das auch nicht als Abschied erlebt, in dem Sinn: man sieht sich nicht mehr. Ich war einfach froh, dass sie da waren. Es sind auch Menschen gekommen, von denen ich es nicht erwartet hatte. Das hat mich sehr gefreut.

Haben Sie den Schmerz der Eltern wahrgenommen?

Atzmüller: Ja. Allerdings verdrängen die Angehörigen die Situation irgendwie. Unterhalten sich miteinander, sprechen ein Gebet. Trotzdem ist der Schmerz gegenwärtig, spürbar. Viel stärker habe ich den Schmerz in einer späteren Phase erlebt. Da waren die Eltern schon weg, weil sie nach Hause fahren mussten. Sie waren mit öffentlichen Verkehrsmitteln da und mussten also fahren, bevor ich „verstorben“ war. Da habe ich gemerkt, welche Traurigkeit, welches Leiden in meiner Familie da ist. Das hat mich sehr, sehr belastet. Ich hatte sogar den Wunsch, sie würden sich auch freuen können. Die Koexistenz von Leid und Freude verdrängen wir ja total. Entweder Leid oder Freude. Wir trennen das in unserer Denkweise strikt. Für mich wäre es eine große Erleichterung gewesen, dass Sterben wäre mir viel leichter gefallen, wenn neben dieser Traurigkeit auch so etwas wie Freude spürbar gewesen wäre.

Freude, dass es ein Weiterleben bei Gott gibt?

Atzmüller: Ja, die Gewissheit, dass dies hier nicht alles sein kann. Das alles einen Sinn haben, dass es einen Gott geben muss...

War Ihre Familie, waren Sie damals gläubig?

Atzmüller: Meine Familie war gläubig. Dennoch war es bei mir etwas anders als bei den Eltern und Geschwistern. Ich hatte als Kind eine sehr starke Jesus-Beziehung. Ich wurde schon ein paar Tage nach der Geburt notgetauft, weil man Angst hatte, ich könnte sterben. Vielleicht kam es daher. Ich habe Jesus-Geschichten genauso gerne gelesen wie Karl May-Bücher.

Sie hatten in Ihrer Situation keine Angst vor dem Sterben?

Atzmüller: Wenn man schwer krank ist — ich meine, es geht wohl allen Menschen so —, verliert man auch die Angst vor dem Tod. Das Sakrament, dass ich empfangen habe, hat darüber hinaus noch etwas Besonderes in mir bewirkt: Mein körperliches Leiden — es war sehr arg, ich bin ja mehrmals vor Schmerzen bewusstlos geworden — war mir da plötzlich völlig egal. Das Leiden des Körpers war bedeutungslos.

Und was war dann bedeutsam?

Atzmüller: Die Sehnsucht nach Versöhnung. Mit allen Menschen versöhnt zu sein, war mir unheimlich wichtig. Daher auch die Sehnsucht nach der Beichte: mit Gott, dem Schöpfer versöhnt zu sein.

Wollten Sie auch noch auf Menschen zugehen, sie um Verzeihung bitten?

Atzmüller: Als ich diese Sehnsucht durchlebte, war schon etwas Zeit nach der Krankensalbung vergangen. Meine Eltern waren schon gegangen... Ich hätte in dieser Phase am liebsten alle Menschen, die mir etwas angetan hatten, umarmt, ihnen gesagt: „Mach dir keine Gedanken, ich bin dir nicht böse!“ Schwieriger war es mit jenen, denen ich etwas angetan hatte. Da war nämlich die große Hilflosigkeit, abhängig zu sein, dass mir der andere vergibt. Das war belastend.

Haben Sie in diesen Momenten gespürt, ob der andere vergeben hatte?

Atzmüller: Das war sehr unterschiedlich. Manchmal hatte ich direkt den Eindruck, dass ich sie besuchen konnte.

Waren Sie da schon außerhalb Ihres Körpers?

Atzmüller: Dieser Prozess ist fließend, nicht abrupt. Ich hatte den Körper noch nicht ganz verlassen. Der Totenschein war noch nicht ausgestellt. Die Sehnsucht, solche Menschen aufzusuchen — zum Teil konnte ich das auch —, war groß. Man kann die Menschen nämlich irgendwie geistig aufsuchen. Und bei vielen hatte ich den Eindruck, dass sie mir vergeben hatten.

Wie ist es weitergegangen?

Atzmüller: Es kam dann der Augenblick, in dem ich den Körper verlassen durfte.

Wie fühlt sich das an?

Atzmüller: Der erste Eindruck ist chaotisch. Man hat irgendwie das Gefühl, als würde man wie durch einen Staubsauger aus dem Gefängnis Körper herausgesaugt werden. Da ist eine große Kraft am Werk, um den Körper zu verlassen. Als wäre man in einem Wirbelsturm. Dann aber hat man eine große Freiheit, eine Freiheit, die von jeder Zeit, von jedem Raum befreit. Man kann sich in Raum und Zeit frei bewegen...

Kein schmerzlicher Prozess?

Atzmüller: Ich habe das jedenfalls nicht so empfunden.

Geschieht das automatisch? Ohne eigenen Beitrag?

Atzmüller: Ich habe mich nicht dazu entschieden. Es ist einfach geschehen. Man verliert jeden Bezug zur Zeit, trennt sich von der Zeit. Es gibt zwar Abläufe, Prozesse, aber die Zeit, wie wir sie empfinden, gibt es da nicht mehr. Wir empfinden die Zeit nur deswegen so, weil wir in einem vergänglichen Körper leben. Nachher gibt es nichts Vergängliches mehr. Sekunden werden zu Jahrtausenden, Jahrtausende zu Sekunden. Sollte ich Ewigkeit definieren, würde ich sagen: Sie ist etwas, dass die ganze Zeit enthält. Ich kann mir aussuchen, in welchem Zeitpunkt ich stehe, welchen ich betrachte. Zeit hat Raum in der Ewigkeit. Ewigkeit ist nicht etwa die Zeit, die nicht aufhört. Man ist einfach von der Zeit losgelöst...

War es schlimm, für tot erklärt worden zu sein oder ist einem das dann gleichgültig?

Atzmüller: Irgendwie war ich schon angespannt, weil ich ja nicht wusste, was geschehen wird. Ich habe dann erlebt, dass es um mich völlig finster geworden ist. In dieser Finsternis habe ich plötzlich so etwas wie einen Film gesehen, eigenartigerweise in schwarz-weiß. Anfangs konnte ich nichts damit anfangen. Dann aber stellte ich fest, dass ich selbst in diesem Film mitwirke, sozusagen der Hauptdarsteller bin. Ich habe gewissermaßen Phasen meines Lebens erlebt.

Erlebt oder gesehen?

Atzmüller: Das kann man nicht trennen. Es wird praktisch die Zeit wieder hereingeholt. Der Film war in der chronologischen Abfolge meines Lebenslaufes. Allerdings kann ich mich nur an Teile erinnern, an Teile, wo ich im Leben falsche Entscheidungen getroffen hatte — und an keine Situation, in der ich hätte sagen können: Josef, dass war klasse, dass war toll! Aus meiner Überzeugung heraus ist es richtig, dass es so ist. Denn, was wirklich in uns sterben muss, ist unser Stolz. Würden wir nun mit unseren guten Taten siegen, würde es schwer sein, die Reinigung zu erfahren, die notwendig ist, um in die ewige Herrlichkeit eingehen zu können.

Der Film hat also begonnen mit einer Situation, in der Sie sich zum ersten Mal im Leben falsch entschieden haben...

Atzmüller: Die erste für mich wichtige Situation war, als ich vier Jahre alt war. Da hatte ich meine Schwester seckiert, geärgert. Und da war eine Stimme, die gesagt hat: Das war nicht in Ordnung. Das wollte ich aber absolut nicht akzeptieren. Warum war das nicht in Ordnung? Ich habe sie nicht verletzt, nicht angeschrien... Ich habe alles als Ausrede benutzt, was ich nicht getan hatte, habe mich verteidigt. Wir werden schon als Kleinkinder so erzogen, dass wir für alles eine Ausrede haben. Dieses Verhalten ist in der Gesellschaft, der Wirtschaft ganz üblich. Wir werden sterbefeindlich trainiert.

Sie haben also eine Stimme gehört — wessen Stimme?

Atzmüller: Für mich war es die Stimme Jesu. Allerdings kann ich nicht sagen, ich hätte Jesus gesehen. Es war eine innere Gewissheit. Ich habe eine ganze Weile Ausreden benutzt. Und dann kam ich in eine Situation, die für mich letztendlich sehr dramatisch geworden ist. Es gab für mich zwei Möglichkeiten: zu sagen, dass es falsch, nicht Ordnung gewesen sei oder zu sagen: wenn es nicht in Ordnung gewesen war, gehört mir eben eine Strafe. Diese zwei Möglichkeiten haben mich in ein völliges Dilemma versetzt. Ich konnte mich nicht entscheiden. In diesem Dilemma ist um mich ein riesiger Kampf entstanden.

Wie haben Sie ihn wahrgenommen?

Atzmüller: Er hat für mich Wochen, Monate gedauert. Ein geistiger Kampf, in dem ich Wesen gesehen habe: Die einen wollten mich auf die eine, die anderen auf die andere Seite ziehen. Ein Kampf, als wollte man mich in Stücke zerreißen.

Zu welcher Antwort haben Sie sich dann letztendlich durchgerungen?

Atzmüller: Gewonnen hat die Seite, die sich von mir gewünscht hatte zu sagen: Das war nicht in Ordnung — ohne Strafe auf sich zu nehmen. Und dann ist plötzlich dieser Film weitergegangen... Ich bin der Überzeugung, dass Gott keinen Menschen verurteilt. Die Barmherzigkeit Gottes ist so groß, dass Er jede Sünde vergeben kann. Egal, was es war. Ich bin der Überzeugung, dass sich jeder Mensch selbst verurteilt, weil er die Schuld nicht auf sich nehmen will und in seinem Stolz sagt: Durch Strafe kann ich wieder etwas gut machen.

Wesentlich ist also, die Schuld einzugestehen...

Atzmüller: Ich hatte dann den Eindruck, auch in den nächstfolgenden Situationen — man weiß dann schon, worauf es ankommt —, dass die Schuld von dieser Stimme — von Jesus — wie abgesaugt wird. Er wartet, dass wir es eingestehen — und das genügt. Alles andere macht Er.

Das Gespräch führte Beate Bruckner.

Gegen 20 Uhr wird Josef Atzmüller für tot erklärt. Nach diesen und anderen im TV-Interview geschilderten Erfahrungen bekommt er den Auftrag, in seinen Körper zurückzukehren. Widerwillig stimmt er zu, die erlebte Herrlichkeit zu verlassen. Acht Stunden nach der Todeserklärung entdeckt eine Schwester, dass im „Leichnam“ — Atzmüller gelingt es eine Zehe zu bewegen — noch Leben ist.

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Christliche TV-Produktionen

Dieses Gespräch wurde im Rahmen der TV-Produktionen von VKKM, Verein für katholisches Kulturmanagement, geführt. Die Grundintentionen von VKKM sind:

* ein besseres Glaubensverständnis und eine „christliche Weltdeutung“ zu vermitteln,

* Freude an gelebtem Glauben zu bezeugen und Ermutigung zu einer persönlichen Beziehung zu Jesus Christus,

* Hilfe, das Alltagsleben gut zu bewältigen (Experten sprechen zu Themen der Lebenshilfe).

Bisher wurden 14 Sendungen produziert, die bei K-TV und EWTN ausgestrahlt werden. Eine Fortsetzung der Tätigkeit ist auf Sponsoren und Spenden angewiesen.

Nähere Infos: Dr. Beate M. Bruckner,

Möllwaldplatz 5, 1040 Wien, +43 (0) 650 927 35 17

Die Bankverbindung: VKKM, Raiba NÖ-Wien, Kto: 9.307.778, BLZ 32000

(IBAN: AT 2932 0000 000 930 7778 BIC: RLNWATWW)

© 2011 Vision2000 Heft 2009/2 vision2000@aon.at