16.04.2016

DAS BROT, das VOM HIMMEL KOMMT (Teil 6)

nach Maria Valtorta

«Aber dieser ist ja wahnsinnig! Wer kann denn auf solche Weise leben? In unserer Religion ist es nur der Priester, der rein sein muss, um das Opfer darzubringen. Dieser hier aber will aus uns lauter Opfer seines Wahnsinns machen. Seine Lehre ist zu mühselig und diese Sprache zu hart! Wer kann sie anhören und sie verwirklichen?» flüstern mehrere Anwesende, und viele von diesen gelten bereits als seine Jünger.

Das Volk geht diskutierend weg und die Anzahl der Jünger scheint sich sehr verringert zu haben, als in der Synagoge nur noch der Meister und seine Getreuesten zurückbleiben. Ich zähle sie nicht, aber ich kann sagen, dass es grob geschätzt kaum mehr als hundert sind. Auch in den Reihen der alten Jünger, die schon im Dienste Gottes standen, muss der Abfall bedeutend gewesen sein. Unter den Übriggebliebenen sind die Apostel, der Priester Johannes und der Schriftgelehrte Johannes, Stephanus, Hermas, Timoneus, Ermastheus, Agapus, Joseph, Salomon, Abel von Bethlehem in Galiläa und Abel, der frühere Aussätzige von Chorazim mit seinem Freund Samuel, Elias (jener, der das Begräbnis seines Vaters der Nachfolge Jesu hintangestellt hatte), Philippus von Arbela, Aser und Ismael von Nazareth. Ferner sind hier noch andere, deren Namen ich nicht kenne. Sie alle reden leise miteinander und machen Bemerkungen über den Abfall der vielen und über die Worte Jesu, der nachdenklich mit verschränkten Armen dasteht und sich an ein hohes Lesepult lehnt.

«Ihr nehmt Anstoß an dem, was ich gesagt habe? Und wenn ich euch sagen würde, dass ihr eines Tages den Menschensohn zum Himmel, wo er zuvor gewesen ist, auffahren und ihn zu Rechten des Vaters sitzen sehen werdet? Was habt ihr denn bis zu dieser Stunde verstanden, aufgenommen und geglaubt? Und womit habt ihr gehört und aufgenommen? Nur mit eurer Menschheit? Der Geist ist es, der lebendig macht und Wert hat. Das Fleisch nützt zu nichts. Meine Worte sind Geist und Leben und müssen mit dem Geist angehört und verstanden werden, um durch sie das Leben zu erlangen. Aber viele sind unter euch, deren Geist abgestorben ist, weil er ohne Glaube ist. Viele von euch glauben nicht wahrhaft, und so folgen sie mir vergeblich. Sie werden nicht das ewige Leben, sondern den Tod ernten. Denn wie ich schon im Anfang gesagt habe, sind sie entweder aus Neugierde, aus menschlichem Interesse, was noch schlimmer ist, oder aus noch viel unwürdigeren Absichten hier.

Sie sind nicht vom Vater hergeführt worden als Belohnung für ihren guten Willen, sondern vom Satan. Wahrlich, niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht von meinem Vater gewährt wird. Geht nur, ihr, da es euch schwer fällt, bei mir zu bleiben und ihr euch nur schämt, mich zu verlassen; die ihr euch aber andererseits noch mehr schämt, weil ihr im Dienste eines Meisters steht, der euch „verrückt und hart“ vorkommt. Geht! Besser ist es, ihr seid weit weg, als dass ihr hier bleibt, um zu schaden!»

Viele weitere Jünger ziehen sich zurück, unter ihnen der Schriftgelehrte Johannes und Markus, der einst besessene Gerasener, der geheilt wurde, nachdem die Dämonen in Schweine gefahren waren. Die guten Jünger beraten sich und laufen hinter diesen Treubrüchigen her, um sie zurückzuhalten. In der Synagoge sind jetzt Jesus, der Synagogenvorsteher und die Apostel...

Jesus wendet sich an die Zwölf, die niedergeschlagen in einer Ecke stehen, und fragt ohne Bitterkeit und Traurigkeit, doch sehr ernst: «Wollt auch ihr gehen?»

Petrus antwortet ihm in einem schmerzlichen Ausbruch: «Herr, wohin sollen wir gehen? Zu wem? Du bist unser Leben und unsere Liebe, Nur du hast Worte des ewigen Lebens. Wir haben erkannt, dass du Christus, der Sohn Gottes, bist. Wenn du willst, jage uns fort. Aber von uns aus werden wir dich nicht verlassen, selbst... selbst, wenn du uns nicht mehr lieben würdest...» Und Petrus weint lautlos viele Tränen... Auch Andreas, Johannes und die beiden Söhne des Alphäus weinen ohne es zu verbergen, und die anderen, bleich oder rot vor Erregung weinen nicht, leiden jedoch sichtlich.

«Warum sollte ich euch fortjagen? Habe ich euch Zwölf nicht selbst erwählt? ...

Jairus hat sich klugerweise zurückgezogen, um Jesus die Freiheit zu lassen, seine Apostel zu trösten oder zu tadeln. Jesus, der den schweigenden Rückzug bemerkt hat, sagt, indem er sich bedrückt niedersetzt, als ob die Offenbarung seine Kräfte übersteigen würde, müde, angeekelt und schmerzvoll: «Und doch ist einer unter euch ein Dämon.»

Die Worte erklingen langsam und furchterregend in der Synagoge, in der nur noch das Licht der vielen Lampen Helle verbreitet... und keiner wagt etwas zu sagen. Sie schauen sich nur gegenseitig an mit furchtsamer Scheu und ängstlich forschenden Blicken, und mit noch größerer Angst prüft ein jeder sich selbst...

Eine Zeitlang rührt sich niemand. Jesus bleibt allein auf seinem Platz' die Hände auf den Knien gefaltet, mit niedergeschlagenem Blick. Schließlich erhebt er seine Augen und sagt: «Kommt. Ich bin doch kein Aussätziger! Oder haltet ihr mich für einen solchen?»

Jetzt eilt Johannes zu ihm, fällt ihm um den Hals und sagt: «Dann will ich im Aussatz mit dir sein, meine einzige Liebe. Mit dir in der Verurteilung, mit dir im Tode, wenn du glaubst, dass dies auf dich wartet ...»

Petrus kriecht zu seinen Füßen hin, nimmt sie, stellt sie auf seine Schultern und seufzt: «Hier, tritt mich, zertritt mich! Aber lasse mich nicht denken, dass du deinem Simon mißtraust.»

Als die andern sehen, dass Jesus die beiden ersten liebkost, gehen sie auf ihn zu und küssen sein Gewand, seine Hände, sein Haar... Nur Iskariot wagt es, sein Antlitz zu küssen.

Jesus springt auf und schiebt ihn weg. Diese Gebärde mutet barsch an, weil sie ganz unerwartet geschieht. Er sagt: «Laßt uns nach Hause gehen, und morgen Abend, wenn es dunkelt, werden wir mit den Booten nach Hippos fahren.»