12.09.2016

AGLAIA

nach Maria Valtorta

Jesus und die Seinen gehen zur Vorderseite des Hauses. Am Portal steht eine junge, schamlos gekleidete Frau. Sie

ist wunderschön. »Herr, willst du ins Haus kommen? Tritt ein!«

Jesus blickt sie streng an, wie ein Richter, und sagt nichts. Dafür spricht Judas, der alle anderen auf seiner Seite hat: »Verschwinde, du Schamlose! Vergifte uns nicht mit deinem Atem, du räudige Hündin.«

Die Frau errötet und senkt das Haupt. Sie schickt sich an, beschämt kehrtzumachen, während Vorübergehende und Buben sie verspotten.

»Wer ist so rein, dass er sagen kann: „Ich habe nie nach dem mir von Eva angebotenen Apfel verlangt“?«, sagt Jesus streng und fügt hinzu: »Zeigt mir ihn, und ich werde ihn als Heiligen begrüßen! Ist niemand unter euch? . . . Wenn ihr sie nicht aus Verachtung, sondern aus Schwäche meidet, dann zieht euch zurück. Ich verpflichte die Schwachen nicht zu einem ungleichen Kampf. Frau, ich möchte eintreten! Dieses Haus gehörte meinem Verwandten; es ist mir teuer.«

»Tritt ein, Herr, wenn du keinen Abscheu vor mir hast.«

»Laß die Türe offen, damit die Leute sehen können und keinen Grund zum Tadel haben.«

Jesus geht ernst und feierlich hinein. Die Frau weist ihm schweigend den Weg. Doch die höhnischen Reden der Menge treffen sie tief. Sie flieht in den Hintergrund des Gartens, während Jesus bis zur Treppe geht und durch die halbgeöffnete Türe blickt, ohne hineinzugehen. Dann begibt er sich an die Stelle, wo sich das Grabmal befand, das nun durch ein heidnisches Tempelchen ersetzt worden ist.

»Die Gebeine der Gerechten, auch wenn sie vertrocknet und zerstreut sind, strömen reinigenden Balsam und streuen Samen ewigen Lebens aus. Friede den Toten, die gut gelebt haben! Friede den Reinen, die im Herrn entschlafen sind. Friede allen, die litten, doch nichts vom Laster wissen wollten! Friede den wahren Großen der Erde und des Himmels! Friede!«

Die Frau hat Jesus unter dem Schutz einer Hecke erreicht.

»Herr!«

»Frau!«

»Dein Name, Herr?«

»Jesus.«

»Habe ich nie gehört. Ich bin Römerin, Schauspielerin und Tänzerin. Ich bin nur in leichtfertigen Dingen erfahren. Was bedeutet dein Name? Ich heiße Aglaia . . . das bedeutet: Laster!«

»Mein Name bedeutet: Erlöser!«

»Wie erlösest du und wen?«

»Den, der mit gutem Willen der Erlösung zustrebt. Ich erlöse, indem ich lehre, rein zu sein, das Leiden der Ehre vorzuziehen, das Gute um jeden Preis zu tun . . . « Jesus spricht ohne Bitterkeit, ohne sich nach der Frau umzudrehen.

»Ich bin verloren!«

»Ich bin derjenige, der die Verlorenen sucht . . . «

»Ich bin tot.«

»Ich bin der, der das Leben gibt.«

»Ich bin schmutzig und verlogen.«

»Ich bin die Reinheit und die Wahrheit.«

»Du bist auch die Güte, du, der du mich nicht ansiehst, mich nicht anrührst und mich nicht in den Staub trittst. Habe Erbarmen mit mir!«

»Zuerst sollst du Mitleid mit dir, mit deiner Seele haben.«

»Was ist die Seele?«

»Die Seele ist das, was den Menschen Gott ähnlich macht und nicht einem Tier. Das Laster, die Sünde töten sie, und wenn sie tot ist, wird der Mensch zum abstoßenden Tier.«

»Werde ich dich wiedersehen können?«

»Wer mich sucht, wird mich finden.«

»Wo lebst du?«

»Dort, wo die Herzen einen Arzt und Arznei brauchen, um wieder ehrbar zu werden.«

»Dann werde ich dich nicht mehr sehen! Ich bin dort, wo man den Arzt, die Ehrbarkeit und die Arznei nicht will.«

»Nichts hindert dich hin zu kommen, wo ich bin. Meinen Namen wird man auf den Straßen bis zu dir hin hören können. Leb wohl!«

»Leb wohl, Herr! Laß mich dich „Jesus“ nennen. Oh, nicht um mich anzubiedern, sondern damit ein wenig Heil in mich eindringe. Ich bin Aglaia, gedenke meiner!«

»Ja, lebe wohl!«

Die Frau bleibt im Hintergrund. Jesus geht ernst von dannen. Er liest Erstaunen in den Gesichtern der Jünger und Verachtung bei den Bewohnern von Hebron. Ein Diener schließt das Tor.

Jesus geht die Straße entlang. Er klopft an der Synagoge. Ein mißtrauischer Alter schaut heraus. Er läßt Jesus nicht einmal Zeit, zu sprechen. »Der Zutritt zur Synagoge, dem heiligen Ort, ist allen untersagt, die mit Dirnen verkehren. Geh weg!«

Jesus wendet sich wortlos um und setzt seinen Weg auf der Straße fort. Seine Leute folgen ihm. Erst als sie außerhalb von Hebron sind, reden sie.

»Du hast es so gewollt, Meister«, sagt Judas. »Es war eine Dirne!«

»Judas, wahrlich, ich sage dir: sie wird dich übertreffen. Und du, der du mich tadelst, was sagst du zu den Leuten von Judäa? An den heiligsten Orten von Judäa wurden wir verspottet und verjagt. Aber so ist es. Es wird die Zeit kommen, da die Samariter und die Heiden den wahren Gott anbeten, und das Volk Gottes wird sich mit Blut und einem Verbrechen besudeln . . . einem Verbrechen, im Vergleich zu dem das Laster der Dirnen, die ihr Fleisch und ihre Seele verkaufen, wenig Bedeutung hat. Ich habe bei den Gebeinen meiner Verwandten und des gerechten Samuel nicht beten können. Das ist nun so. Ruht im Frieden, heilige Gebeine, frohlockt ihr Seelen, die ihr in ihnen wohntet. Die erste Auferstehung ist nahe. Dann wird der Tag kommen, an dem ihr den Engeln als die Diener des Herrn gezeigt werdet.«

Jesus schweigt, und alles ist zu Ende.