16.05.2016

DAS GESPRÄCH MIT NIKODEMUS

nach Maria Valtorta

«Ich hätte nicht reden sollen!» Nikodemus ist niedergeschlagen.

«Nein. Warte und überzeuge dich!», und Jesus öffnet eine Türe und ruft: «Simon, Johannes, kommt zu mir!»

Die beiden eilen herbei.

«Simon, wiederhole Nikodemus, was ich dir vor seinem Eintreten gesagt habe.»

«Daß für die Demütigen Hirten genügen, für die Mächtigen Lazarus, Nikodemus, Joseph und Chuza, und dass du dich zurückziehen willst, fern von Jerusalem, jedoch ohne Judäa aufzugeben. Das hast du gesagt. Warum läßt du es mich wiederholen? Was ist vorgefallen?»

«Nichts. Nikodemus befürchtete, ich wolle seiner Worte wegen gehen.»

«Ich habe dem Meister gesagt, dass ihm das Synedrium immer feindlicher gesinnt ist und dass es gut wäre, wenn er sich unter den Schutz des Lazarus stellen würde. Er hat deine Güter geschützt, denn Rom steht hinter ihm. Er würde auch Jesus beschützen.»

«Das ist wahr. Es ist ein guter Rat. Obwohl meine Sippe auch in Rom nicht geachtet war, hat ein Wort Theophilus meinen Besitz während der Verbannung und als ich aussätzig war, bewahrt. Lazarus ist dein guter Freund, Meister.»

«Ich weiß es, doch ich habe gesprochen. Und was ich gesagt habe, dass tue ich.»

«Werden wir dich also verlieren?»

«Nein, Nikodemus. Zum Täufer gehen Menschen aller Sekten. Zu mir dürfen Menschen aller Sekten und aus allen Ständen kommen.»

«Wir kamen zu dir, da wir wissen, dass du mehr bist als Johannes!»

«Ihr könnt auch weiterhin kommen. Auch ich werde ein einsamer Lehrer wie Johannes sein und zu Scharen sprechen, die die Stimme Gottes hören wollen und fähig sind zu glauben, dass ich diese Stimme bin. Die anderen werden mich vergessen, sofern sie dazu imstande sind.»

«Meister, du bist traurig und enttäuscht. Du hast Grund dazu. Alle hören dich an und erwarten von dir Wunder. Sogar ein Höfling des Herodes, einer, der das natürliche Gutsein an diesem unzüchtigen Hofe verloren haben müßte; sogar römische Soldaten glauben an dich. Nur wir hier von Sion sind so hart... Doch nicht alle. Du siehst es. Wir wissen, Meister, dass du von Gott kommst und sein Lehrer, der größte von allen, bist. Sogar Gamaliel sagt es! Keiner kann deine Wunder wirken, wenn Gott nicht mit ihm ist. Das glauben sogar Gelehrte wie Gamaliel. Woran liegt es, dass wir nicht den Glauben haben wie die Kleinen in Israel? Oh, sage es mir genau! Bist du der Messias des Herrn? Der Erwartete? Das Wort des Vaters? Bist du Mensch geworden, um Israel dem Bunde gemäß zu belehren und zu erlösen?»

«Fragst du das aus dir selbst oder haben andere dir aufgetragen, mich danach zu fragen?»

«Aus mir, aus mir selbst, Herr! Ich bin beunruhigt. Ein Sturm ist in mir! Gegenwinde und Gegenstimmen. Warum ist in mir, dem reifen Manne, nicht die friedliche Sicherheit, die einer hat, der unbelesen und kindlich ist, die ihm das Lächeln ins Antlitz, dass Licht in die Augen und die Sonne ins Herz legt? Wie glaubst du, Johannes, um so ruhig zu sein? Lehre mich, o Sohn, dein Geheimnis; das Geheimnis, dank dessen du in Jesus, dem Nazarener, den Messias sehen und verstehen kannst.»

Johannes wird rot wie eine Erdbeere, neigt das Haupt, wie um sich zu entschuldigen, etwas so Großes zu sagen, und antwortet einfach: «Weil ich ihn liebe!»

«Weil du liebst! Und du, Simon, rechtschaffener Mann an der Schwelle des Alters, du, der du gelehrt und so schwer geprüft worden bist, dass du versucht bist, überall Täuschung zu befürchten?»

«Weil ich nachdenke.»

«Lieben! Nachdenken! Auch ich liebe und denke nach, und doch bin ich immer noch nicht sicher.»

Nun greift Jesus ein: «Ich sage dir das wahre Geheimnis. Diese haben es verstanden, aufs neue geboren zu werden, mit einem neuen Geist, der von jeder Kette frei und von jeder anderen Idee unberührt ist. Deshalb konnten sie Gott verstehen. Wenn jemand nicht wiedergeboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen und nicht an seinen König glauben.»

«Wie kann ein schon erwachsener Mensch wiedergeboren werden? Aus dem Mutterschoß ausgestoßen, kann der Mensch niemals mehr dahin zurückkehren. Meinst du etwa eine Wiedergeburt, wie sie von vielen Heiden angenommen wird? Aber nein, dass ist bei dir nicht möglich, und dann wäre es nicht ein Wiedereingehen in den Schoß, sondern eine Wiedergeburt außerhalb der Zeit. Also nicht in diesem Leben. Wie? Wie?»

«Es gibt nur ein Dasein des Fleisches auf der Erde und ein ewiges Leben im Jenseits. Jetzt spreche ich nicht von Fleisch und Blut, sondern vom unsterblichen Geist, der durch zwei Dinge zum wahren Leben wiedergeboren wird: durch das Wasser und durch den Heiligen Geist. Doch das wichtigere ist der Heilige Geist, ohne den das Wasser nichts als ein Symbol ist. Wer mit Wasser gereinigt ist, muss sich dann mit dem Heiligen Geist reinigen und durch ihn sich entzünden und leuchten, wenn er hier und im Ewigen Reiche im Schoße Gottes leben will. Denn was vom Fleische gezeugt wird, ist und bleibt Fleisch und stirbt, nachdem es ihm in seinen Begierden und Sünden gedient hat. Doch was vom Geiste gezeugt wird, ist Geist und kehrt zum Schöpfer-Geist zurück, nachdem es bis zum vollkommenen Alter den eigenen Geist empor geführt hat. Das Himmelreich wird nur von solchen bewohnt sein, die das vollkommene geistige Alter erreicht haben. Wundere dich daher nicht, wenn ich sage: „Ihr müßt aufs neue geboren werden.“ Diese hier haben es verstanden, wiedergeboren zu werden. Dieser junge Mann hat sein Fleisch abgetötet und den Geist wiedergeboren werden lassen; er hat sein Ich auf den Scheiterhaufen der Liebe gelegt. Alles, was Materie war, wurde verbrannt. Aus der Asche geht seine neue geistige Blume hervor, eine wunderbare Sonnenblume, die sich unablässig der ewigen Sonne zuwendet. Der Ältere hat die Axt der Meditation an die Wurzeln seines alten Denkens angelegt, hat den Baum entwurzelt und nur den Kern des guten Willens zurückbehalten, aus dem sein neues Denken geboren wurde. Nun liebt er Gott mit neuem Geiste und kann ihn sehen. Jeder hat seine Methode, um den Hafen zu erreichen. Jeder Wind ist gut, wenn man das Segel zu handhaben versteht. Ihr spürt den Wind wehen und müßt das Boot manövrieren und darauf achten, in welche Richtung er bläst. Doch könnt ihr nicht sagen, woher er kommt, noch herbeirufen, den ihr nötig habt. Auch der Heilige Geist ruft, kommt rufend und geht vorüber. Doch nur, wer aufmerksam ist, kann ihm folgen. Der Sohn kennt die Stimme des Vaters; der Geist kennt die Stimme des Geistes, von dem er erschaffen wurde.»

«Wie kann dies alles geschehen?»

«Du, Lehrer in Israel, fragst mich danach? Du kennst diese Dinge nicht? Man spricht von dem und bezeugt das, was man weiß und gesehen hat. So spreche ich von dem und bezeuge das, was ich weiß. Wie wirst du je Dinge annehmen können, die du nicht gesehen hast, wenn du nicht das Zeugnis annimmst, dass ich dir bringe? Wie wirst du an den Geist glauben können, wenn du nicht an das fleischgewordene Wort glaubst? Ich bin auf die Welt gekommen, um wieder zum Himmel aufzufahren und jene mitzunehmen, die hier unten sind. Einer allein ist vom Himmel herabgestiegen: der Menschensohn. Und einer allein wird zum Himmel aufsteigen mit der Macht, den Himmel zu öffnen: Ich, der Menschensohn. Denke an Moses! Er hat in der Wüste eine Schlange erhöht, um die Kranken Israels zu heilen (Ex 21,4-9). Wenn ich erhöht sein werde, dann werden diejenigen, die jetzt das Fieber der Sünde blind, taub, stumm, irr, aussätzig und krank macht, geheilt werden, und jeder, der an mich glaubt, wird ewiges Leben erlangen. Auch sie, die an mich geglaubt haben, werden dieses selige Leben haben.

Senke nicht deine Stirn, Nikodemus. Ich bin gekommen, um zu retten, nicht, um zugrunde zu richten. Gott hat seinen eingeborenen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit die Menschen dieser Welt verdammt werden, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. Auf der Welt habe ich alle möglichen Sünden angetroffen, alle Irrlehren, alle Götzendienereien. Aber kann eine Schwalbe, die schnell über dem Staube fliegt, ihr Gefieder beschmutzen? Nein! Sie zieht nur über die traurigen Straßen der Erde ein blaues Komma, bringt einen Duft aus dem Himmel, stößt einen Ruf aus, um die Menschen aufzurütteln und sie zu bewegen, den Blick vom Schlamm zu erheben und ihrem Flug zu folgen, der zum Himmel zurückführt. So ist es mit mir. Ich komme, um euch mit mir zu nehmen. Kommt! Wer an den Eingeborenen Sohn glaubt, wird nicht gerichtet. Er ist schon gerettet, denn der Sohn bittet den Vater und sagt: „Dieser liebt mich.“ Doch wer nicht glaubt, dem nützen heilige Werke nicht. Er ist schon gerichtet, denn er hat nicht an den Namen des Einen Sohnes Gottes geglaubt. Kennst du meinen Namen, Nikodemus?»

«Jesus.»

«Nein, Erlöser. Ich bin die Erlösung. Wer nicht an mich glaubt, lehnt sein Heil ab und ist von der Ewigen Gerechtigkeit gerichtet. Und das Urteil wird lauten: „Das Licht war dir gesandt worden, dir und der Welt, um für euch Rettung zu sein. Du und die anderen Menschen, ihr habt dem Licht die Finsternis vorgezogen, denn ihr habt die schlechten Werke, die euch zur Gewohnheit geworden sind, den guten Werken vorgezogen. Er hat euch diese gezeigt, damit ihr heilig werdet.“ Ihr habt das Licht gehaßt, denn die Übeltäter lieben die Finsternis für ihre Verbrechen, und ihr seid dem Lichte entflohen, damit es eure verborgenen Wunden nicht beleuchte. Das gilt nicht für dich, Nikodemus. Das ist die Wahrheit. Und die Strafe wird dem Urteil entsprechen, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft.

Was nun sie betrifft, die mich lieben und die die Wahrheiten, die ich lehre, in die Tat umsetzen und so zum zweitenmal im Geist geboren werden — das ist die echtere Geburt — sage ich dir, dass sie das Licht nicht scheuen, sondern sich ihm nähern, damit ihr Licht das Licht vermehre, von dem sie erleuchtet worden sind, in einer gegenseitigen Verherrlichung, die Gott in seinen Kindern und die Kinder im Vater beglückt.

Nein, die Kinder des Lichtes fürchten nicht, erleuchtet zu werden. Sie sagen vielmehr in ihrem Herzen und durch ihre Werke: „Nicht ich, sondern Er, der Vater, Er, der Sohn, und Er, der Heilige Geist haben in mir das Gute vollbracht! Ihnen sei Ehre in Ewigkeit.“

Und vom Himmel antwortet der ewige Hymnus der Drei Personen, die sich in vollkommener Einheit lieben: „Du seist gesegnet in Ewigkeit, wahrer Sohn unseres Willens.“ Johannes, denke an diese Worte, wenn es an der Zeit sein wird, sie niederzuschreiben...

Nikodemus, bist du nun überzeugt?»

«Ja, Meister. Wann kann ich dich wieder sprechen?»

«Lazarus wird wissen, wohin er dich führen kann. Ich werde zu ihm gehen, bevor ich mich von hier entferne.»

«Ich gehe, Meister. Segne deinen Diener!»

«Mein Friede sei mit dir!»

Nikodemus geht mit Johannes hinaus.

Jesus wendet sich an Simon: «Siehst du das Werk der Macht der Finsternis? Wie eine Spinne legt sie ihren Hinterhalt und umwickelt und fesselt den, der nicht zu sterben vermag, um als Schmetterling wiedergeboren zu werden, stark genug, dass dunkle Gewebe zu zerreißen und es zu verlassen, während er zur Erinnerung an seinen Sieg Fetzen des leichten Netzes auf den goldenen Flügeln davonträgt, wie Standarten und Oriflammen, die dem Feind entrissen worden sind. Sterben, um zu leben. Sterben, um die Kraft zum Sterben zu haben. Komm, Simon, geh zur Ruhe! Gott sei mit dir!»

Alles ist zu Ende.