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29.12.2015

Darstellung Jesu im Tempel

nach Maria Valtorta

Ich sehe vor einem sehr bescheidenen Haus ein Paar aufbrechen.

Auf einer Außentreppe steigt eine ganz junge Frau mit ihrem Kind auf den Armen herab, dass in ein weißes Tuch gewickelt ist.

Ich erkenne in ihr unsere Mutter. Sie ist immer dieselbe, bleich und blond, schlank und liebenswürdig in all ihrem Tun. Sie ist weiß gekleidet und trägt einen hellblauen Mantel. Auf dem Haupt hat sie einen weißen Schleier. Mit großer Sorgfalt trägt sie ihr Kind. Am Fuß der Treppe erwartet sie Josef mit einem grauen Esel. Josef ist ganz hellbraun gekleidet, Tunika und Mantel sind von derselben Farbe. Er schaut auf Maria und lächelt ihr zu. Als Maria zum Eselein kommt, legt sich Josef die Zügel desselben auf den linken Arm und hält für einen Augenblick das ruhig schlummernde Kind, um es Maria zu ermöglichen, sich bequem in den Sattel des Esels zu setzen. Dann gibt er ihr Jesus zurück, und sie machen sich auf den Weg.

Josef geht zu Fuß an der Seite Marias; er hält die Zügel des Tieres in der Hand und achtet darauf, dass es den rechten Weg nimmt und nicht strauchelt. Maria hält Jesus auf ihrem Schoß und aus Furcht, die Kälte könne ihm schaden, legt sie noch ein Stück ihres Mantels über ihn. Sie sprechen sehr wenig, die beiden Verlobten, aber lächeln sich oft zu.

Die Straße, die sich nicht gerade in einem musterhaften Zustand befindet, zieht sich durch eine Gegend, die in dieser Winterszeit öde aussieht. Bisweilen begegnet den beiden ein Reisender oder ein anderer holt sie ein; aber es sind nur wenige unterwegs.

Dann erscheinen Häuser und hierauf die Mauern einer Stadt. Die beiden Verlobten gehen durch ein Tor in die Stadt, und es beginnt die Strecke auf dem sehr holprigen städtischen Pflaster! Sie kommen nun viel schwerer vorwärts, denn es herrscht ein großer Verkehr, der jeden Augenblick das Eselein anhalten läßt, oder aber das Tier stolpert wegen der Löcher im Pflaster und verursacht Maria und dem Kind Unbehagen.

Die enge Straße ist uneben und steigt etwas an zwischen hohen Häusern mit schmalen, niedrigen Türen und kleinen Fenstern zur Straße hin. In der Höhe zeigt sich der Himmel in kleinen, hellblauen Ausschnitten zwischen den Häusern und Terrassen. Auf der Straße herrscht viel Geschrei; es begegnen ihnen viele Menschen zu Fuß oder beritten, auch Eselstreiber mit beladenen Tieren. Andere führen platzraubende Kamelkarawanen an. Einmal begegnet ihnen mit viel Hufgeklapper und Waffenklirren eine Abteilung römischer Legionäre, die jenseits eines Bogens in einer steinigen und engen Gasse verschwinden.

Josef biegt nach links ab und nimmt einen breiteren und schöneren Weg. Im Hintergrund sehe ich eine mit Zinnen versehene Mauer, die ich schon kenne.

Maria steigt vom Esel, nahe der Pforte, wo sich eine Art Stallung für Lasttiere befindet. Ich sage Stallung; aber es ist eine Art Schuppen, besser ein Wetterdach, wo Stroh gestreut ist und Pflöcke mit Ringen angebracht sind, an denen man die Vierfüßler anbinden kann. Josef gibt einem jungen Mann einige Münzen für etwas Heu, holt in einem Wasserschlauch aus einem einfachen Ziehbrunnen in einem Winkel Wasser und tränkt den Esel.

Dann begibt er sich wieder zu Maria, und beide betreten den Tempelbereich.

Sie wenden sich einem mit Säulenhallen umgebenen Hof zu, wo die Verkäufer sind, die Jesus später energisch geißeln wird; Verkäufer von Turteltauben und Lämmern sowie die Geldwechsler.

Josef kauft zwei weiße Täubchen. Geld wechselt er nicht. Offenbar hat er schon, was er braucht.

Josef und Maria begeben sich nun zu einer Seitentür, zu der acht Stufen führen – wie mir scheint, ist dies vor allen Türen der Fall – so dass sich der Kubus des Tempels etwas über dem normalen Boden erhebt. Dieser Tür folgt eine große Vorhalle, wie bei den Eingängen unserer großstädtischen Häuser; hier ist sie aber viel geräumiger und voller Schmuck. In ihr befinden sich rechts und links zwei Altäre oder zwei rechteckige Konstruktionen, deren Zweck ich vorläufig noch nicht ein sehe. Es sind niedrige Wannen, denn der äußere Rand erhebt sich einige Zentimeter über die innere Fläche. Ein Priester eilt herbei; ich weiß nicht, ob Josef ihn gerufen hat. Maria überreicht ihm die beiden Täubchen als Reinigungsopfer. Und ich wende, da ich das Los der Täubchen kenne, den Blick anderswohin. Ich betrachte die Ornamente des schweren Portals, der Decke, des Vorhofs. Nun scheint mir, dass der Priester Maria mit Wasser besprengt. Es muss wohl Wasser sein, denn ich sehe keine Flecken auf dem Gewand Marias.

Sie hat dem Priester zusammen mit den Täubchen eine Anzahl Geldstücke gegeben (ich hatte vergessen, es zu sagen) und tritt nun mit Josef und in Begleitung des Priesters in das eigentliche Tempelgebäude ein.

Ich schaue nach allen Seiten. Sie befinden sich in einem reich geschmückten Raum. Skulpturen, wie Engelsköpfe und Palmen und Verzierungen, laufen den Säulen, Wänden und der Decke entlang.

Licht tritt ein durch merkwürdig lange, schmale Fenster, natürlich ohne Glas, die schräg die Wände durchbrechen. Ich nehme an, dass sie so gebaut worden sind, um das Eindringen des Regens zu verhindern.

Maria geht vor bis zu einer bestimmten Stelle. Dann bleibt sie stehen.

Einige Meter vor ihr sind weitere Stufen, und über diesen erhebt sich eine Art Altar, und jenseits davon schließt sich ein weiteres Gebäude an. Ich glaubte, schon im Tempel zu sein; in Wirklichkeit aber befinde ich mich in einem Bau, der den wahren und eigentlichen Tempel, dass Allerheiligste umgibt, in das, wie mir scheint, niemand außer dem Priester eintreten darf. Was ich für den Tempel hielt, ist nur eine geschlossene Vorhalle, die von drei Seiten den Tempel umschließt, in dem sich der Tabernakel befindet. Ich weiß nicht, ob ich mich gut ausgedrückt habe, da ich weder Architekt noch Ingenieur bin.

Maria opfert das Kind, dass nun aufgewacht ist und die unschuldigen Äuglein mit dem erstaunten Blick eines nur wenige Tage alten Kindes zum Priester hinwendet. Dieser nimmt es und hebt es mit ausgestreckten und zum Tempel hingewandten Armen empor, während er sich an den altarähnlichen Aufbau lehnt.

Der Ritus ist beendet. Das Kind wird der Mutter zurückgegeben, und der Priester geht fort. Neugieriges Volk steht da umher. Zwischen ihm macht sich ein gebeugter, hinkender Greis Platz, der sich auf seinen Stab stützt. Er muss sehr alt sein; ich schätze ihn über achtzig. Er nähert sich Maria und bittet sie, ihm für einen Augenblick den Kleinen zu geben. Lächelnd erfüllt Maria seinen Wunsch.

Simeon, von dem ich immer glaubte, dass er zur Klasse der Priester gehöre, der aber nur ein einfacher Gläubiger ist, wenigstens dem Gewand nach zu urteilen, nimmt ihn entgegen und küßt ihn. Jesus lächelt ihm zu, mit dem unsicheren Gesichtsausdruck, der den Säuglingen eigen ist. Es scheint, als beobachte er ihn neugierig; denn der Alte weint und lacht zu gleicher Zeit, und die in die Falten fließenden Tränen bilden ein Glitzerwerk und fallen dann auf den langen weißen Bart, nach dem Jesus seine Händchen ausstreckt. Jesus ist noch das Kindlein, dass von allem angezogen wird, was sich bewegt, und alles anfassen möchte, um es besser anschauen zu können. Josef und Maria lächeln, ebenso wie die Anwesenden, die die Schönheit des Kleinen loben.

Ich höre die Worte des heiligen Alten und bemerke den erstaunten Ausdruck Josefs [Lk 2,29–32] und die Rührung Marias und der kleinen Menge, die teils erstaunt und bewegt ist, teils bei den Worten des Greises in ein Gelächter ausbricht. Es sind auch bärtige Männer da und aufgeblasene Mitglieder des Synedriums, die den Kopf schütteln und mit ironischem Mitleid auf Simeon schauen. Sie glauben wohl, er habe infolge des Alters den Verstand verloren.

Das Lächeln Marias verschwindet, und eine starke Blässe tritt in ihr Antlitz, als Simeon ihr das Leiden ankündigt [Lk 2,34–35]. Obwohl sie davon weiß, durchbohren die Worte ihre Seele. Maria nähert sich Josef, um Trost zu finden und drückt in ihrem Schmerz das Kind an die Brust. Wie eine dürstende Seele trinkt sie die Worte Hanna des Penuëls in sich hinein, die sich als Frau ihres Schmerzes erbarmt und ihr verheißt, dass der Ewige ihr die Stunde der Leiden mit übernatürlicher Kraft lindern werde. »Frau! Dem, der seinem Volk den Erlöser geschenkt hat, wird die Macht nicht fehlen, seinen Engel auszusenden, damit er dir in deinem Leid beistehe. Die Hilfe des Herrn hat den großen Frauen Israels nie gefehlt, und du bist viel größer als Judit und Rahel [Jdt 13; Ri 4,17–23]. Unser Gott wird dir ein Herz aus lauterem Gold geben, damit es dem Meer der Schmerzen gewachsen sei; denn du bist die größte Frau der Schöpfung, die Mutter. Und du, Kindlein, gedenke meiner in der Stunde deiner Sendung!

« Hier endet die Vision.

Lehren, die aus der vorhergehenden Vision zu ziehen sind

Jesus sagt:

»Zwei Lehren soll man aus deinem Bericht ziehen.

Die erste: nicht dem Priester, der mit seinen Riten beschäftigt und mit seinem Geist abwesend ist, sondern einem einfachen Gläubigen enthüllt sich die Wahrheit.

Der Priester, der immer mit dem Göttlichen in Beziehung steht und das pflegt, was Gottes ist; der Priester, der all dem zugewandt ist, was über dem Fleisch steht, hätte sofort ahnen müssen, wer das Kind war, dass an jenem Morgen im Tempel dargebracht wurde. Aber um das zu erkennen, musste man mit einem lebendigen Geist erfüllt sein. Nur ein Gewand tragen, dass den Geist umhüllt, der, wenn er nicht tot ist, doch eingeschlafen ist, genügt nicht. Der Geist Gottes kann, wenn er will, donnern und blitzen; er kann Erdbeben auslösen und so auch den abgestumpftesten Geist beeindrucken. Er tut es aber im allgemeinen nicht. Er ist ein Geist der Ordnung, und Ordnung herrscht in jedem seiner Geschöpfe und in ihrem Handeln. Daher ergießt er sich und spricht er dort, wo er den guten Willen sieht, um seinen Eingebungen zu entsprechen. Ich spreche nicht von einem hinreichenden Verdienst, seine Einwirkung erfahren zu dürfen; denn dann würde er sich gar selten zeigen, und auch du würdest seine Erleuchtung nicht erfahren.

Wie kann man diesen guten Willen entfalten? Mit einem Leben, dass soweit wie möglich nur für Gott ist: im Glauben, im Gehorsam, in der Reinheit, in der Liebe, in der Hochherzigkeit und im Gebet. Nicht in äußerlichen Handlungen, sage ich, sondern im Gebet.

Zwischen äußerlichen Handlungen und Gebet ist ein größerer Unterschied als zwischen Tag und Nacht. Gebet ist Vereinigung des Geistes mit Gott. Aus dieser Vereinigung kommt man gestärkt und entschlossener hervor; entschlossener, immer mehr Gottes zu sein.

Das andere ist einfach eine Gewohnheit, die verschiedene Ursprünge haben kann, die aber immer egoistisch sind. Ihr bleibt, was ihr seid, ja noch mehr: ihr beschwert euch mit einer Schuld der Lügenhaftigkeit oder der Trägheit.

Simeon hatte diesen guten Willen. Das Leben hatte ihm Leiden und Prüfungen nicht erspart. Aber er hat dabei nicht seinen guten Willen eingebüßt. Die Jahre mit ihren Wechselfällen haben seinen Glauben an den Herrn und an seine Verheißungen nicht angegriffen und erschüttert. Sie haben seinen guten Willen, immer mehr Gottes würdig zu sein, nicht ermüdet. Und Gott hat – bevor sich die Augen seines treuen Dieners dem Licht der Sonne verschlossen, in der Erwartung, sich nach meiner Himmelfahrt vor der leuchtendroten Sonne Gottes wieder zu öffnen – Gott hat ihm den Strahl seines Geistes gesandt, der ihn zum Tempel führte, damit er das Licht der Welt sehe.

„Geführt vom Heiligen Geist“, sagt das Evangelium [Lk 2,27]. Ach, wenn die Menschen wüßten, welch ein vollkommener Freund der Heilige Geist ist! Welch ein Führer, welch ein Lehrmeister! Wenn sie ihn doch lieben und anrufen würden, diese Liebe der allerheiligsten Dreifaltigkeit, dieses Licht des Lichtes, dieses Feuer vom Feuer, diesen Geist, diese Weisheit! Wieviel mehr wüßten sie von dem, was zu wissen nottut!

Schau, Maria (Valtorta), schaut, Kinder! Simeon hat ein Leben lang gewartet, um das Licht und die Verheißung Gottes erfüllt zu sehen.

Er hat sich nie gesagt: „Es ist unnütz, immer zu hoffen und zu beten.“ Er hat ausgeharrt. Er sah das, was der Priester nicht sah, und ebensowenig die Synedristen, die voll Hochmut und Finsternis waren: er sah den Sohn Gottes, den Messias, den Erlöser in jener kindlichen Gestalt, die in ihm Wärme und Freude erzeugte. Er hat das Lächeln Gottes auf meinen Kindeslippen gesehen als Belohnung für sein ehrenhaftes und frommes Leben.

Die zweite Lehre liegt in den Worten Hannas. Auch sie, die Prophetin, sieht in mir, dem Neugeborenen, den Messias. Und das natürlich dank ihrer prophetischen Gabe. Aber höre, hört alle, was sie von Glauben und Liebe angetrieben, zu meiner Mutter sagt! Schöpft daraus Licht für euren Geist, der in dieser Zeit der Finsternis und an diesem Fest des Lichtes erzittert!

„Dem, der uns einen Erlöser gegeben hat, wird die Kraft nicht fehlen, seinen Engel auszusenden zu deiner Stärkung in deinem, in ‚eurem‘ Leiden.“ Bedenkt, dass Gott sich selbst hingegeben hat, um das Werk Satans in den Seelen zunichte zu machen. Wird er denn nicht fähig sein, die Dämonen zu besiegen, die euch jetzt quälen?

Kann er nicht eure Tränen trocknen und diese Dämonen verjagen und wieder den Frieden seines Gesalbten senden? Warum bittet ihr nicht gläubig darum? Mit einem wahren, standhaften Glauben, vor dem die Strenge Gottes, der durch eure zahlreichen Verfehlungen erzürnt ist, sich umwandelt in ein Lächeln und in ein Verzeihen, dass Hilfe bedeutet. Möge sich sein Segen wie ein Regenbogen über dieser Erde wölben, die in einer selbstgewollten Flut von Blut versinkt!

Bedenkt: nachdem der Vater die Menschen mit der Sintflut bestraft hatte, sagte er zu sich selbst und zu seinem Patriarchen: „Ich werde die Erde nicht mehr um der Menschen willen verfluchen; denn die Triebe, Sinne und Gedanken des menschlichen Herzens sind zum Bösen geneigt von Jugend auf; daher werde ich nicht alles Lebende schlagen, wie ich es getan habe“ [Gen 8,21]. Und er ist seinem Wort treu geblieben. Er hat die Flut nicht mehr geschickt. Aber ihr, wie oft habt ihr euch gesagt und Gott gesagt: „Wenn wir dieses Mal gerettet werden, wenn du uns rettest, werden wir nie mehr Kriege führen, nie mehr“, und doch habt ihr immer Schrecklicheres getan, und wie oft, ihr falschen Menschen, ohne Ehrfurcht vor dem Herrn und vor eurem eigenen Wort! Und doch würde euch Gott noch einmal helfen, wenn die große Masse der Gläubigen ihn mit Glauben und mächtiger Liebe anflehen würde.

Ihr alle, die ihr zu wenig zahlreich seid, um die vielen aufzuwiegen, die den Zorn Gottes lebendig erhalten, bleibt ihm treu, trotz der fürchterlichen Zeit, die euch bevorsteht und jeden Augenblick näherkommt, legt eure Mühen und Sorgen Gott zu Füßen! Er wird euch seinen Engel senden, wie er den Erlöser der Welt gesandt hat.

Fürchtet euch nicht! Steht vereint unter dem Kreuz! Es hat immer die Nachstellungen jenes Teufels besiegt, der mit der Wildheit der Menschen und den Trübsalen des Lebens kommt, um euch zur Verzweiflung zu verleiten, d. h. zur Trennung von Gott.«