05.06.2016

 

Auferweckung des Sohnes der Witwe von Naim

Naim muß zu Lebzeiten Jesu eine gewisse Bedeutung gehabt haben. Die Ortschaft ist nicht sehr groß, aber gut angelegt und von einer Mauer umgeben. Sie liegt auf einem Hügel, im Vorgebirge des kleinen Hermon, und beherrscht von ihrer Höhe die fruchtbare Ebene, die sich in nordwestlicher Richtung ausdehnt.

Man gelangt über Endor hierher, nachdem man einen Bach überquert hat, der wohl in den Jordan mündet. Der Jordan ist aber von hier aus nicht mehr zu sehen, und auch sein Tal wird von einer Hügelkette in Form gegen Osten verdeckt.

Jesus geht auf eine Hauptstraße, die das Gebiet des Sees mit dem kleinen Hermon und seinen Ortschaften verbindet. Ihm folgen viele Bewohner von Endor, die lebhaft miteinander reden.

Die Gruppe der Apostel ist nun ganz in der Nähe der Stadtmauer angelangt: Zweihundert Meter sind es höchstens noch. Da die Hauptstraße durch ein Tor direkt in die Stadt führt und das Tor offen steht, weil es mitten im Tag ist, kann man auch sehen, was sich gleich jenseits der Mauer abspielt. Jesus, der gerade mit den Aposteln und dem Neubekehrten spricht, sieht einen Leichenzug, der sich mit einem laut wehklagenden Gefolge, wie es in orientalischen Ländern Brauch ist, nähert.

«Wollen wir gehen und sehen, Meister?» fragen mehrere. Auch von den Bewohnern von Endor sind viele hingeeilt, um zu sehen.

«Ja, gehen wir», sagt Jesus zustimmend.

«Oh, es muß ein Jüngling sein; denn siehst du, wie viele Blumen und Bänder auf der Bahre liegen?», sagt Judas Iskariot zu Johannes.

«Es könnte auch eine Jungfrau sein», antwortet Johannes.

«Nein, den Farben nach ist es gewiß ein Jüngling, und zudem fehlen die Myrten...», sagt Bartholomäus.

Der Trauerzug kommt zur Stadtmauer heraus. Es ist nicht möglich zu erkennen, wer auf der Bahre liegt, die von großen Männern auf den Schultern getragen wird. Man kann einen in Bandagen gewickelten, ausgestreckten Körper unter dem Leinentuch gewahren, und man sieht auch, daß es ein Erwachsener sein muß, da der Körper ebenso lang wie die Bahre ist.

Neben der Bahre geht eine verschleierte Frau, die von Verwandten oder Freunden gestützt wird und weint. Es ist das einzige echte Weinen in diesem gespielten Wehklagen. Wenn einer der Träger über einen Stein, ein Loch oder eine Unebenheit des Bodens stolpert und die Bahre einen Stoß abbekommt, dann jammert die Mutter: «O nein! Seid vorsichtig! Mein Junge hat so viel gelitten!» Sie erhebt ihre zitternde Hand, um den Rand der Bahre zu streicheln. Da sie nicht mehr tun kann, küßt sie die Schleier und Bänder, die im Winde flattern und den leblosen Körper streifen.

«Es ist die Mutter», sagt Petrus ernst, und dabei schimmern Tränen in seinen treuen, guten Augen.

Aber er ist nicht der einzige, der wegen dieses Leides Tränen in den Augen hat. Dem Zeloten, Andreas, Johannes und auch den immerfrohen Thomas ergeht es ebenso, und alle sind ergriffen. Judas von Kerioth flüstert: «Wenn ich es wäre! Oh, meine arme Mutter...»

Jesus, in dessen Augen eine unbeschreibliche Zärtlichkeit leuchtet, geht auf die Bahre zu.

Die Mutter beginnt heftiger zu schluchzen, weil sich der Leichenzug nun dem offenen Grab nähert, und als sie sieht, daß Jesus die Bahre berühren will, schiebt sie ihn heftig zur Seite, weil sie in ihrem Schmerz Angst vor ich weiß nicht was hat. «Es ist mein Kind!» ruft sie und blickt Jesus mit ganz verstörten Augen an.

«Ich weiß es, Mutter. Es gehört dir!»

«Er ist mein einziger Sohn! Warum mußte er sterben, er, der so gut und lieb war, die einzige Freude der Witwe? Warum?» Die Klageweiber verstärken ihr bezahltes Jammern, um in das Wehklagen der Mutter einzustimmen, die fortfährt: «Warum er und nicht ich? Es ist nicht gerecht, daß jemand, der geboren hat, sehen muß, wie sein Same stirbt. Der Same muß leben, denn was nützt es sonst, daß die Eingeweide sich in Qualen winden, um einem Menschen das Leben zu schenken?» und sie schlägt sich wild und verzweifelt auf ihren Leib.

«Tue das nicht! Weine nicht, Mutter!» Jesus nimmt ihre Hände fest in seine Linke, während seine Rechte die Bahre berührt und er zu den Trägern sagt: «Bleibt stehen und stellt die Bahre auf den Boden!»

Die Träger gehorchen und stellen die Bahre mit den vier hölzernen Füßen zur Erde.

Jesus ergreift das Leinentuch, mit dem der Tote bedeckt ist, schlägt es zurück, und der Leichnam wird sichtbar.

Die Mutter schreit mit dem Namen des Sohnes ihren ganzen Schmerz hinaus: «Daniel!»

Jesus, der die mütterlichen Hände immer noch in den seinen hält, richtet sich auf und nimmt eine feierliche Haltung voller Würde ein, und mit funkelnden Augen und einem Ausdruck, der an seine machtvollsten Wunder erinnert, sagt er, indem er seine rechte Hand sinken läßt: «Jüngling, ich sage dir, steh auf!»

Der mit Binden umwickelte Tote richtet sich auf seiner Bahre auf und ruft: «Mutter!» Er ruft nach ihr mit der stammelnden, ängstlichen Stimme eines erschrockenen Kindes.

«Er gehört dir, Frau! Ich gebe ihn dir im Namen Gottes zurück. Hilf ihm, sich vom Schweißtuch zu befreien. Seid glücklich!»

Jesus will sich zurückziehen. Doch es gibt kein Entrinnen. Das Volk umringt ihn an der Bahre.

Die Mutter hat sich in die Binden verwickelt, weil sie ihren Sohn rasch daraus befreien will, während das kindliche Jammern flehend «Mutter, Mutter», wiederholt.

Das Schweißtuch ist gelöst und auch die Binden, und Mutter und Sohn können sich umarmen. Sie tun es, ohne auf den Balsam zu achten, der an ihnen kleben bleibt und die Mutter mit den gleichen Binden von dem lieben Gesicht und den Händen abwischt. Da sie nichts anderes hat, um ihren Sohn zu kleiden, nimmt sie ihren Mantel und hüllt ihn darin ein. Alles dient zum Vorwand für ihre Liebkosungen.

Jesus betrachtet sie... Er betrachtet diese beiden Menschen, die sich an der Bahre, von der nunmehr alle Trauer gewichen ist, innig umarmen, und weint. Judas Iskariot bemerkt diese Tränen und fragt: «Warum weinst du, Herr?»

Jesus wendet ihm sein Antlitz zu und sagt: «Ich denke an meine Mutter...»

Dieser kurze Wortwechsel erinnert die Frau an ihren Wohltäter. Sie nimmt ihren Sohn bei der Hand und stützt ihn, da er noch eine gewisse Unsicherheit in den Gliedern spürt, kniet nieder, um das Gewand Jesu zu küssen, und sagt: «Auch du, mein Sohn, preise diesen Heiligen, der dich dem Leben und deiner Mutter zurückgegeben hat.» Die Menge jubelt Gott und seinem Messias in lauten Hosannarufen zu, die ihn nun, aufgeklärt durch die Apostel und die Bewohner von Endor, als den Messias erkannt hat.

Die ganze Volksmenge ruft nun aus: «Gepriesen sei der Gott Israels. Gepriesen sei der Messias, der Gesandte Gottes! Gepriesen sei Jesus, der Sohn Davids! Ein großer Prophet ist unter uns erstanden! Gott hat wahrhaftig sein Volk aufgesucht! Halleluja, Halleluja!» Endlich kann Jesus sich aus dem Gedränge befreien und in die Stadt hineingehen. Das Volk, anspruchsvoll in seiner Liebe, folgt ihm und bedrängt ihn. Ein Mann eilt herbei und grüßt ihn mit einer tiefen Verneigung: «Ich bitte dich, unter meinem Dache zu rasten.»

«Ich kann nicht. Das Osterfest läßt keinen Aufenthalt mehr zu, außer dem festgelegten.»

In wenigen Stunden ist Sonnenuntergang, und es ist Freitag...»

«Eben deshalb muß ich meine Tagereise vor dem Sonnenuntergang beendet haben. Ich danke dir trotzdem. Doch halte mich nicht auf!»

«Aber ich bin der Synagogenvorsteher.»

«Damit willst du sagen, daß du ein Recht darauf hast. Mann, wenn ich auch nur eine Stunde später gekommen wäre, hätte dies genügt, daß diese Mutter ihren Sohn nicht zurückerhalten hätte. Ich gehe hin, wo noch andere Unglückliche auf mich warten. Verzögere ihre Freude nicht aus Selbstsucht. Ich werde gewiß ein andermal wieder nach Naim kommen und dann für mehrere Tage bei dir verweilen. Aber nun laß mich gehen.»

Der Mann besteht nicht länger auf der Einladung. Er sagt nur: «Einverstanden, ich erwarte dich.»

«Ja, der Friede sei mit dir und den Einwohnern von Naim. Auch euch, ihr Leute von Endor, Friede und Segen! Geht nun nach Hause! Gott hat durch das Wunder zu euch gesprochen. Sorgt dafür, daß durch eure Liebe ebensoviele Herzen zum Guten auferstehen als es Herzen gibt!»

Nochmals ertönt ein Chor von Hosannarufen. Dann lassen die Menschen Jesus gehen, der nun die Stadt schräg durchquert und sie in Richtung Esdrelon verläßt.