16.02.2016

DIE BERGPREDIGT DIE SELIGPREISUNGEN (Dritter Teil)

nach Maria Valtorta

Derselbe Platz, dieselbe Stunde. Die Menschenmenge ist dieselbe und vielleicht noch größer, denn viele stehen bis zu den Wegen, die ins kleine Tal führen. Nur der Römer fehlt.

Jesus spricht:

«Einer der Fehler, denen der Mensch leicht verfällt, ist der Mangel an Ehrlichkeit, auch sich selbst gegenüber. Da der Mensch schwerlich aufrichtig und ehrlich ist, hat er sich selbst einen Zügel angelegt, der ihn zwingt, den vorgeschriebenen Weg zu gehen. Einen Zügel, den er allerdings wie ein unbändiges Pferd rasch lockert, um seine Gangart zu ändern, oder dessen er sich ganz entledigt, um ohne weitere Überlegung alles tun zu können, was ihm eine solche Handlungsweise an Vorwürfen von seiten Gottes, der Menschen und seines eigenen Gewissens einbringen könnte.

Dieser Zügel ist der Schwur. Doch ein Eid ist unter Ehrlichen nicht nötig, und es ist nicht Gott, der ihn euch gelehrt hat. Im Gegenteil, er hat euch geboten: „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen.“ Diesem Gebot hat er nichts hinzugefügt! Denn der Mensch soll aufrichtig sein, und die Treue zu seinem Wort sollte genügen. Wenn im Deuteronomium von Schwüren und auch von Gelübden die Rede ist als von etwas, dass aus einem Herzen kommt, dass sich mit Gott vereinigt glaubt, oder aus einem Bedürfnis oder einem Dankbarkeitsgefühl entspringt, dann heißt es darin: „Das Wort, dass einmal über deine Lippen gekommen ist, musst du halten und erfüllen, so wie du es deinem Herrn und Gott freiwillig gelobt hast!“ Es wird immer vom gegebenen Wort gesprochen, von nichts anderem als dem Wort. Wer es für nötig hält zu schwören, tut es, weil er weder seiner selbst sicher ist noch der Meinung, die sein Nächster von ihm hat. Wer aber einen anderen zu schwören auffordert, beweist, dass er der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des Schwörenden mißtraut.

Wie ihr seht, ist die Gewohnheit des Schwörens eine Folge der moralischen Unehrlichkeit des Menschen und somit eine Schande für ihn. Es ist eine doppelte Schande für ihn, weil er nicht einmal dieser beschämenden Handlung, dem Schwur, treu ist. Mit derselben Unbesonnenheit, mit der er seinen Nächsten verspottet, verspottet er auch Gott, da er sich nicht scheut, mit größter Ruhe und Leichtfertigkeit falsch zu schwören. Gibt es ein schändlicheres Geschöpf als den Meineidigen? Wie oft verwendet man beim Schwören eine heilige Formel und ruft dabei Gott als Zeugen und Bürgen an; oder man beruft sich auf sein Liebstes, auf Vater, Mutter, Kinder, Ehefrau, verstorbene Angehörige, dass eigene Leben und die kostbarsten Organe; und diese müssen Gewähr für eine falsche Aussage bieten, um den Mitmenschen zu überzeugen, obwohl er doch betrogen wird.

Ein solcher Mensch ist ein Gotteslästerer, ein Dieb, ein Verräter, ein Mörder. Wessen? Natürlich Gottes, weil er die Wahrheit mit der Gemeinheit seiner Lüge vermischt und ihn durch seine Herausforderung verhöhnt: „Bestrafe mich, überführe mich meiner Lüge, wenn du kannst; du bist dort, und ich bin hier, und ich spotte deiner.“ Ja, lacht nur, lacht nur, ihr Lügner und Spötter, doch die Stunde wird kommen, da ihr nicht mehr lacht; sie wird kommen, wenn der, dem alle Macht gegeben ist, euch in seiner schrecklichen Majestät erscheinen wird. Allein sein Anblick wird euch erzittern lassen und seine Blicke werden euch niederschmettern, noch ehe seine Stimme euch in euer ewiges Schicksal stürzt und euch mit seinem Fluch zeichnet.

Er ist ein Dieb, da er sich eine Achtung verschafft, die er nicht verdient. Der Nächste, von seinem Schwur beeindruckt, bezeigt ihm diese Achtung, und die Schlange ziert sich damit und täuscht vor, was sie nicht ist. Er ist ein Verräter, denn mit seinem Schwur verspricht er, was er nicht halten will. Er ist ein Mörder, denn er zerstört die Ehre seinesgleichen, der durch seinen falschen Eid die Achtung der anderen verliert; und auch, weil er seine Seele tötet, denn der Meineidige ist ein abscheulicher Sünder in den Augen des Herrn. Wenn auch kein anderer die Wahrheit sieht, so entgeht sich doch Gott nicht, und er läßt sich weder durch lügenhafte Worte noch durch heuchlerische Taten betrügen. Er sieht es, und er verliert jeden einzelnen Menschen keinen Moment aus den Augen. Es gibt keine noch so starke Festung und keinen noch so tiefen Keller, in die sein Blick nicht eindringen könnte. Auch in euer Innerstes, in diese Festung eines jeden Menschenherzens, schaut Gott, und er richtet euch nicht nach dem, was ihr schwört, sondern nach dem, was ihr tut.

Das Gebot, dass euch mit der Einsetzung des Schwures gegeben wurde, um der Lüge und Leichtfertigkeit, mit der man das gegebene Wort brach, Einhalt zu gebieten, ersetze ich nun durch ein anderes Gebot. Ich sage nicht wie die Alten: „Schwört nicht falsch und haltet, was ihr schwört“ ' sondern ich sage euch: „Schwört nie!“ Nicht beim Himmel, dem Thron Gottes, nicht bei der Erde, dem Schemel seiner Füße, nicht bei Jerusalem und seinem Tempel, der Stadt des großen Königs und dem Haus des Herrn, unseres Gottes.

Schwört weder auf die Gräber der Dahingeschiedenen, noch auf ihre Seelen. Die Gräber sind voll von Überresten dessen, was minderwertig am Menschen ist und was er mit dem Tier gemeinsam hat, und die Seelen sollt ihr lassen wo sie sind. Verursacht ihnen nicht Leid und Abscheu, wenn es Seelen Gerechter sind, die schon eine Voraus-Erkenntnis Gottes besitzen. Denn auch wenn es nur eine Vorkenntnis, also eine teilweise Erkenntnis ist und sie Gott bis zum Augenblick der Erlösung nicht in der ganzen Fülle seiner Herrlichkeit besitzen, so können sie euch doch nicht sündigen sehen, ohne zu leiden. Wenn es aber nicht Seelen Gerechter sind, vermehrt nicht noch ihre Pein, indem ihr sie durch eure Sünden an ihre eigenen Sünden erinnert. Laßt sie, laßt die heiligen Verstorbenen in Frieden, die Nichtheiligen in ihren Qualen. Nehmt den einen nicht ihre Ruhe, vermehrt nicht die Pein der anderen. Warum sich auf die Toten berufen? Sie können nicht reden. Die Heiligen nicht, weil die Barmherzigkeit es ihnen verbietet; sie müßten zu oft widersprechen. Die Verdammten nicht, weil die Hölle ihre Pforten nicht öffnet, weil sie den Mund nur zum Fluchen aufmachen, und weil jede Stimme durch den Haß Satans und der Teufel erstickt wird; denn die Verdammten sind Teufel.

Schwört weder auf das Haupt des Vaters, noch auf das der Mutter, noch auf das der Gattin oder der unschuldigen Kinder. Ihr habt kein Recht dazu. Sind sie vielleicht eine Münze oder eine Ware? Sind sie eine Unterschrift auf einem Dokument? Sie sind mehr und weniger als das. Sie sind Fleisch und Blut von deinem Blute, o Mensch, aber sie sind auch freie Geschöpfe, und du kannst sie nicht wie Sklaven als Bürgen für deinen falschen Schwur gebrauchen. Sie sind weniger als deine eigene Unterschrift, denn du bist intelligent, frei und erwachsen und weder unmündig noch ein Kind, dass nicht weiß, was es zu tun hat und daher durch seine Eltern vertreten werden muss. Du bist du selbst, ein mit Vernunft begabter Mensch, und deshalb verantwortlich für dein Tun und deine Worte. Für dich allein musst du handeln, und deine eigene Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit und die Achtung deiner Mitmenschen sollen für deine Worte und Werke bürgen, nicht die Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit deiner Angehörigen und die Achtung, die sie sich zu erwerben wußten. Sind die Väter für ihre Söhne verantwortlich? gewiss, für die minderjährigen. Danach ist jeder für sich selbst verantwortlich. Nicht immer haben gerechte Eltern auch gerechte Kinder, und eine gottesfürchtige Frau ist nicht immer mit einem gottesfürchtigen Mann verheiratet. Warum also die Gerechtigkeit eines Verwandten als Bürgschaft benutzen? Gleicherweise können einem Sünder heilige Kinder geboren werden, und solange sie unschuldig sind, sind sie alle heilig. Warum sich also mit einer unlauteren Handlung, wie ein Schwur, den man nicht halten will, auf einen Unschuldigen berufen?

Schwört auch nicht auf euer Haupt, eure Augen, Zunge und Hände. Ihr habt kein Recht dazu. Alles, was ihr habt, stammt von Gott. Ihr seid nur die zeitlichen Hüter, die Verwalter der geistigen oder materiellen Güter, die euch Gott gewährt hat. Warum also gebrauchen, was euch nicht gehört? Könnt ihr eurem Haupte auch nur ein Haar hinzufügen oder seine Farbe verändern? Wenn ihr das nicht könnt, warum benützt ihr dann das Sehen, dass Sprechen, die Freiheit eurer Glieder, um euren Eid zu bekräftigen? Fordert Gott nicht heraus! Er könnte euch beim Wort nehmen und eure Augen austrocknen lassen, wie er eure Obstgärten verdorren lassen, euch eure Kinder entreißen und eure Häuser in Schutt verwandeln kann, um euch daran zu erinnern, dass er der Herr ist und ihr die Untertanen seid, und dass verflucht ist, wer sich selbst zum Gott macht, wer sich über Gott stellt und ihn mit seiner Lüge herausfordert.

Eure Rede sei: „Ja, ja“ und „nein, nein“ «Nicht mehr. Was darüber ist, flüstert euch der Böse ein, um dann über euch zu lachen, wenn ihr, da ihr euch nicht an alles erinnern könnt, zur Lüge gezwungen seid und als Lügner entlarvt und verspottet werdet. Aufrichtigkeit, Kinder, im Reden und im Beten!

Macht es nicht wie die Heuchler, die sich beim Beten in den Synagogen oder an den Ecken der Plätze den Menschen zur Schau stellen, um als fromme und gerechte Menschen gepriesen zu werden, während sie sich an ihrer Familie, an Gott und am Nächsten versündigen. Versteht ihr nicht, dass dies einem Meineid gleichkommt? Warum wollt ihr auf einer Unwahrheit bestehen wenn nicht um euch eine Achtung zu verschaffen, die ihr nicht verdient? Das heuchlerische Gebet soll sagen: „Wahrlich, ich bin ein Gerechter. Ich schwöre es vor den Augen aller, die mich sehen und nicht leugnen können, dass sie mich beten sehen.“ Mit dem Schleier, den ihr über eure Bosheit breitet, wird ein in solcher Absicht verrichtetes Gebet zur Gotteslästerung.

Überlaßt es Gott, euch für gerecht zu erklären, und handelt so, dass euer ganzes Leben für euch zeuge: „Seht, da ist ein Diener des Herrn.“ Doch ihr selbst, ihr sollt schweigen, zu eurem eigenen Nutzen. Macht eure Zunge, die vom Hochmut bewegt wird, nicht zum Gegenstand des Ärgernisses in den Augen der Engel. Besser wäre es, ihr würdet augenblicklich stumm, wenn ihr nicht die Kraft besitzt, dem Hochmut und der Zunge zu gebieten, die euch als gerecht und Gott wohlgefällig verkünden. Überlaßt den Hoffärtigen und den Heuchlern diese armselige Ehre! Laßt den Stolzen und den Falschen diese hinfällige Belohnung! Armselige Vergeltung! Doch diese wollen sie, und eine andere werden sie nicht erhalten; denn mehr als eine steht niemand zu. Entweder die wahre, gerechte und ewige des Himmels, oder die unechte dieser Welt, die nur so lange währt wie ein Menschenleben, vielleicht auch kürzer, und die dann im anderen Leben, weil sie ungerecht war, mit einer beschämenden Strafe gebüßt werden muss.

Hört, wie ihr beten sollt: sowohl mit der Zunge als auch mit der Arbeit und mit euerem ganzen Sein, aus Antrieb des Herzens, dass Gott liebt und in ihm den Vater erkennt und das euch stets bedenken läßt, wer der Schöpfer und was das Geschöpf ist. Dann steht der Mensch stets in ehrfurchtsvoller Liebe vor dem Angesicht Gottes, ob er nun betet oder arbeitet oder unterwegs ist, ob er sich ausruht, seinen Lebensunterhalt verdient oder Wohltaten spendet. Aus einem inneren Antrieb des Herzens, habe ich gesagt. Dies ist die erste und wesentliche Eigenschaft, denn alles kommt aus dem Herzen und wie das Herz ist, so ist der Geist, dass Wort, der Blick und das Handeln eines Menschen.

Der Gerechte schöpft aus seinem gerechten Herzen das Gute, und je mehr er daraus schöpft, desto mehr findet er; denn was er Gutes getan hat, erzeugt aufs neue Gutes, so wie das Blut, dass sich im Kreislauf durch die Adern erneuert und, angereichert mit neuen Stoffen aus Luft und Nahrung, zum Herzen zurückkehrt. Der entartete Mensch hingegen kann aus seinem finstersten Herzen voller Trug und Gift nur Trug und Gift schöpfen, und wie sich bei ihm Trug und Gift durch die zunehmenden Sünden mehren, so vermehrt sich beim guten Menschen die Gnade Gottes. Glaubt nur, wovon das Herz des Menschen voll ist, davon fließt der Mund über, und in seinen Werken findet es seinen Ausdruck.

Schafft euch ein demütiges und reines Herz, voll Liebe, Vertrauen und Aufrichtigkeit. Liebt Gott mit der scheuen Liebe, die eine Jungfrau für ihren Bräutigam empfindet. Wahrlich, ich sage euch, jede Seele ist eine Jungfrau, vermählt mit dem ewig Liebenden, unserem Herrn und Gott. Dieses irdische Leben ist die Zeit der Verlobung und der Engel, der jedem Menschen als Beschützer gegeben wurde, der geistige Brautführer. Alle Stunden des Lebens und jede Begebenheit sind ebenso viele Mägde, die die hochzeitliche Ausstattung vorbereiten. Die Stunde des Todes ist die Stunde der mit Gott vollzogenen Vermählung, danach kommt die Erkenntnis, die Umarmung und die Vereinigung. Angetan mit dem Hochzeitsgewand, kann nunmehr die mit Gott vermählte Seele ihren Schleier abnehmen und sich in die Arme Gottes werfen, und niemand kann an dieser Liebe zum Bräutigam Anstoß nehmen.

Doch zur Stunde, ihr Seelen, da sich eure Hingabe an Gott noch im Opfer der Verlobungsbande vollzieht, begeht euch, um mit Gott, dem Bräutigam zu sprechen, in die friedliche Stille eurer Wohnung, besonders aber in die friedliche Wohnung des Herzens und sprecht als Engel im Fleisch, die ihr stets euren Schutzengel zur Seite habt, zum König der Engel. Sprecht zu eurem Vater in der Verborgenheit eures Herzens und eurer inneren Kammer und laßt alles weltliche draußen, sowohl den Drang, bemerkt zu werden und erbaulich zu wirken, als auch die Bedenken, ob lange wortreiche Gebete mit vielen lauen und schalen Worten der Liebe. O nein, nichts von alledem! Befreit euch davon, im Gebet Maßstäbe anzusetzen. Tatsächlich gibt es Menschen, die Stunde um Stunde in einem sich wiederholenden Monolog, einem bloßen Lippen- und Selbstgespräch verschwenden, denn nicht einmal der Schutzengel hört zu. Er versucht, dass leere Geplapper wieder gutzumachen, indem er sich selbst, anstelle seines törichten Schützlings, in ein glühendes Gebet versenkt.

Es gibt wahrlich solche, die diese Stunden nicht anders verbringen würden, auch wenn ihnen Gott persönlich erschiene und sagte: „Das Heil der Welt hängt davon ab, dass du diese seelenlose Art zu beten aufgibst, um vielleicht einfach an einem Brunnen Wasser zu schöpfen und damit aus Liebe zu mir und deinem Mitmenschen die Erde zu begießen.“ In Wahrheit, es gibt Leute, die ihr Selbstgespräch höher einschätzen als die Höflichkeitspflicht, einen Besucher zu empfangen oder in Nächstenliebe einem Notleidenden zu helfen. Es sind Seelen, die dem Götzendienst des Gebets verfallen sind.

Das Gebet ist ein Akt der Liebe. Und lieben kann man, wenn man betet und wenn man Brot bäckt, wenn man betrachtet, wenn man einem Gebrechlichen beisteht, wenn man zum Tempel pilgert, wenn man sich der Familie widmet, wenn man ein Lämmlein darbringt, oder wenn man, um sich im Herrn zu sammeln, die eigenen selbstgerechten Wünsche opfert. Es genügt, dass man sein ganzes Sein und alles, was man tut, in Liebe kleidet. Habt keine Angst! Der Vater sieht euch. Der Vater versteht euch. Der Vater hört euch an. Der Vater gibt euch. Wieviel Gnaden werden schon für einen einzigen, wahrhaftigen, vollkommenen Liebesseufzer gewährt! Welche Fülle für ein geheimes, mit Liebe dargebrachtes Opfer! Seid nicht wie die Heiden. Gott hat es nicht nötig, dass ihr ihm sagt, was er tun und geben soll, um euch zu helfen. Das können die Heiden ihren Götzen sagen, die nichts verstehen, nicht aber ihr eurem Gott, dem wahren, geistigen Gott, der nicht nur Gott und König, sondern auch euer Vater ist und weiß, was ihr braucht, noch bevor ihr ihn darum bittet.

Bittet, und ihr werdet empfangen, sucht, und ihr werdet finden, klopft an, und es wird euch aufgetan. Denn wer bittet, empfängt, wer sucht, der findet und wer anklopft, dem wird aufgetan. Wenn eines eurer Kinder das Händchen hinhält und sagt: „Vater, ich habe Hunger“, gebt ihr ihm dann vielleicht einen Stein? Gebt ihr ihm eine Schlange, wenn es euch um einen Fisch bittet? Nein, im Gegenteil, ihr gebt ihm Brot, Fisch und noch mehr: Liebkosung und Segen; denn für einen Vater ist es wunderbar, sein Geschöpf zu ernähren und sein glückliches Lächeln sehen zu können. Wenn ihr also trotz eures unvollkommenen Herzens euren Kindern aus natürlicher Liebe heraus gute Gaben zu geben wißt, wie auch das Tier mit seiner Brut es tut, wieviel mehr wird euer Vater, der im Himmel ist, denen geben, die ihn um gute und ihrem Wohl zuträgliche Dinge bitten. Habt keine Angst zu bitten, und fürchtet nicht, dass Erbetene nicht zu erhalten.

Jedoch – hier muss ich euch vor einem Irrtum warnen, dem man leicht verfallen kann – macht es nicht wie die Schwachen im Glauben und in der Liebe, die Heiden der wahren Religion – denn auch unter den Gläubigen gibt es Heiden, deren armseliger Glaube ein Gewirr von Aberglauben und wahrem Glauben, ein heruntergekommenes Gebäude ist, in dessen Mauerrissen sich Unkraut und Schmarotzerpflanzen jeglicher Art eingenistet haben, so dass die Mauer abzubröckeln beginnt und später in Verfall gerät – deren Glauben zu schwinden beginnt, wenn sie sehen, dass sie nicht erhört werden.

Ihr bittet, und ihr findet es richtig zu bitten. In diesem Augenblick wäre es in der Tat nicht ungerecht, euch die erbetene Gnade zu gewähren. Doch das Leben ist in diesem Augenblick noch nicht zu Ende, und was heute gut sein mag, kann morgen schlecht sein. Ihr könnt dies nicht wissen, denn ihr kennt nur die Gegenwart, und das ist schon eine Gnade Gottes. Doch Gott kennt auch die Zukunft, und um euch ein noch größeres Leid zu ersparen, läßt er oft ein Gebet unerhört. In diesem Jahre meines öffentlichen Lebens habe ich mehr als einmal in den Herzen ein Seufzen vernommen: „Wie sehr habe ich damals gelitten, als Gott mich nicht erhört hat.“ Doch nun sage ich: „Es war gut so, denn jene Gnade hätte mich daran gehindert, jetzt zu Gott zu kommen.“ Andere habe ich sagen und mir sagen gehört: „Warum, Herr, erhörst du mich nicht? Alle erhörst du, nur mich nicht“, und obwohl es mich schmerzte, sie leiden zu sehen, musste ich antworten: „Ich kann nicht“, denn die Erhörung wäre ein Hindernis für ihren Höhenflug zur Vollkommenheit gewesen.

Auch der Vater sagt manchmal: „Ich kann nicht.“ Nicht, weil er nicht augenblicklich eingreifen könnte, sondern er will die Bitte nicht erfüllen, weil er die sich daraus ergebenden Folgen für die Zukunft kennt. Hört: Ein Kind hat kranke Eingeweide. Die Mutter ruft den Arzt, und dieser sagt: „Um es zu heilen ist absolutes Fasten nötig.“ Das Kind weint, schreit, bettelt und scheint vor Hunger zu sterben. Die wie immer mitleidsvolle Mutter vereinigt ihre Klagen mit denen des Kindes. Das totale Verbot des Arztes scheint ihr zu hart zu sein. Sie meint, dem Kind könnte das Fasten und das Weinen schaden. Doch der Arzt bleibt unerbittlich und sagt schließlich: „Frau, ich weiß, um was es geht, du weißt es nicht. Willst du dein Kind verlieren oder willst du, dass ich es dir rette?“ Die Mutter schreit: „Ich will, dass es lebt.“ „Dann“, sagt der Arzt, „kann ich keine Nahrung erlauben. Es wäre sein Tod.“ Auch der Vater spricht manchmal so. Ihr Mütter, die ihr euer Ich bemitleidet, wollt nicht hören, dass es einer verweigerten Gunst wegen weint. Doch Gott sagt: „Ich kann nicht. Es wäre zu deinem Übel.“ So kommt der Tag oder die Ewigkeit, wo man sich schließlich sagen muss: „Danke, mein Gott, dass du meine törichte Bitte nicht erhört hast.“

Was ich euch über das Gebet gesagt habe, gilt auch für das Fasten. Wenn ihr fastet, dann setzt keine trübsinnige Miene auf, wie es die Heuchler tun, die kunstvoll das Gesicht verziehen, damit die Leute wissen und glauben, dass sie fasten, auch wenn es nicht wahr ist. Auch sie haben mit dem Lob der Welt ihren Lohn schon empfangen und einen anderen werden sie nicht erhalten. Ihr aber, wenn ihr fastet, nehmt eine heitere Miene an, wascht euch öfters das Gesicht, damit es sauber und frisch erscheint, salbt euch den Bart, parfümiert euer Haar und lächelt mit der Zufriedenheit des Wohlgenährten. Oh, wahrlich, es gibt keine Speise, die so sehr erquickt wie die Liebe. Wer im Geist der Liebe fastet, der nährt sich mit Liebe. Wahrlich, ich sage euch, wenn die Welt euch auch „eitel“ und „Zöllner“ nennt: euer Vater kennt euer heldenmütiges Geheimnis und wird es euch doppelt vergelten. Er wird euch belohnen für das Fasten, und auch dafür, dass ihr deshalb nicht gerühmt worden seid.

Nun gehet hin und gebt dem Körper Nahrung, nachdem die Seele gespeist worden ist. Diese beiden armen Leute sollen bei uns bleiben. Sie werden unsere gesegneten Gäste sein, die unserem Brot den Wohlgeschmack verleihen. Der Friede sei mit euch.»

Die beiden armen Leute bleiben. Es handelt sich um eine hagere Frau und einen sehr alten Mann. Doch sie gehören nicht zusammen. Der Zufall hat sie zusammengeführt. Sie waren beschämt in einer Ecke zurückgeblieben und hatten allen vergeblich die Hand entgegengestreckt, die an ihnen vorübergingen.

Jesus schreitet direkt auf sie zu, da sie nicht wagen, ihm entgegenzugehen, nimmt sie bei der Hand und führt sie mitten in die Schar der Jünger unter eine Art Zelt, dass Petrus etwas abseits errichtet hat. Dort nächtigen die Jünger anscheinend und halten sich in den wärmsten Stunden des Tages auf. Das Dach besteht nur aus Reisern und... Mänteln. Doch die Behausung dient ihrem Zweck, auch wenn sie so niedrig ist, dass Jesus und Judas Iskariot, als die größten, sich bücken müssen um einzutreten.

«Hier ist ein Vater und hier ist eine Schwester. Bringt herbei, was wir haben. Während wir die Mahlzeit einnehmen, wollen wir uns ihre Geschichte anhören.» Jesus bedient die beiden Beschämten persönlich und hört sich ihren jammervollen Bericht an. Der alte Mann ist allein geblieben, als seine Tochter mit ihrem Manne weit fortgezogen ist und den Vater zurückgelassen und vergessen hat. Auch die Frau ist allein, seitdem das Fieber ihren Mann hinweggerafft hat, und sie ist außerdem noch krank.

«Die Leute verachten uns, weil wir arm sind», sagt der alte Mann. «Ich gehe betteln, um etwas beiseite zu legen, damit ich das Paschafest halten kann. Ich bin achtzig Jahre alt, immer habe ich das Pascha (jüdische Osterfest) gehalten und es könnte das letzte Mal sein. Aber ich will ohne Gewissensbisse in Abrahams Schoß eingehen. So wie ich meiner Tochter verzeihe, hoffe ich, Verzeihung zu erlangen, und ich will mein Pascha halten.»

«Der Weg ist lang, Vater.»

«Noch länger ist der zum Himmel, wenn man den Feierlichkeiten des Festes fernbleibt.»

«Gehst du allein? Wenn du dich aber unterwegs übel fühlen solltest?»

«Der Engel Gottes wird mir meine Lider schließen.»

Jesus streichelt das zitternde, weiße Haupt und fragt dann die Frau: «Was machst du?»

«Ich bin auf der Suche nach Arbeit. Wäre ich besser genährt, so würde ich vom Fieber genesen, und wäre ich geheilt, könnte ich auch auf den Feldern arbeiten.»

«Glaubst du, dass allein die Nahrung dich heilen würde?»

«Nein, auch du bist da... Doch ich bin ein armes Ding, ein zu armes Ding, als dass ich um Barmherzigkeit bitten dürfte!»

«Wenn ich dich heilen würde, was wünschtest du dann?»

«Nichts mehr. Ich hätte dann schon mehr, als ich zu hoffen wage.»

Jesus lächelt und reicht ihr ein Stück Brot, dass er zuvor in etwas Essigwasser getaucht hat, dass als Getränk dient. Die Frau ißt es ohne zu sprechen, und Jesus lächelt immer noch.

Die Mahlzeit ist rasch beendet, sie war ja so karg. Die Apostel und die Jünger gehen zu den Abhängen auf die Suche nach einem schattigen Platz zwischen den Büschen. Jesus bleibt im Zelt.

Der Greis hat sich an die überwachsene Felswand gesetzt und ist erschöpft eingeschlafen.

Nach einer Weile kommt die Frau, die sich ebenfalls auf der Suche nach Schatten und Ruhe entfernt hatte, zurück und geht zaghaft auf Jesus zu. Jesus lächelt ihr zu, um sie zu ermutigen. Sie kommt scheu, doch glücklich näher, fast bis zum Zelt. Dann ist die Freude stärker als die Schüchternheit, und sie macht eilig die letzten Schritte und fällt vor Jesus nieder mit dem gedämpften Rufe: «Du hast mich geheilt. Gepriesen seist du! Es ist die Zeit meines starken Schüttelfrostes, und ich habe ihn nicht mehr... Oh!» und sie küßt Jesus die Füße.

«Bist du sicher, geheilt zu sein? Ich habe es dir nicht gesagt. Es könnte ein Zufall sein...»

«O nein! Nun habe ich dein Lächeln verstanden, mit dem du mir das Brot gegeben hast. Deine Kraft ist mit jedem Bissen in mich eingeströmt. Ich habe nichts, mit dem ich dir dies vergelten könnte, außer meinem Herz. Befiehl deiner Dienerin, Herr, und sie wird dir bis zum Tode gehorsam sein!»

«Ja. Siehst du den Greis dort? Er ist allein, und er ist ein Gerechter. Du hattest einen Gatten, und der Tod hat ihn dir genommen. Er hatte eine Tochter, und der Egoismus hat sie ihm entrissen; das ist noch schlimmer, und doch schimpft er nicht. Aber es wäre nicht recht, wenn er seine letzten Stunden allein verbringen müßte. Sei du ihm Tochter!»

«Ja, mein Herr!»

«Aber bedenke, dass heißt, für zwei arbeiten zu müssen.»

«Ich bin jetzt stark und werde es schaffen.»

«Geh also zu dem Gebüsch dort und sag zu dem in Grau gekleideten ruhenden Mann, dass er zu mir kommen soll.»

Die Frau geht rasch zu der bezeichneten Stelle und kehrt mit Simon dem Zeloten zurück.

«Komm her, Simon. Ich muss dich etwas fragen. Warte, Frau.»

Jesus entfernt sich einige Meter.

«Glaubst du, dass es für Lazarus schwierig wäre, eine Arbeiterin mehr in seinen Dienst zu nehmen?»

«Lazarus? Ich glaube, er weiß nicht einmal, wieviel Bedienstete er hat. Einer mehr oder weniger... Aber um wen handelt es sich?»

«Um die Frau dort; ich habe sie geheilt.»

«Das genügt, Meister. Wenn du sie geheilt hast, beweist dies, dass du sie liebst, und was du liebst, ist Lazarus heilig. Ich bürge für ihn.»

«Das stimmt. Was ich liebe, ist Lazarus heilig. Das hast du gut gesagt. Deswegen wird Lazarus auch heilig werden, denn da er liebt, was ich liebe, liebt er auch die Vollkommenheit. Ich möchte jenen alten Mann dieser Frau anvertrauen, und so kann der alte Patriarch sein letztes Osterfest in Freuden begehen. Ich liebe die alten Gerechten sehr, und wenn ich ihnen einen heiteren Lebensabend bescheren kann, dann bin ich glücklich.»

«Du liebst auch die Kinder ...»

«Ja, und die Kranken...»

«Und die Betrübten...»

«Und die Alleinstehenden ...»

«Oh, mein Meister! Aber bist du dir nicht bewusst, dass du alle liebst, selbst deine Feinde?»

«Ich bin mir dessen nicht bewusst, Simon. Lieben ist meine Natur. Jetzt erwacht der Patriarch. Laß uns zu ihm gehen und ihm sagen, dass er Ostern mit einer Tochter an seiner Seite feiern wird und keinen Mangel an Brot mehr leiden muss.»

Sie kehren zum Zelt zurück, wo die Frau auf sie wartet, und gehen dann alle drei zum alten Mann, der sich gesetzt hat und seine Sandalen wieder schnürt.

«Was machst du, Vater?»

«Ich will ins Tal hinuntergehen. Ich hoffe, ein Obdach für die Nacht zu finden. Morgen werde ich auf der Straße betteln, und dann, weiter, weiter, immer weiter und, vielleicht in einem Monat, wenn ich nicht vorher sterbe, werde ich im Tempel sein.»

«Nein.»

«Soll ich es nicht tun? Warum?»

«Weil der liebe Gott es nicht will. Du wirst nicht allein gehen. Diese Frau hier wird dich begleiten. Sie wird dich an den Ort führen, den ich euch nennen werde, und wo man euch aus Liebe zu mir aufnehmen wird. Du wirst deine Ostern feiern, aber ohne Mühsal. Dein Kreuz hast du schon getragen, Vater. Lege es nun nieder und sammle dich nur in der Danksagung an deinen gütigen Gott.»

«Aber warum... ich... ich verdiene nicht so viel... Du ... eine Tochter... Mehr, als wenn du mir zwanzig Jahre schenken würdest ... und wohin, wohin schickst du mich?» Der Greis weint in seinen langen, struppigen Bart.

«Zu Lazarus des Theophilus. Ich weiß nicht, ob du ihn kennst.»

«Oh, ich bin aus dem Grenzgebiet von Syrien und erinnere mich an Theophilus. O gebenedeiter Sohn Gottes, erlaube, dass ich dich segne!»

Jesus, der sich dem alten Mann gegenüber im Gras niedergelassen hat, neigt sich wahrhaftig, um sich von ihm in feierlicher Gebärde die Hand auflegen zu lassen. Laut ertönt die tiefe Greisenstimme im alten Segensspruch: «Der Herr segne und behüte dich. Der Herr lasse sein Antlitz leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr wende dir sein Angesicht zu und gebe dir seinen Frieden.»

Jesus, Simon und die Frau antworten miteinander: «Amen.»