2003.

12.11.2013

Augsburger Zeitung, 11. November 2013

DANIEL WIRSCHING über Reformhoffnungen in der katholischen Kirche

Die Sensation aus Rom

Die Welt wartet sehnsüchtig auf Reformen in der katholischen Kirche. Sie wartet auf den großen Wurf des „Reform-Papstes“ Fran­ziskus. Sie giert nach einer Sensation. Und sie wird langsam ungeduldig: Wann liefert der Papst nun endlich?, fragt sich die Welt — und zweifelt kein bisschen daran, dass dieser sym­pathische Argentinier die katholi­sche Kirche grundlegend verändern wird. Eine Zeitung schrieb etwas von „Glasnost im Vatikan“, eine an­dere etwas von „himmlischer De­mokratie“. O je!

Die Welt wartet derart sehnsüch­tig auf Reformen in der katholi­schen Kirche, dass jede noch so klei­ne Geste und Neuerung des Papstes zum nächsten großen Ding aus Rom verklärt wird.

Anders lässt sich die Euphorie nicht erklären, die zuletzt — in manchen Medien — ausbrach, als es um eine Befragung von Katholiken zu gleichgeschlechtlichen Lebensge­meinschaften oder wiederverheira­teten Geschiedenen ging. Doch of­fenbar ist dem Vatikan das Echo auf seinen Fragebogen zur Vorberei­tung auf eine Sonderbischofssyno­de unheimlich geworden. Vatikan­-Sprecher Lombardi jedenfalls sagte vor der versammelten Weltpresse: Die Familien-Umfrage sei nicht an jeden einzelnen Katholiken weltweit gerichtet. Andererseits wurde be­tont: Man wolle von Gläubigen er­fahren, was sie über Ehe und Fami­lie denken.

Wie deren Ansichten erfasst und in welcher Form sie nach Rom zu­rückgeschickt werden, bleibt den Bischöfen überlassen. Sie können die Fragen an die Gremien und Verbän­de ihrer Diözesen weiterreichen, theoretisch aber auch im Namen ih­rer Schäfchen antworten. Und das alles innerhalb weniger Wochen.

Ein bürokratisch formulier­ter Fragebogen, dessen Zweck sich nicht völlig erschließt und dessen „Hand­habung“ schlecht durchdacht erscheint, sowie eine verwirrende kirchli­che Öffentlichkeitsarbeit — das also soll die Sensation aus Rom sein? Der Einzug der Basisdemokratie in die hie­rarchisch organisierte ka­tholische Welt-Kirche? Der Vorbote einer liberaleren katholi­schen Sexualmoral?

Gewiss: Was für andere Institu­tionen oder Bereiche der Gesell­schaft ein Schrittchen bedeuten wür­de, ist für Vatikan-Verhältnisse ein bedeutender Schritt. Nur eben keine Revolution. Die Welt macht es sich zu leicht mit diesem tatsächlich au­ßergewöhnlichen Papst, wenn sie in ihm lediglich den „Reform­-Papst“ sieht, seine teils wider­sprüchlichen Äußerungen je­doch nicht wahrnehmen will. Die Welt verkennt die Macht dieses Papstes, sie überfrachtet ihn mit Erwartun­gen. Und sie übersieht da­bei, dass Franziskus selbst die größ­te Reform verkörpert. Weil er lebt, was er predigt: Nächstenlie­be.(*) So hat er be­reits viel be­wegt. Er hat mit seinen Gesten und Worten das Image der Kirche ver­bessert.

In den Augen der breiten Öffent­lichkeit wandelte sie sich von einer kalt- in eine warm- und barmherzige Institution. Sogar die kritischen Deutschen waren gerade dabei, sich mit der Kirche wieder anzufreun­den. Man sprach vom „Franziskus­-Effekt“. Dann kam der „Tebartz­-Effekt“ und mit ihm die alten Dis­kussionen über eine selbstbezoge­ne, protzende Kirche.

Der im März gewählte Papst Franziskus ist vielleicht das Beste, was der katholischen Kirche des Jah­res 2013 passieren konnte, der um­strittene Limburger Bischof Franz­ Peter Tebartz-van Elst allerdings nicht das Schlimmste. Das wäre, wenn die katholische Kirche der Welt egal wäre. Solange über sie diskutiert wird, ist sie lebendig.

Die katholische Kirche diskutiert über ihr Familienbild — wie die Evangelische Kirche in Deutschland in diesen Tagen auf ihrer Synode. Ehe und Familie sind jene (Zu­kunfts-)Themen, bei denen die ka­tholische Kirche in der Vergangen­heit Vertrauen verspielt hat. Jetzt hat sie die Chance, neues Vertrauen zu gewinnen.

(*) Anm. des Abschreibers: Demnach mangelte es den vorhergehenden Päpsten an praktizierter Nächstenliebe. Sie verstießen also gegen das wichtigste Gebot. Die Gelbmarkierung wurde ebenfalls von mir vorgenommen. Der Text beweist, dass sogar „die Welt“ bemerkt, dass Franziskus widersprüchlich redet.

Mk 12,28-31

28 Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?

29 Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.

30 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.

31 Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.