12.03.2016

AM LETZTEN GROSSEN TAG DES LAUBHÜTTENFESTES

nach Maria Valtorta

Der Tempel ist nun zum Bersten voll von Menschen. Doch fehlen Frauen und Kinder. Das anhaltend stürmische Wetter mit den vorzeitigen, zwar kurzen, aber heftigen Regenfällen, muss die Frauen mit ihren Kindern zur Abreise bewogen haben. Aber die Männer aus allen Gegenden Palästinas und die Proselyten der Diaspora drängen sich im wahrsten Sinne des Wortes im Tempel, um noch ihre letzten Gebete zu verrichten, die letzten Opfer darzubringen und die letzten Predigten der Schriftgelehrten anzuhören.

Die galiläischen Anhänger Jesu sind schon alle da, die wichtigsten von ihnen in der vordersten Reihe. In ihrer Mitte und sich ihrer Eigenschaft als Verwandte wohl bewusst, stehen Joseph des Alphäus und sein Bruder Simon. Eine andere geschlossene und wartende Gruppe ist die der zweiundsiebzig Jünger. Ich meine die Jünger, die Jesus auserwählt hat, die Frohe Botschaft zu verkünden; Zahl und Gesichter haben sich geändert, da einige der älteren nicht mehr dabei sind seit ihrem Abfall nach der Predigt über das Brot des Himmels, während andere neue, wie Nikolaus von Antiochia, dazugekommen sind. Eine dritte Gruppe, ebenfalls sehr geschlossen und zahlreich, ist die der Judäer, unter denen ich die Synagogenvorsteher von Emmaus, Hebron und Kerioth sehe. Aus Jutta ist der Mann der Sara und aus Bethsur sind die Verwandten der Elisa zugegen.

Sie stehen alle beim Schönen Tor, und ihre Absicht ist klar: Sie wollen sich um den Meister scharen, sobald er erscheint. Tatsächlich kann Jesus keinen Schritt innerhalb der Mauern tun, ohne dass diese drei Gruppen ihn umgeben, als wollten sie ihn von den Böswilligen oder auch den nur Neugierigen absondern.

Jesus begibt sich in den Vorhof der Israeliten zum Gebet, und die anderen folgen ihm geschlossen, soweit dies das Gedränge des Volkes gestattet, taub gegenüber den Protesten derer, die beiseite geschoben werden und den vielen Leuten Platz machen müssen, die Jesus umgeben. Er selbst geht zwischen seinen Vettern. Weder der Blick noch das Verhalten des Joseph des Alphäus sind sanft und demütig wie bei Jesus. Vielmehr mustert er mit vielsagender Miene einige der Pharisäer...

Sie beten und kehren dann in den Vorhof der Heiden zurück. Jesus setzt sich demütig auf den Boden mit dem Rücken zur Mauer der Säulenhalle, vor sich einen immer dichter werdenden Halbkreis aus vielen Reihen von Leuten; sie setzen sich hinter den Reihen, die Jesus am nächsten sind, oder lehnen sich im Stehen irgendwo an. Alle Blicke sind auf ein einziges Antlitz gerichtet. Die Neugierigen, die Unwissenden, die von weither kommen, und die Übelgesinnten befinden sich hinter dieser Schranke von Getreuen und versuchen, etwas zu sehen, indem sie die Hälse recken und sich auf die Fußspitzen stellen.

Jesus hört inzwischen diesen und jenen an, der ihn um Rat fragt oder ihm etwas berichtet. So reden die Verwandten der Elisa von ihr und fragen, ob sie wohl kommen und dem Meister dienen darf. Er aber antwortet: «Ich bleibe nicht hier. Später kann sie kommen.» Auch der Verwandte der Maria des Simon, der Mutter des Judas von Kerioth, spricht und sagt, dass er zurückbleiben würde, um die Besitzungen zu verwalten, während Maria fast immer bei der Mutter der Johanna sei. Judas reißt erstaunt die Augen auf, sagt aber nichts. Der Gemahl der Sara erzählt, dass ihm bald noch ein Sohn geboren wird, und fragt, wie er ihn nennen soll. Jesus antwortet: «Johannes, wenn er männlichen Geschlechtes,

Anna, wenn es ein Mädchen ist.» Und der alte Synagogenvorsteher von Emmaus flüstert ihm eine Gewissensfrage zu, die Jesus leise beantwortet.

Und so geht es weiter.

Indessen kommen immer mehr Leute. Jesus erhebt das Haupt und betrachtet die Menge. Da die Säulenhalle einige Stufen höher liegt, kann er,

obwohl er auf dem Boden sitzt, einen guten Teil dieser Seite des Vorhofes überblicken und sieht Gesichter über Gesichter.

Nun steht er auf und sagt laut mit seiner volltönenden, starken Stimme: «Wer Durst hat, der komme zu mir und trinke! Den Herzen jener, die an mich glauben, werden Ströme lebendigen Wassers entspringen.»

Seine Stimme erfüllt den weiten Vorhof und die wunderschönen Säulenhallen. gewiss erreicht sie auch die Leute jenseits des Hofes, verbreitet sich noch weiter und übertönt jede andere Stimme wie ein harmonischer Donner voller Versprechungen. Er spricht und schweigt dann einen Augenblick, als wolle er mit diesen Worten das Thema seiner Predigt ankündigen und danach den nicht Interessierten Zeit lassen, sich zu entfernen

und die anderen später nicht mehr zu stören. Die Schriftgelehrten und Gesetzeslehrer schweigen, d.h. sie dämpfen ihre Stimmen zu einem sicher nicht wohlwollenden Getuschel. Gamaliel sehe ich nicht.

Jesus tritt vor, durch den Halbkreis, der sich bei seinem Kommen öffnet und sich dann hinter ihm wieder schließt und so einen vollen Kreis bildet. Langsam und majestätisch schreitet er dahin und scheint fast zu schweben über dem bunten Marmor des Fußbodens. Sein langer Mantel bildet eine Art Schleppe hinter ihm. Er begibt sich an eine Ecke der Säulenhalle, auf die in den Vorhof hinausragenden Stufe, und bleibt dort stehen. So überblickt er zwei Seiten der ersten Umfassungsmauer. Schließlich erhebt er seinen rechten Arm, wie immer, wenn er zu sprechen beginnt, während er mit der Linken den Mantel auf der Brust zusammenhält.

Er wiederholt die anfangs gesprochenen Worte: «Wer Durst hat, der komme zu mir und trinke! Den Herzen jener, die an mich glauben, werden Ströme lebendigen Wassers entspringen! Der die Theophanie des Herrn schaute, der große Ezechiel, der Priester und Prophet, sah zunächst prophetisch die unreinen Handlungen im entweihten Haus des Herrn. Er sah auch prophetisch, dass nur die mit dem Tau Gekennzeichneten im wahren Jerusalem leben würden, während die anderen eine Katastrophe nach der anderen, eine Verurteilung nach der anderen, eine Strafe nach der anderen erleben müßten... Und die Zeit ist nahe, o ihr, die ihr mir zuhört, sie ist nahe, viel näher als ihr denkt. Daher ermahne ich euch als Meister und Erlöser, nicht länger zu zögern, euch mit dem rettenden Zeichen zu versehen, nicht länger zu zögern, in euch das Licht und die Weisheit aufleuchten zu lassen, Buße zu tun und über euch selbst und die anderen zu weinen, um gerettet zu werden. Nachdem Ezechiel all dies und anderes mehr gesehen hat, spricht er von einer erschreckenden Vision, jener der verdorrten Gebeine.

Der Tag wird kommen, da über einer toten Welt, unter einem erloschenen Firmament, auf die Trompetenstöße der Engel hin Totengebeine über Totengebeine erscheinen werden. Wie ein Leib, der sich öffnet, um zu gebären, so wird die Erde aus ihren Eingeweiden alle Gebeine der Menschen ausspeien, die gestorben sind und in ihr begraben liegen, von Adam bis zum letzten Menschen. Das wird die Auferstehung der Toten sein zum großen, letzten Gericht. Danach wird sich die Welt wie ein Sodomsapfel entleeren und zu Nichts werden, und das Firmament mit seinen Sternen wird erlöschen. Alles wird ein Ende haben, außer zwei ewigen Dingen, die unendlich fern voneinander liegen, gleich zwei unendlich tiefen Abgründen, und die einen vollkommenen Gegensatz zueinander bilden in ihrem Wesen, in ihrer Beschaffenheit und in der Art und Weise, in der sich für alle Ewigkeit die Macht Gottes äußern wird: Das Paradies – Licht, Freude, Friede und Liebe; die Hölle – Finsternis, Schmerz, Schrecken und Haß.

Aber glaubt ihr, weil die Welt noch nicht vergangen ist und die Trompeten der Engel noch nicht zusammenrufen, sei die verwüstete Erde nicht bedeckt mit leblosen, gänzlich verdorrten, reglosen, verstreuten und toten, toten, toten Gebeinen? Wahrlich, ich sage euch, es ist so. Unter denen, die noch zu den Lebenden zählen, weil sie atmen, sind Unzählige, die Leichnamen gleichen, verdorrten Gebeinen, wie Ezechiel sie geschaut hat. Von wem spreche ich? Von denen, die das Leben des Geistes nicht in sich haben.

Solche gibt es in Israel ebenso wie auf der ganzen Welt. dass es unter den Heiden und Götzendienern, die darauf warten, vom wahren Leben zum Leben geführt zu werden, nur Tote gibt, ist natürlich und schmerzt nur die, die die wahre Weisheit besitzen; denn diese läßt sie begreifen, dass der Ewige die Geschöpfe für sich und nicht für den Götzendienst geschaffen hat und betrübt ist, so viele Tote sehen zu müssen. Aber wenn der Allerhöchste schon diesen Schmerz hat, und er ist groß, wie sehr muss er dann deretwegen leiden, die seinem Volke angehören und doch bleiches Gebein ohne Leben und ohne Geist sind?

Die Auserwählten, die Bevorzugten, die Beschützten, die Genährten, die von ihm selbst oder von seinen Propheten Unterwiesenen, warum sind sie aus eigener Schuld verdorrtes Gebein geworden, da doch gerade für sie immer das Wasser des Lebens vom Himmel floß und sie mit Leben und Wahrheit tränkte? Warum sind sie vertrocknet, obwohl eingepflanzt in das Land des Herrn? Warum ist ihr Geist tot, obwohl der Ewige ihnen einen so großen Schatz an Weisheit zur Verfügung gestellt hat, auf dass sie daraus schöpfen und leben? Durch welches Wunder können sie noch zum Leben gebracht werden, wenn sie den von Gott gegebenen Quellen, Weiden und Lichtern den Rücken gekehrt haben und in der Finsternis dahintaumeln, an unreinen Quellen trinken und sich mit unheiligen Speisen nähren?

Werden sie also nie mehr zum Leben zurückkehren? Doch. Im Namen des Allerhöchsten schwöre ich es. Viele werden auferstehen. Gott hält das Wunder schon bereit, ja, es ist schon am Wirken, es ist in einigen schon geschehen und dürre Gebeine sind zu neuem Leben erstanden; denn der Allerhöchste, dem nichts unmöglich ist, hat sein Versprechen gehalten und hält es auch weiterhin und vervollständigt es immer mehr. Von der Höhe des Himmels ruft er diesen das Leben erwartenden Gebeinen zu: „Seht, ich werde euch den Geist eingießen, und ihr werdet leben.“ Und er hat seinen Geist berufen, der er selbst ist, hat ein Fleisch gebildet, um sein Wort damit zu bekleiden, und hat es zu diesen Toten gesandt, auf dass es zu ihnen spreche und das Leben wieder in sie einkehre.

Wie oft hat Israel im Laufe der Jahrhunderte gerufen: „Unsere Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist erstorben, wir sind verworfen!“ Aber jedes Versprechen ist heilig, und jede Prophezeiung ist wahr. Seht, die Zeit ist gekommen, da der Messias Gottes die Gräber öffnet, um die Toten herauszuholen, sie zu beleben und mit sich zu führen ins wahre Israel, ins Reich des Herrn, ins Reich meines und eures Vaters.

Ich bin die Auferstehung und das Leben! Ich bin das Licht, dass gekommen ist, zu erleuchten, was in der Finsternis lag! Ich bin die Quelle, aus der ewiges Leben hervorsprudelt.

Wer zu mir kommt, wird den Tod nicht kennen. Wer dürstet nach Leben, der komme und trinke. Wer das Leben, d.h. Gott, besitzen will, der glaube an mich, und aus seinem Herzen werden nicht nur Tropfen, sondern Ströme lebendigen Wassers hervorsprudeln. Denn wer an mich glaubt, wird mit mir den neuen Tempel bilden, aus dem die Wasser des Heiles quellen, von denen Ezechiel spricht.

Kommt zu mir, ihr Völker! Kommt zu mir, ihr Geschöpfe! Kommt und bildet einen einzigen Tempel; denn ich weise niemanden zurück, sondern ich will euch aus Liebe bei mir haben, bei meiner Arbeit, in meinen Verdiensten, in meiner Herrlichkeit.

„Und ich sah Wasser unter der Tempelschwelle hervorströmen nach Osten zu... Das Wasser floß unterhalb der rechten Seitenwand des Tempels hinab, südlich vom Altar.“

Dieser Tempel sind jene, die glauben an den Gesalbten des Herrn, an den Christus und an das neue Gesetz, an die Lehre der Zeit des Heils und des Friedens. Wie die Mauern dieses Tempels aus Steinen bestehen, so werden lebendige Seelen die mystischen Mauern des Tempels bilden, der in Ewigkeit nicht untergehen und sich, nach dem Kampf und der Prüfung, wie sein Gründer von der Erde zum Himmel erheben wird.

Dieser Altar, von dem die Wasser fließen, dieser Altar im Osten bin ich. Mein Wasser aber wird zur Rechten hervorströmen, denn die Rechte ist der Platz der Auserwählten im Reiche Gottes. Diese Wasser gehen aus von mir, um sich in meine Auserkorenen zu ergießen und sie reich an lebendigem Wassern zu machen, auf dass sie diese nach Norden und Süden, nach Osten und Westen tragen, sie weitergeben, und der Erde in ihren Völkern, die der Stunde des Lichtes harren, dass Leben bringen; der Stunde, die kommen wird, die mit absoluter gewissheit kommen wird für jeden Ort, bevor die Erde aufhört zu sein.

Mögen meine Wasser hervorsprudeln und sich verbreiten, zusammen mit jenen, die ich selbst meinen Nachfolgern gegeben habe und noch geben werde. Und obwohl sie zerstreut sein werden, um die Erde urbar zu machen, werden sie doch vereint sein in einem einzigen Strom der Gnade, der immer tiefer und immer breiter werden wird; der von Tag zu Tag stetig anwachsen wird durch die Wasser der neuen Gefolgschaft, bis er einem Meer gleichen wird, dass alle Orte bespült, um die ganze Erde zu heiligen.

Gott will dies, Gott tut dies. Eine Sintflut hat die Erde überschwemmt und den Sündern den Tod gebracht. Eine neue Flut anderer Art, die kein Regen ist, wird die Welt reinwaschen und ihr das Leben geben.

Und durch einen geheimnisvollen Eingriff der Gnade können die Menschen Teil dieser heiligenden Flut werden, wenn sie ihren Willen mit dem meinen und ihre Mühen und ihre Leiden mit den meinen vereinigen. Und die Weit wird die Wahrheit erkennen und das Leben haben. Und wer daran teilhaben will, wird es können. Nur wer nicht von den Wassern des Lebens trinken will, wird ein sumpfiger, stinkender Morast werden oder bleiben und die reichen Ernten der Früchte der Gnade, der Weisheit und des Heils nicht kennenlernen, die denen vorbehalten sind, die in mir leben.

Wahrlich, ich sage euch noch einmal: Wer Durst hat und zu mir kommt, wird trinken und keinen Durst mehr verspüren; denn meine Gnade wird in ihm Quellen und Ströme lebendigen Wassers hervorquellen lassen. Wer aber nicht an mich glaubt, wird verderben wie salziger Boden, auf dem kein Leben gedeihen kann.

Wahrlich, ich sage euch, nach mir wird der Quell nicht versiegen; denn ich werde nicht sterben sondern leben, und nachdem ich fortgegangen bin, nicht gestorben, sondern fortgegangen, um die Pforten des Himmels zu öffnen, wird ein anderer kommen, der mir gleich sein und mein Werk vollenden wird. Er wird euch verständlich machen, was ich euch gesagt habe, und euch entflammen, damit ihr zu „Lichtern“ werdet, vorausgesetzt, dass ihr das Licht aufgenommen habt.»

Jesus schweigt.

Die Menge, die bisher geschwiegen hat unter der majestätischen Gewalt der Worte, flüstert nun und macht allerlei Bemerkungen.

Der eine sagt: «Welche Worte! Er ist ein wahrer Prophet!»

Der andere: «Er ist der Christus, ich sage es euch. Nicht einmal Johannes sprach so, und kein Prophet ist so groß wie er.»

«Und er legt uns die Propheten aus, selbst Ezechiel, dessen Symbolik so schwer zu verstehen ist.»

«Habt ihr gehört? Die Wasser! Der Altar! Das ist klar!»

«Und die verdorrten Knochen?! Hast du gesehen, wie die Schriftgelehrten, die Pharisäer und die Priester verwirrt waren? Sie haben die Lektion verstanden!»

«Ja, und sie haben die Wachen geschickt. Aber die! ... Sie haben vergessen, ihn gefangenzunehmen und sind wie kleine Kinder, die Engel sehen, stehengeblieben. Schaut sie an da drüben. Sie scheinen wie betäubt zu sein.»

«Schau! Schau! Ein hoher Beamter ruft sie zurück und tadelt sie. Gehen wir zuzuhören!»

Inzwischen heilt Jesus Kranke, die zu ihm gebracht werden, und kümmert sich um nichts anderes, bis eine Gruppe von Priestern und Pharisäern sich durch das Volk drängt, angeführt von einem dreißig- bis fünfunddreißigjährigen Mann, dem alle mit Furcht, fast schon Schrecken, aus dem Weg gehen, und zu Jesus hintritt.

«Bist du immer noch hier? Geh! Im Namen des Hohenpriesters!»

Jesus erhebt sich – er hat sich gerade über einen Gelähmten gebeugt -und schaut sie ruhig und sanft an. Dann beugt er sich wieder nieder, um dem Kranken die Hände aufzulegen.

«Fort von hier! Hast du verstanden, du Verführer des Volkes? Sonst lassen wir dich gefangennehmen.»

«Geh hin und preise den Herrn durch ein heiliges Leben», sagt Jesus dem Kranken, der sich geheilt erhebt. Dies ist seine einzige Antwort, während die, die ihm drohen, Gift schäumen und die Volksmenge mit ihren Hosannarufen sie mahnt, Jesus nichts zuleide zu tun.

Doch wenn Jesus auch sanft ist, so ist es doch Joseph des Alphäus nicht. Er richtet sich kerzengerade auf, wirft seinen Kopf zurück, um größer zu erscheinen, und ruft aus: «Eleazar, der du mit deinesgleichen das Szepter des auserwählten Sohnes Gottes und Davids fällen willst, wisse, dass du damit jeglichen Baum fällst, den deinen, auf den du so stolz bist, als allerersten; denn die Ungerechtigkeit läßt über deinem Haupt das Schwert des Herrn schweben!» Er würde noch so manches andere sagen, doch Jesus legt ihm die Hand auf die Schulter mit den Worten: «Friede! Friede, mein Bruder!» Und Joseph, rot vor Zorn, hüllt sich in Schweigen.

Sie gehen auf den Ausgang zu. Außerhalb der Mauern wird Jesus berichtet, die Häupter der Priester und Pharisäer hatten die Wachen getadelt, weil sie Jesus nicht gefangengenommen hatten, und diese hätten sich entschuldigt mit den Worten, niemand habe je so gesprochen wie Jesus. Eine Antwort, die die obersten der Priester und Pharisäer, unter ihnen viele Synedristen, ganz rasend gemacht hatte. Um nun den Wachen zu beweisen, dass nur Toren sich durch einen Verrückten verführen lassen können, wollten sie selber kommen und ihn als einen Gotteslästerer gefangennehmen. Auch, um dem Volk zu zeigen, welches die Wahrheit ist. Aber Nikodemus, der zugegen war, hatte sich dem widersetzt mit den Worten: «Ihr könnt nicht gegen ihn vorgehen. Unser Gesetz verbietet es, einen Menschen zu verurteilen, bevor man ihn angehört und gesehen hat, was er tut. Wir haben ihn immer nur Dinge tun sehen und sagen gehört, die keineswegs verwerflich sind...» Da hatte sich der Zorn der Feinde Jesu auf Nikodemus gerichtet, und sie hatten ihn mit Drohungen, Vorwürfen und Spott überhäuft, als ob er ein Tor und ein Sünder wäre. Eleazar Ben Annas war schließlich selbst mit den Zornigsten aufgebrochen, um Jesus zu vertreiben. Mehr wagten sie aus Furcht vor dem Volk nicht.

Joseph des Alphäus ist furchtbar wütend. Jesus schaut ihn an und sagt: «Siehst du, mein Bruder?» Mehr sagt er nicht... doch es liegt so viel in diesen Worten: die Mahnung, dass er recht hat, wenn er spricht oder schweigt; die Erinnerung an seine Worte; der Hinweis auf das, was Judäa in Gestalt seiner höchsten Kasten ist, was der Tempel ist, usw...

Joseph senkt das Haupt und sagt: «Du hast recht ...» Er schweigt nachdenklich. Dann wirft er plötzlich die Arme um den Hals Jesu, weint an seiner Brust und sagt: «Mein armer Bruder! Arme Maria! Arme Mutter!» Ich glaube, dass Joseph in diesem Augenblick klar das Schicksal Jesu erahnt...

«Weine nicht! Tue auch du, wie ich, den Willen unseres Vaters!» tröstet ihn Jesus und küßt ihn.

Als Joseph sich etwas beruhigt hat, machen sie sich auf den Weg zum Haus, in dem er zu Gast ist. Dort verabschieden sie sich mit einem Kuß, und Joseph sagt zutiefst gerührt diese letzten Worte: «Geh in Frieden, Jesus! Alles was ich dir bei Nazareth gesagt habe, wiederhole ich dir, und zwar noch eindringlicher. Geh in Frieden. Kümmere dich nur um dein Werk. An alles übrige werde ich denken. Geh, und Gott möge dir beistehen.» Nochmals küßt er ihn mit väterlicher Miene und legt ihm wie zum Segen als Familienoberhaupt die Hand auf das Haupt. Dann verabschiedet sich Joseph von den Brüdern. Er wechselt auch mit Simon einen Abschiedsgruß. Aber ich bemerke, dass Jakobus, ich weiß nicht warum, ihm gegenüber eher zurückhaltend ist, und umgekehrt ebenso. Simon gegenüber zeigt Joseph mehr Herzlichkeit.

Zum Schluß sagt Joseph noch zu Jakobus: «Soll ich also sagen, dass ich dich verloren habe?»

«Nein, Bruder. Du sollst sagen, dass du weißt, wo ich bin, und dass es daher an dir ist, mich zu finden. Ohne Groll. Bete vielmehr für dich, denn in den Dingen des Geistes soll man nicht gleichzeitig zwei Pfade einschlagen. Du weißt, was ich damit sagen will ...»

«Du siehst doch, dass ich ihn verteidige...»

«Du verteidigst den Menschen und den Verwandten. Das genügt nicht, um die Ströme der Gnade zu empfangen, von denen er gesprochen hat. Verteidige den Sohn Gottes, ohne Furcht vor der Welt und ohne an eigene Interessen zu denken, und du wirst vollkommen sein. Leb wohl. Ich empfehle dir unsere Mutter und Maria des Joseph ...»

Ich weiß nicht, ob Jesus sie gehört hat, denn er ist dabei, sich von den anderen Nazarenern und Galiläern zu verabschieden. Als er damit fertig ist, gebietet er: «Gehen wir auf den Ölberg. Von dort aus gehen wir dann irgendwohin weiter...»