22.02.2016

AUF DEM WEG NACH CAESAREA PHILIPPI

nach Maria Valtorta

Die Ebene erstreckt sich auf beiden Seiten des Jordans, bis sich dieser in den Meronsee ergießt. Eine schöne Ebene, in der von Tag zu Tag das Getreide höher wächst und die Obstbäume sich mit neuen Blüten bedecken. Die Hügel hinter Kedes liegen nun im Rücken der Pilger, die im ersten Tageslicht, sehnsüchtig zur aufgehenden Sonne schauend dahinschreiten und fröstelnd die Stellen aufsuchen, wo die Sonnenstrahlen zuerst die Wiesen berühren und die Blätter liebkosen. Sie müssen im Freien geschlafen haben oder aber auf einem Strohlager, denn ihre Kleider sind zerknittert und es hängen Strohhalme und trockene Blätter daran, die sie, sobald sie sie bei der zunehmenden Helligkeit bemerken, entfernen.

Der Fluß kündigt sich durch ein Rauschen an, dass im morgendlichen Schweigen der Landschaft widerhallt, und durch eine dichte Baumreihe mit jungem Grün, dass in der leichten Morgenbrise zittert. Man kann den Fluß noch nicht sehen, da er tiefer liegt als die flache Ebene. Als man im frischen Grün der jungen Blätter sein blaues Gewässer erblickt, dass durch die zahlreichen Bächlein, die von den nördlichen Hügeln herabfließen, angeschwollen ist, ist man schon nahe am Ufer.

«Wollen wir bis zur Brücke am Ufer entlang weitergehen oder schon hier den Fluß überqueren?» fragen die Apostel Jesus, der allein vorausgegangen und jetzt nachdenklich stehengeblieben ist, um auf sie zu warten.

«Seht nach, ob es eine Barke zum Übersetzen gibt, denn es ist besser, wenn wir ihn hier überqueren ...»

«Ja. An der Brücke, über die die Straße nach Caesarea Paneas führt, könnten wir wieder jemandem begegnen, den man uns auf die Fersen gesetzt hat», bemerkt Bartholomäus mit hochgezogenen Augenbrauen und schaut dabei auf Judas.

«Nein! Schau mich nicht so böse an. Ich wußte ja gar nicht, dass wir hierher kommen würden, und habe auch nichts gesagt. Es war leicht anzunehmen, dass Jesus von Sefed zu den Gräbern der Rabbis und nach Kedes gehen würde, doch hätte ich nie gedacht, dass er sich bis zur Hauptstadt des Philippus vorwagen würde. Daher können sie nichts davon wissen und wir werden sie nicht antreffen, weder durch meine Schuld, noch durch ihren eigenen Willen. Es sei denn, dass sie Beelzebub als Führer hätten», sagt Iskariot ruhig und demütig.

«Das stimmt, aber bei gewissen Leuten... muss man die Augen offen halten und die Worte abwägen, um nichts von unseren Plänen zu verraten. In allem muss man vorsichtig sein. Sonst verwandelt sich unsere Verkündigung der Frohbotschaft in eine andauernde Flucht», erwidert Bartholomäus.

Johannes und Andreas kommen zurück und berichten: «Wir haben zwei Boote gefunden. Man setzt uns für eine Drachme pro Boot über. Gehen wir zum Ufer hinab.»

Mit den beiden Barken gelangen alle nach zweimaliger Fahrt auf die andere Seite. Hier empfängt sie eine flache und fruchtbare Ebene, die jedoch nicht dicht bevölkert ist, denn nur die Bauern, die sie bebauen, haben hier ihre Häuser.

«Hm! Wie werden wir uns Brot besorgen? Ich habe Hunger, und hier gedeihen nicht einmal die Ähren der Philister... Gras und Blätter, Blätter und Blüten. Ich bin weder ein Schaf noch eine Biene», flüstert Petrus den Kameraden zu, welche bei dieser Bemerkung lächeln.

Judas Thaddäus wendet sich um – er ist etwas vorausgegangen – und bemerkt: «Wir werden im ersten Dorf Brot finden.»

«Vorausgesetzt, dass man uns nicht verjagt», entgegnet Jakobus des Zebedäus.

«Paßt auf, ihr, die ihr stets sagt, dass man auf alles achtgeben soll, dass ihr nicht die Hefe der Pharisäer und der Sadduzäer übernehmt. Mir scheint, dass ihr dies tut, ohne zu bedenken, welches Unheil ihr dabei anrichtet. Paßt auf! Hütet euch!» sagt Jesus.

Die Apostel mustern sich gegenseitig und flüstern: «Aber was sagt er denn? Die Brote haben uns doch die Frau des Taubstummen und der Gastgeber von Kedes gegeben. Es ist alles, was wir noch haben, und wir wissen nicht einmal, ob wir noch etwas anderes finden werden, um unseren Hunger zu stillen. Wie kann er also sagen, dass wir von Sadduzäern und Pharisäern Brot kaufen, dass ihre Hefe enthält? Vielleicht will er nicht, dass wir in den nahen Dörfern einkaufen...»

Jesus, der wiederum allein vorausgegangen ist, dreht sich zu ihnen um: «Warum habt ihr Angst, dass ihr kein Brot mehr für euren Hunger erhaltet? Auch wenn hier alle Pharisäer und Sadduzäer wären, würdet ihr nicht ohne Nahrung bleiben, sofern ihr meinen Rat befolgt. Ich spreche nicht vom Sauerteig, den das Brot enthält, und daher könnt ihr Brot für euren Hunger kaufen, wo ihr wollt. Selbst wenn euch niemand etwas verkaufen wollte, wäret ihr trotzdem nicht ohne Brot. Erinnert ihr euch nicht an die fünf Brote, mit denen ihr fünftausend Menschen gesättigt habt? Erinnert ihr euch nicht an die zwölf Körbe, die ihr mit den übriggebliebenen Brotresten gefüllt habt? Ich könnte für euch, die ihr zwölf seid und ein Brot habt, dasselbe tun, was ich für die fünftausend mit fünf Broten getan habe. Versteht ihr nicht, welchen Sauerteig ich meine? Den Sauerteig, der sich in den Herzen der Pharisäer, der Sadduzäer und der Schriftgelehrten gegen mich aufbläht. Es ist der Haß. Es ist die Häresie, und ihr seid auf dem Weg zum Haß, so als ob etwas vom Sauerteig der Pharisäer in euch eingedrungen wäre. Man darf nicht einmal jenen hassen, der uns feindlich gesinnt ist. Öffnet dem, was nicht Gottes ist, nicht einmal einen Spalt. Durch ihn würden zuerst andere Elemente eindringen, die gegen Gott sind. Es ist manchmal so, dass man, wenn man die Feinde zu sehr mit ihren eigenen Waffen bekämpfen will, damit endet, dass man verwundet oder besiegt wird, und als Besiegte könntet ihr ihre Lehren in euch aufnehmen. Nein, liebt und seid zurückhaltend. Ihr seid in eurem Inneren noch nicht stark genug, um diese Lehren bekämpfen zu können, ohne selbst davon angesteckt zu werden. Denn einige ihrer grundlegenden Elemente habt ihr ja in euch selbst, und der Groll gegen sie ist eines davon. Noch einmal sage ich euch: sie könnten ihre Methode ändern, um euch zu verführen und euch mir abspenstig zu machen, indem sie euch tausend Freundlichkeiten erweisen und eine scheinbare Reue an den Tag legen, da sie angeblich mit mir Frieden schließen wollen. Ihr dürft nicht fliehen. Aber wenn sie versuchen, euch ihre Lehren einzuimpfen, dann wißt, euch dagegen zu wehren. Seht, dass ist der Sauerteig, von dem ich gesprochen habe, der Unmut, der sich zugleich gegen die Liebe und die falschen Lehren richtet. Ich sage euch: seid vorsichtig!»

«War das Zeichen, dass die Pharisäer gestern verlangten, „Sauerteig“, Meister?» fragt Thomas.

«Es war Sauerteig und Gift!» «Du hast gut daran getan, ihnen das Zeichen nicht zu geben.» «Aber eines Tages werde ich es ihnen geben.»

«Wann? Wann?» fragen sie neugierig.

«Eines Tages...»

«Was für ein Zeichen wird es sein? Sagst du es nicht einmal uns, deinen Aposteln, damit wir es sofort erkennen könnten», fragt Petrus, der mehr darüber wissen möchte.

«Ihr solltet keines Zeichens bedürfen.»

«Oh, nicht um an dich zu glauben! Wir sind nicht wie die Leute, die sich allerlei Gedanken machen, denn wir haben nur einen Gedanken: dich zu lieben», sagt Jakobus des Zebedäus eifrig.

«Aber sagt mir, ihr, die ihr dem Volk nahekommt, ohne es einzuschüchtern wie ich. Was denken die Leute von mir, vom Menschensohn?»

«Die einen sagen, dass du Jesus oder der Christus bist, und das sind die Besten. Andere nennen dich einen Propheten, andere wiederum sehen in dir nur einen Rabbi, und wieder andere... du weißt es, nennen dich einen Wahnsinnigen und Besessenen.»

«Einige jedoch nennen dich bei dem Namen, den du dir selbst gegeben hast: „Menschensohn“!»

Andere sagen, dass das nicht sein kann, da der Menschensohn etwas ganz anderes ist. Es ist nicht immer eine Verneinung, denn grundsätzlich geben sie zu, dass du mehr als der Menschensohn bist, da sie sagen, dass du der Sohn Gottes bist. Andere hingegen glauben, dass du nicht einmal der Menschensohn, sondern nur ein armer Mensch bist, von Satan angetrieben oder vom Wahnsinn verwirrt. Du siehst, dass die Ansichten zahlreich und alle verschieden sind», sagt Bartholomäus.

«Wer ist also nach der Meinung des Volkes der Menschensohn?»

«Er ist ein Mensch, in dem alle Tugenden des Menschen vereint sind, ein Mensch, dem alle Gaben des Verstandes, der Weisheit und der Gnade innewohnen, die wir in unserer Vorstellung Adam beimessen, und einige fügen diesen Eigenschaften noch die Unsterblichkeit hinzu. Du weißt, dass bereits das Gerücht umgeht, dass Johannes nicht gestorben, sondern einfach von Engeln irgendwohin gebracht worden ist. Man behauptet, Herodes, und besonders Herodias hätten, um sich nicht sagen zu müssen, sie wären von Gott besiegt worden, einen Diener getötet, ihm das Haupt abgeschlagen und dann den Rumpf des getöteten Sklaven als Leiche des Täufers herumgezeigt. Das Volk redet so viel! Deshalb glauben viele, dass der Menschensohn Jeremias oder Elias oder einer der Propheten oder auch der Täufer selbst, in dem Gnade und Weisheit war und den man den Vorläufer des Christus, des Gesalbten Gottes, nannte, gewesen ist. Der Menschensohn: ein großer Mensch, geboren aus einem Menschen. Viele können oder wollen nicht zugeben, dass Gott seinen Sohn auf die Erde senden wollte. Du hast es gestern gesagt: „Es werden nur jene glauben, die von der unendlichen Güte Gottes überzeugt sind.“ Israel glaubt mehr an die Strenge Gottes, als an seine Güte ...» sagt wiederum Bartholomäus.

«Ja, sie erachten sich tatsächlich für so unwürdig, dass sie es für unmöglich halten, dass Gott so gut ist, sein Wort zu senden, um sie zu retten. Der elende Zustand ihrer Seelen hindert sie zu glauben», bestätigt der Zelote und fährt fort: «Du sagst, dass du der Sohn Gottes und des Menschen bist. Tatsächlich ist in dir alle Gnade und Weisheit, die ein Mensch besitzen kann. Ich glaube wirklich, daß, wenn Adam, als er noch im Stande der Gnade lebte, ein Sohn geboren worden wäre, dir dieser an Schönheit, Verstand und jeder anderen Tugend ähnlich gewesen wäre. In dir erstrahlt Gott durch seine Macht. Aber wer von denen, die sich selbst für Götter halten und in ihrem grenzenlosen Hochmut Gott mit ihrem eigenen Maßstab messen, kann das glauben? Sie, die Grausamen, die Gehässigen, die Räuber, die Unkeuschen, können sich nicht vorstellen, dass Gott in seiner Güte so weit gegangen ist, dass er sich selbst hingegeben hat, um sie zu erlösen; dass er ihnen seine Liebe geschenkt hat, um sie zu retten; dass er sich in seiner Hochherzigkeit der Willkür der Menschen ausgesetzt, und seine Reinheit entsandt hat, auf dass sie sich für den Menschen aufopfere. Sie können es nicht glauben, nein, sie sind so unerbittlich und erfinderisch im Suchen nach Sünden und deren Bestrafung.»

«Doch ihr, was meint ihr, wer ich bin? Sagt es, ohne Rücksicht auf meine Worte oder auf die anderer. Wenn ihr über mich urteilen müßtet, was würdet ihr von mir sagen?»

«Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes», ruft Petrus, indem er sich mit zum Himmel erhobenen Armen niederkniet und zu Jesus aufschaut, der mit strahlendem Antlitz auf ihn niedersieht und sich über ihn neigt, um ihm wieder aufzuhelfen und ihn zu umarmen mit den Worten: «Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas! Denn nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist. Vom ersten Augenblick an, da du zu mir gekommen bist, hast du dir diese Frage gestellt, und da du einfach und redlich bist, hast du die Antwort, die dir der Himmel eingab, verstanden und angenommen. Bevor du mir begegnet bist, hattest du keine übernatürlichen Zeichen erfahren, wie dein Bruder und Johannes und Jakobus. Du kanntest meine Heiligkeit als Sohn, als Arbeiter, als Bürger nicht, wie Judas und Jakobus, meine Brüder. Bevor du mein Jünger wurdest, hattest du kein Wunder gesehen, noch hatte ich dir ein Zeichen meiner Macht gegeben, wie ich es bei Philippus, Nathanael, Simon dem Kananäer, Thomas und Judas tat. Du wurdest nicht von meinem Willen überwältigt wie Levi, der Zöllner, und dennoch hast du vom ersten Augenblick an ausgerufen: „Er ist der Gesalbte!“ Von der ersten Stunde an, da du mich gesehen hattest, glaubtest du, und nie wurde dein Glaube durch etwas erschüttert. Deshalb habe ich dich Kephas genannt, und deshalb werde ich auf dir, dem Felsen, meine Kirche erbauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben, und was immer du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein, o du getreuer und kluger Mensch, dessen Herz ich erproben konnte. Jetzt, von diesem Augenblick an, bist du das Haupt, dem Gehorsam und Achtung gebührt, wie mir selbst. Dazu ernenne ich ihn vor euch allen.»

Wenn Jesus Petrus unter einem Hagel von Vorwürfen niedergeschmettert hätte, wäre sein Weinen nicht so heftig gewesen. Er weint, von Schluchzen geschüttelt, dass Antlitz an der Brust Jesu. Ein Weinen ist es, dass sich nur wiederholt hat, als ihn der Schmerz über die Verleugnung

Jesu übermannte. Jetzt ist es ein Weinen, dass tausend demütigen und guten Gefühlen entspringt... Ein weiteres kleines bißchen des alten Simon – des Fischers von Bethsaida, der bei der ersten Verkündigung von seiten seines Bruders lachend und ungläubig geantwortet hat: «Ausgerechnet dir soll der Messias erscheinen! ... Ausgerechnet dir!» – ein weiteres kleines bißchen des alten Simon bröckelt ab unter diesen Tränen und läßt unter der dünner werdenden Kruste seiner Menschlichkeit immer klarer den Petrus, dass Oberhaupt der Kirche Christi, erscheinen.

Als er sein Haupt scheu und verwirrt erhebt, weiß er nur eines zu tun, um alles auszudrücken, alles zu versprechen und sich Kraft zu holen für seine neue Aufgabe: er wirft seine kurzen, muskulösen Arme um den Hals Jesu und zwingt ihn so, sich zu ihm herabzuneigen und ihn zu küssen, wobei seine etwas struppigen und graumelierten Haare und sein Bart sich mit den weichen, goldfarbenen Haaren und dem Barte Jesu vermischen. Dann schaut er ihn anbetend, liebevoll und flehend an mit seinen großen, leuchtenden und von den Tränen geröteten Augen, während er mit den mit Schwielen bedeckten, breiten, kurzen Händen das asketische Antlitz des Meisters ergreift, dass sich über das seinige neigt, als wäre es ein Gefäß, aus dem Lebenssäfte fließen... und er trinkt, trinkt, trinkt Süßigkeit und Gnade, Sicherheit und Stärke aus diesem Antlitz, aus diesen Augen, aus diesem Lächeln...

Schließlich trennen sie sich und setzen ihren Weg nach Caesarea Philippi fort, und Jesus sagt zu allen: «Petrus hat die Wahrheit gesagt. Viele ahnen sie, ihr kennt sie. Aber sagt vorläufig niemandem, was dieser Christus gemäß der vollen Wahrheit, die ihr erkennt, ist. Laßt Gott in den Herzen sprechen, wie er in den euren spricht. Wahrlich, ich sage euch, dass alle, die meine oder eure Aussagen mit einem vollkommenen Glauben und einer vollkommenen Liebe verbinden, dahin gelangen werden, den wahren Sinn der Worte: „Jesus, Christus, dass Wort, der Sohn des Menschen und Gottes“ zu verstehen.»