26.02.2016

DAS GLEICHNIS VOM BÖSEN WINZER

nach Maria Valtorta

Jesus geht rasch zum Tor und eilt den Weg entlang, der zum Kedron, nach Gethsemane und von dort zum Lager der Galiläer führt. Unter den Ölbäumen auf dem Berg holt er Judas von Kerioth ein, der ebenfalls zum Lager hinaufeilt, dass nun in Sicht kommt.

Judas erschrickt, als er sich Jesus gegenübersieht. Jesus schaut ihn fest an, ohne ein Wort zu sagen.

«Ich habe den Aussätzigen Lebensmittel gebracht. Aber... ich habe nur zwei in Hinnom und fünf bei Siloe gefunden. Die anderen sind alle geheilt. Sie sind noch dort, aber sie sind schon so sehr geheilt, dass sie mich gebeten haben, den Priester zu benachrichtigen. Ich bin im ersten Tageslicht hinuntergegangen, um danach frei zu sein. Die Sache wird viel Aufsehen erregen. Eine so große Anzahl von Aussätzigen, die alle gleichzeitig gesund geworden sind, nachdem du sie vor den Augen so vieler gesegnet hast!»

Jesus sagt nichts. Er läßt ihn reden... Er sagt weder: «Das hast du gut gemacht», noch sonst etwas über die Handlungsweise des Judas oder das Wunder, sondern bleibt plötzlich stehen, schaut den Apostel fest an und fragt ihn: «Nun? Hat sich etwas geändert, seit ich dir Freiheit und das Geld gelassen habe?»

«Was willst du damit sagen?»

«Dies: Ich frage dich, ob du dich geheiligt hast, seit ich dir Freiheit und Geld gelassen habe. Du verstehst mich schon... Ach! Judas! Denke daran! Denke immer daran: du bist der gewesen, den ich mehr als alle anderen geliebt habe und der mir weniger Liebe als alle anderen geschenkt hat. Sogar der Haß, den du gegen mich hegst, ist größer als der Haß des gehässigsten Pharisäers, da er gegen einen gerichtet ist, der dich als seinen Freund betrachtet. Und denke auch daran: Nicht einmal jetzt hasse ich dich, sondern ich verzeihe dir, soweit es in der Macht des Menschensohnes steht. Geh nun. Es gibt nichts mehr zu sagen zwischen dir und mir. Alles ist schon getan...»

Judas möchte etwas sagen, doch Jesus gibt ihm mit einer gebieterischen Geste zu verstehen, dass er weitergehen soll... Judas neigt das Haupt wie ein Besiegter und geht weiter...

Am Rand des Lagers der Galiläer warten schon die Apostel und die beiden Diener des Lazarus.

«Wo bist du gewesen, Meister? Und du, Judas? Seid ihr beisammen gewesen?»

Jesus kommt der Antwort des Judas zuvor: «Ich hatte einigen Herzen etwas zu sagen. Judas ist zu den Aussätzigen gegangen... Aber alle bis auf sieben sind geheilt.»

«Oh, warum bist du gegangen? Ich wollte doch mitkommen!» sagt der Zelote.

«Um frei zu sein, jetzt mit uns zu gehen. Gehen wir. Wir werden die Stadt durch das Herdentor betreten. Beeilen wir uns», sagt wiederum Jesus.

Er geht allen voran durch die Ölgärten. Sie reichen vom Lager, dass beinahe auf halbem Weg zwischen Bethanien und Jerusalem liegt, bis zum anderen Brückchen über den Kedron beim Herdentor.

Bauernhäuser liegen an den Hängen verstreut, und fast ganz unten am Fluß neigt sich ein zerzauster Feigenbaum über das Wasser. Jesus begibt sich zu diesem und schaut, ob unter den breiten, üppigen Blättern reife Feigen hängen. Doch der Baum hat nur viele unnütze Blätter an den Ästen, und keine einzige Frucht. «Du bist wie viele Herzen in Israel. Du hast keine Süßigkeit für den Menschensohn und kein Erbarmen. In Ewigkeit wirst du keine Frucht mehr tragen, und niemand wird mehr von dir essen», sagt Jesus.

Die Apostel sehen einander an. Der Zorn Jesu über den unfruchtbaren, vielleicht wilden Baum, verwundert alle. Aber sie sagen nichts. Erst etwas später, als sie den Kedron überschritten haben, fragt Petrus: «Wo hast du gegessen?»

«Nirgendwo.»

«Oh, dann hast du Hunger! Sieh, dort ist ein Hirte mit einigen weidenden Ziegen. Ich werde gehen und ihn um Milch für dich bitten. Ich bin gleich wieder da.» Petrus eilt mit großen Schritten davon und kehrt bald darauf vorsichtig mit einer Schüssel voll Milch zurück.

Jesus trinkt und gibt dann dem Hirtenjungen, der Petrus begleitet hat, die Schüssel mit einer Liebkosung zurück...

Sie betreten die Stadt und gehen zum Tempel hinauf. Nachdem Jesus den Herrn angebetet hat, geht er in den Hof, in dem die Rabbis ihren Unterricht erteilen.

Die Leute umdrängen ihn, und eine Mutter, die aus Citium gekommen ist, zeigt ihm ein Kind, das, wie ich glaube, durch eine Krankheit erblindet sein muss. Seine Augen sind weiß wie bei einem grauen Star oder etwas Ähnlichem.

Jesus heilt das Kind, indem er ihm mit den Fingern über die Augen streicht. Dann beginnt er sofort zu reden:

«Ein Mann kaufte Land und legte einen Weinberg an. Er baute ein Haus für die Weingärtner, einen Turm für die Wächter, Keller und eine Kelter zum Pressen der Trauben und übergab alles den Pächtern, denen er vertraute. Dann reiste er weit fort.

Als die Zeit kam, da die Weingärten Frucht tragen sollten, da die Reben genügend gewachsen waren, sandte der Herr des Weinberges seine Diener zu den Weingärtnern, um den Ertrag der Ernte abzuholen. Aber die Winzer überfielen diese Diener, verprügelten die einen und steinigten die anderen mit großen Steinen. Viele wurden verletzt und einige sogar getötet. Jene, die lebend zu ihrem Herrn zurückkehren konnten, erzählten ihm, was geschehen war. Der Herr ließ ihre Wunden behandeln und tröstete sie. Dann schickte er noch einmal eine größere Anzahl. Und die Winzer machten es mit diesen genauso wie mit den ersten.

Darauf sagte der Herr des Weinberges: „Nun werde ich meinen Sohn zu ihnen senden. Vor meinem Erben werden sie doch Achtung haben.“

Aber als die Weingärtner ihn kommen sahen und erfuhren, dass er der Erbe war, riefen sie einander zu und sagten: „Kommt, wir wollen uns zusammentun, um viele zu sein. Schleppen wir ihn hinaus an einen weit entfernten Ort und töten wir ihn. Dann gehört sein Erbe uns.“ Sie empfingen ihn mit vorgetäuschten Ehren, umringten ihn, als ob sie ihn feiern wollten, fesselten ihn, nachdem sie ihn geküßt hatten, schlugen ihn und schleppten ihn spottend zur Richtstätte, wo sie ihn töteten.

Nun sagt mir: Was wird der Vater und Herr tun, wenn er eines Tages bemerkt, dass sein Sohn, der Erbe seines Besitzes, nicht zurückkehrt? Wenn er entdeckt, dass seine Winzer zu Mördern seines Sohnes geworden sind? Die Winzer, denen er sein fruchtbares Land überlassen hat, damit sie es in seinem Namen bestellen, in den Genuß seines Ertrages gelangen und ihrem Herrn den gerechten Anteil davon abgeben.» Jesus blitzt mit seinen wie Sonnen flammenden Saphiraugen die um ihn Versammelten an, und besonders die Gruppen der einflußreicheren Juden, der Pharisäer und der Schriftgelehrten in der Menge. Niemand spricht.

«Antwortet! Wenigstens ihr, Lehrer Israels, sagt ein Wort der Gerechtigkeit, damit sich das Volk von der Gerechtigkeit überzeugt. Ich würde eurer Meinung nach nicht das richtige Wort sagen. So redet also ihr, damit das Volk nicht im Irrtum bleibt.»

Die Schriftgelehrten antworten nun gezwungenermaßen so: «Er wird die Frevler schwer bestrafen, sie auf grausame Art töten und den Weinberg anderen Winzern geben, die ihn gewissenhaft verwalten und dem Eigentümer seinen Anteil abliefern.»

«Ihr habt gut gesprochen. So steht es in der Schrift: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Durch den Herrn ist dies geschehen: ein Wunder vor unseren Augen.“ Weil dies geschrieben steht und ihr es wißt und für gerecht haltet, dass die Mörder des Sohnes und Erben streng bestraft werden und der Weinberg anderen Winzern übergeben wird, die ihn gewissenhaft bebauen, sage ich euch: „Das Reich Gottes wird euch genommen und einem Volk gegeben werden, dass seine Früchte bringt. Und jeder, der gegen diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; auf wen er aber fällt, den wird er zermalmen.“»

Die Oberen der Priester, die Pharisäer und die Schriftgelehrten reagieren mit heroischer Selbstbeherrschung. Soviel bringt der Wille, einen Zweck zu erreichen, fertig! Um geringer Dinge willen haben sie ihn oft angefeindet, und heute, da ihnen der Herr Jesus offen sagt, dass ihnen die Macht genommen werden wird, schmähen sie ihn nicht, greifen ihn nicht an, bedrohen ihn nicht, sondern spielen die geduldigen Lämmer und verbergen ihr unverbesserliches Wolfsherz scheinheilig unter dem Pelz der Sanftmut.

Sie beschränken sich darauf, immer in seiner Nähe zu bleiben, denn er geht nun wieder auf und ab und hört diesen und jenen unter den vielen Pilgern an, die sich in dem großen Hof versammelt haben. Viele bitten ihn um Rat in Dingen der Seele, in familiären oder zwischenmenschlichen Angelegenheiten, und andere warten darauf, mit ihm sprechen zu können. Sie hören ihm zu, wie er in einer schwierigen Erbschaftsfrage urteilt, die Haß und Zwietracht unter den verschiedenen Erben stiftet. Denn der Vater hatte mit einer Magd des Hauses einen später adoptierten Sohn, aber die ehelichen Söhne wollen ihn weder bei sich haben noch als Miterben bei der Teilung der Häuser und Grundstücke. Vielmehr wollen sie mit dem Bastard nichts mehr zu tun haben und wissen nun nicht, wie das Problem zu lösen ist. Der Vater hat sie nämlich vor seinem Tod schwören lassen, dass sie, so wie er immer das Brot zwischen den ehelichen Söhnen und dem unehelichen geteilt hat, dass Erbe gleichmäßig mit ihm teilen werden.

Jesus sagt zu dem Mann, der ihn im Namen der anderen Brüder fragt: «Verzichtet alle auf ein Stück Land und verkauft es, so dass es den Geldwert eines Fünftels der ganzen Erbschaft ergibt. Gebt es dem Unehelichen mit den Worten: „Hier ist dein Teil. Du bist nicht um das deine gekommen, und wir haben den Willen unseres Vaters erfüllt. Geh, und Gott sei mit dir.“ Seid großzügig im Geben, gebt eher mehr als den genauen Wert seines Anteils. Und tut es vor gerechten Zeugen, dann wird niemand auf Erden und im Jenseits euch tadeln und Ärgernis nehmen können; dann werdet ihr Frieden in euch und untereinander haben, denn ihr werdet euch nicht vorwerfen müssen, dem Vater ungehorsam gewesen zu sein, und ihr werdet den nicht mehr unter euch haben, der, obwohl unschuldig, euch stärker beunruhigt als ein Dieb.»

Der Mann sagt: «Der Bastard hat wahrlich unserer Familie den Frieden und unserer Mutter die Gesundheit geraubt, so dass sie vor Leid gestorben ist. Er hat einen Platz eingenommen, der ihm nicht zusteht.»

«Nicht er ist der Schuldige, sondern der, der ihn gezeugt hat. Er hat nicht danach verlangt, geboren zu werden und das Mal eines Bastards zu tragen. Die Gier eures Vaters hat ihn gezeugt und ihm und euch Schmerz bereitet. Seid deshalb gerecht mit dem Unschuldigen, der schon schwer genug für eine Schuld bezahlt, die nicht die seine ist. Verflucht nicht die Seele eures Vaters. Gott hat ihn gerichtet. Die Blitze eurer Verwünschungen sind nicht nötig. Ehrt den Vater immer, auch wenn er schuldig ist. Nicht seinetwegen, sondern weil er auf Erden euren Gott vertritt. Er hat euch gezeugt nach der Weisung Gottes, und er ist der Herr eures Hauses. Die Eltern kommen gleich nach Gott. Denke an die Zehn Gebote. Und sündige nicht. Geh in Frieden.»