10.08.2016

AUFRUF ZUR ENTSCHEIDUNG

nach Maria Valtorta

Aber da sind auch die Heiden im Tempel. Diese Heiden, die dem Meister in immer größerer Zahl zuhören an diesen Feiertagen. Immer am Rand der Volksmenge, denn die hebräisch-palästinensische Exklusivität ist groß, schiebt sie beiseite und beansprucht die vordersten Plätze um den Rabbi, obwohl sie gerne näherkommen und mit ihm sprechen würden. Eine große Gruppe dieser Heiden entdeckt Philippus, den die Volksmenge in einen Winkel gedrängt hat. Sie gehen zu ihm und sagen: «Herr, wir möchten deinen Meister Jesus aus der Nähe sehen und wenigstens einmal mit ihm reden.»

Philippus stellt sich auf die Fußspitzen, um zu sehen, ob er irgendeinen Apostel in der Nähe des Herrn entdeckt. Er sieht Andreas und schreit, nachdem er ihn mit Namen gerufen hat: «Hier sind Heiden, die den Meister grüßen möchten. Frage ihn, ob er für sie Zeit hat.»

Andreas, der sich einige Meter von Jesus in der Menge befindet, drängt sich energisch, unter großzügigem Einsatz der Ellbogen, durch und schreit: «Macht Platz! Macht Platz, sage ich euch. Ich muss zum Meister.»

Schließlich schafft er es und teilt ihm den Wunsch der Heiden mit.

«Führe sie in die Ecke dort. Ich komme zu ihnen.»

Und als Jesus versucht, sich durch die Leute zu drängen, helfen ihm Johannes, der mit Petrus zurückgekommen ist, Petrus selbst, Judas Thaddäus, Jakobus des Zebedäus und Thomas, der seine Verwandten in der Menge gefunden hat und sie nun verläßt.

Nun ist Jesus bei den Heiden, die ihm huldigen.

«Der Friede sei mit euch. Was wollt ihr von mir?»

«Wir wollen dich sehen, dich sprechen. Deine Worte haben uns beunruhigt. Wir wollten schon lange mit dir sprechen, um dir zu sagen, dass deine Worte uns sehr beeindrucken. Aber wir wollten einen geeigneten Moment abwarten. Heute... Du sprichst von Tod... Wir fürchten, dich nicht mehr sprechen zu können, wenn wir es nicht sofort tun. Aber ist es denn möglich, dass die Hebräer ihren besten Sohn töten? Wir sind Heiden, und deine Hand hat uns nicht Gutes getan. Dein Wort war uns unbekannt. Wir hatten nur Unbestimmtes über dich gehört. Wir haben dich nie gesehen, waren nie in deiner Nähe. Und doch, du siehst es! Wir verehren dich. Die ganze Welt ehrt dich mit uns.»

«Ja, die Stunde ist gekommen, da der Menschensohn verherrlicht werden muss, von den Menschen und den Seelen.»

Nun drängen sich die Leute wieder um Jesus. Aber mit dem Unterschied, dass in der ersten Reihe die Heiden sind und dahinter die anderen.

«Aber wenn dies die Stunde deiner Verherrlichung ist, dann wirst du nicht sterben, wie du sagst, oder wie wir es verstanden haben. Denn auf diese Art zu sterben, ist keine Verherrlichung. Wie kannst du die Welt unter deinem Szepter vereinigen, wenn du vorher stirbst? Wenn dein Arm im Tod erstarrt, wie kann er dann triumphieren und die Völker versammeln?»

«Indem ich sterbe, gebe ich Leben. Indem ich sterbe, baue ich auf. Indem ich sterbe, schaffe ich das neue Volk. Im Opfer erringt man den Sieg. Wahrlich, ich sage euch, wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es unfruchtbar. Wenn es aber stirbt, bringt es viele Frucht. Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Wer sein Leben in dieser Welt haßt, wird es für das ewige Leben bewahren. Daher muss ich sterben, um allen, die mir nachfolgen und der Wahrheit dienen, dieses ewige Leben zu schenken. Wer mir dienen will, komme: Die Plätze in meinem Reich sind nicht diesem oder jenem Volk vorbehalten. Jeder, der mir dienen will, komme und folge mir. Und wo ich bin, wird auch mein Diener sein. Und wer mir dient, wird meinen Vater ehren, den einen, wahren Gott, den Herrn des Himmels und der Erde, den Schöpfer alles dessen, was ist; er ist Geist, Wort, Liebe, Leben, Weg, Wahrheit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, der Eine und doch Dreieine, der Dreieine und doch Eine, der einzige, wahre Gott. Doch nun ist meine Seele erschüttert. Soll ich vielleicht sagen: „Vater, errette mich vor dieser Stunde“? Nein. Denn dazu bin ich gekommen: diese Stunde zu erleben. Und daher sage ich: „Vater, verherrliche deinen Namen.“»

Jesus breitet die Arme in Kreuzform aus, ein purpurrotes Kreuz vor dem weißen Marmor des Portikus, erhebt das Antlitz, opfert sich betend auf und erhebt seine Seele zum Vater.

Und eine Stimme, mächtiger als der Donner, eine unwirkliche Stimme insofern, dass sie keiner menschlichen Stimme gleicht und doch von allen gut verstanden wird, erfüllt den ganzen heiteren Himmel dieses herrlichen Apriltages, tönt gewaltiger als die Akkorde einer riesigen, wunderbar klingenden Orgel und verkündet: «Ich habe ihn verherrlicht, und ich werde ihn wieder verherrlichen.»

Die Leute haben Angst bekommen. Diese so mächtige Stimme, die die Erde und alles auf ihr erzittern läßt, diese geheimnisvolle Stimme unbekannten Ursprungs, die so verschieden ist von allen anderen, diese Stimme, die alles erfüllt, von Norden bis Süden, von Osten bis Westen, erschreckt die Hebräer und versetzt die Heiden in Staunen. Erstere werfen sich, so weit sie können, zu Boden und flüstern zitternd: «Nun werden wir sterben. Wir haben die Stimme des Himmels vernommen. Ein Engel hat zu ihm gesprochen.» Und sie schlagen sich an die Brust in Erwartung des Todes. Die anderen rufen: «Ein Donnern! Ein Tosen! Fliehen wir! Die Erde grollt! Sie hat gebebt!» Aber die Flucht ist unmöglich bei dem Andrang derer, die außerhalb der Tempelmauer gewesen sind und nun herein wollen und schreien: «Erbarmen! Schnell. Dies ist ein heiliger Ort. Der Berg, auf dem der Altar Gottes steht, wird nicht bersten.» Jeder bleibt deshalb, wo er ist, wo ihn die Menge und der Schrecken festhält.

Priester, Schriftgelehrte, Pharisäer, Leviten und die Tempelwachen, die irgendwo im Labyrinth des Tempels waren, eilen auf die Terrassen. Sie sind erregt und verstört, aber keiner von ihnen geht zu den Leuten in die Vorhöfe, außer Gamaliel und sein Sohn. Jesus sieht ihn vorübergehen in seinem ganz weißen, in der Sonne leuchtenden Leinengewand.

Jesus sieht Gamaliel an und sagt mit lauter Stimme, so als spreche er zu allen: «Nicht meinetwegen, sondern euretwegen ist diese Stimme vom Himmel gekommen.»

Gamaliel bleibt stehen, wendet sich um, und der Blick seiner tiefen kohlschwarzen Augen – die die Gewohnheit, ein verehrter Meister, ein Halbgott zu sein, unwillkürlich hart wie Raubtieraugen hat werden lassen – begegnet dem klaren, saphirblauen, sanften und doch majestätischen Blick Jesu...

Und Jesus fährt fort: «Nun ist das Gericht über diese Welt. Nun wird der Fürst der Finsternis hinausgeworfen werden. Und ich werde, wenn ich von der Erde erhöht bin, alle an mich ziehen, denn so wird der Menschensohn erlösen.»

«Wir haben aus den Gesetzesbüchern gelernt, dass der Christus in Ewigkeit leben wird. Du nennst dich Christus und sagst, dass du sterben musst. Weiter sagst du, dass du der Menschensohn bist und erlösen wirst, wenn du erhöht bist. Wer bist du also? Der Menschensohn oder der Christus? Wer ist der Menschensohn?» sagt die Volksmenge, die sich nun wieder sicherer fühlt.

«Ich bin beides in einer Person. Öffnet eure Augen dem Licht. Noch eine kleine Weile ist das Licht bei euch. Geht der Wahrheit entgegen, solange ihr das Licht noch unter euch habt, damit die Finsternis euch nicht überrasche. Die im Dunkeln wandeln, wissen nicht, wohin sie gehen. Glaubt an das Licht, solange ihr es unter euch habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet.» Er schweigt.

Die Leute sind unentschlossen und verschiedener Ansicht. Die einen schütteln den Kopf und gehen fort. Die anderen beobachten das Verhalten der Würdenträger, der Pharisäer, der obersten Priester, der Schriftgelehrten... und besonders des Gamaliel und richten sich danach. Wieder andere stimmen mit einem Kopfnicken zu, verneigen sich vor Jesus, und bringen dadurch deutlich zum Ausdruck: «Wir glauben! Wir verehren dich als den, der du bist.» Aber sie wagen es nicht, sich offen zu ihm zu bekennen. Sie fürchten die aufmerksamen Augen der Feinde Christi, die Mächtigen, die von den Terrassen über den herrlichen Säulenhallen, die die Höfe des Tempels umgeben, alles beobachten und überwachen.

Auch Gamaliel, der einige Minuten nachdenklich stehengeblieben ist und den Marmor des Bodens zu befragen scheint, um von ihm eine Antwort auf seine inneren Fragen zu erhalten, begibt sich nun zum Ausgang, nachdem er anscheinend enttäuscht oder verächtlich den Kopf geschüttelt und die Achseln gezuckt hat... Er geht gerade an Jesus vorbei und sieht ihn nicht mehr an.

Jesus dagegen betrachtet ihn mitleidig... und erhebt noch einmal laut seine Stimme – sie klingt wie eine bronzene Glocke – um allen Lärm zu übertönen und von dem großen Schriftgelehrten gehört zu werden. Es scheint, dass er für alle spricht, aber es ist offensichtlich, dass er nur für ihn allein spricht. Er sagt mit sehr lauter Stimme: «Wer an mich glaubt, glaubt in Wahrheit nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat, und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat. Und dieser ist der Gott Israels! Denn es gibt keinen Gott außer ihm. Deshalb sage ich: Wenn ihr nicht an mich glauben könnt als an den, der genannt wird Sohn des Joseph des David und Sohn der Maria aus dem Geschlecht Davids, der von dem Propheten geschauten Jungfrau; der geboren ist zu Bethlehem, wie es bei dem Propheten geschrieben steht, dessen Vorläufer der Täufer war, wie es ebenfalls seit Jahrhunderten geschrieben steht, dann glaubt wenigstens der Stimme eures Gottes, der vom Himmel zu euch gesprochen hat. Glaubt an mich als den Sohn dieses Gottes Israels. Wenn ihr dem nicht glaubt, der vom Himmel zu euch gesprochen hat, dann beleidigt ihr nicht mich, sondern euren Gott, dessen Sohn ich bin.

Bleibt nicht in der Finsternis. Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe. Schafft euch nicht Gewissensbisse, die ihr nicht wiedergutmachen könnt, wenn ich dorthin zurückgekehrt sein werde, von wo ich gekommen bin. Es wäre eine harte Strafe Gottes für euren Starrsinn. Ich bin bereit zu verzeihen, solange ich bei euch bin. Solange das Urteil noch nicht gefällt ist und soweit es an mir liegt, habe ich den Wunsch zu verzeihen. Aber die Gedanken meines Vaters sind anders. Denn ich bin die Barmherzigkeit, er aber ist die Gerechtigkeit.

Wahrlich, ich sage euch, wer meine Worte nicht hört und sie nicht bewahrt, den richte ich nicht. Denn ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten, sondern die Welt zu retten. Aber wenn ich auch nicht richte, so sage ich euch in Wahrheit, dass es einen gibt, der euch für eure Werke richtet. Mein Vater, der mich gesandt hat, richtet alle, die sein Wort abweisen. Ja, wer mich verachtet und das Wort Gottes nicht anerkennt und die Worte des Wortes nicht aufnimmt, der hat schon einen, der ihn richtet: dasselbe Wort, dass ich verkündet habe, wird euch am Jüngsten Tag richten.

Gott läßt seiner nicht spotten. Und der verspottete Gott wird furchtbar sein für alle, die ihn einen Irren und Lügner genannt haben.

Denkt alle daran, dass die Worte, die ihr von mir gehört habt, von Gott kommen. Denn ich habe nicht aus mir selbst gesprochen, sondern der Vater, der mich gesandt hat, er selbst hat mir aufgetragen, was ich sagen und was ich sprechen muss. Und ich gehorche seinem Befehl, denn ich weiß, dass sein Befehl gerecht ist. Jedes Gebot Gottes bedeutet ewiges Leben. Und ich, euer Meister, gebe euch ein Beispiel des Gehorsams allen Geboten Gottes gegenüber. Seid daher gewiss, dass ich die Dinge, die ich euch gesagt habe und euch sage, so gesagt habe und so sage, wie mein Vater mir aufgetragen hat, sie euch zu sagen. Und mein Vater ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott des Moses, der Patriarchen und der Propheten, der Gott Israels, euer Gott.»

Worte des Lichtes, die in das Dunkel fallen, dass sich schon in den Herzen ausbreitet!