03.06.2016

DAS GLEICHNIS VOM VERLORENEN SCHAF

nach Maria Valtorta

Jesus spricht zur Menge. Er steht am bewaldeten Ufer eines Baches vor einer Volksmenge, die sich auf einem abgemähten Acker, der mit seinen verbrannten Stoppeln einen traurigen Eindruck macht, versammelt hat.

Es ist Abend. Die Dämmerung beginnt, und der Mond geht auf. Es ist ein schöner, klarer, frühsommerlicher Abend. Herden kehren zu ihren Ställen zurück, und das Gebimmel der Glocken vermischt sich mit dem Zirpen der Grillen oder Zikaden, ein lautes: gri, gri! ...

Jesus nimmt eine vorbeiziehende Schafherde zum Thema seiner Predigt. Er sagt: «Euer Vater ist wie ein guter Hirte. Was tut der gute Hirte? Er sucht die guten Weideplätze für seine Schäflein, wo es keine

schädlichen und giftigen Pflanzen gibt, wohl aber süßen Klee, duftende Minze und bittere, aber heilsame Kräuter. Er sucht einen Platz, wo es außer genügender Nahrung auch kühles und reines Wasser und schattenspendende Bäume gibt, und wo sich keine Vipern und Schlangen im Grün der Schollen verbergen. Er gibt nicht immer den saftigsten Weiden den Vorzug, weil er weiß, dass es dort zuweilen auch Vipern und giftige Kräuter gibt. Er zieht die gebirgige Weide vor, wo der Tau das Gras rein und frisch erhält, aber die Sonne die Reptilien fernhält; wo die Luft rein und bewegt ist und nicht so schwer und ungesund wie die in der Ebene. Der gute Hirte beobachtet jedes einzelne seiner Schäflein. Er pflegt sie, wenn sie erkranken, und heilt ihre Wunden. Jene, die wegen allzu großer Gefräßigkeit krank werden könnten, ruft er zu sich, und andere, die zu lange in der Nässe oder der prallen Sonne verweilen, treibt er anderswo hin. Wenn ein Schaf wenig Appetit hat, sucht er diesen mit bitteren, aromatischen Kräutern anzuregen. Er streckt ihm die Kräuter mit der Hand entgegen, unter gutem Zureden, wie wenn es sich um einen Menschen handle.

So macht es auch der gute Vater im Himmel mit seinen auf der Erde irrenden Kindern. Seine Liebe ist der Stab, der sie sammelt, seine Stimme ist die Führung, seine Weideplätze sind sein Gesetz, und sein Schafstall ist der Himmel.

Manchmal aber läuft ein Schäflein fort. Er hatte es sehr lieb! Es war jung, rein, schön und weiß wie eine Wolke am Frühlingshimmel. Der Hirte hat ihm immer liebevolle Blicke zugeworfen und ist stets darauf bedacht gewesen, es ihm an nichts fehlen zu lassen, damit es seine Liebe erwidere. Aber das Schäflein läuft davon.

Auf dem Weg am Rand der Weide hat sich ein Versucher herangemacht. Er trägt keinen einfachen Hirtenkittel, sondern ein vielfarbiges Gewand. Er hat nicht den ledernen Gürtel mit der kleinen Axt und dem herunterhängenden Messer, sondern einen goldenen Gürtel, an dem silberne Glöcklein hängen, die wie Lerchenstimmen klingen, und Gefäße mit berauschenden Essenzen... Er trägt nicht den Krummstab, mit dem der gute Hirte die Schäflein sammelt und verteidigt; und wenn der Krummstab nicht genügt, ist er bereit, sie mit Axt und Messer und auch mit dem Leben zu verteidigen. Dieser Verführer, der vorübergeht, hat in der Hand ein mit Perlen besetztes Rauchfaß, aus dem ein betörender Rauch, der gleichzeitig Duft und Gestank ist, aufsteigt, während das Glitzern der Schmuckstücke, unechter Schmuckstücke, die Augen blendet. Er geht singend daher und streut Salz aus, dass auf der dunklen Straße glitzert.

Neunundneunzig Schafe schauen ihn an und bleiben wo sie sind.

Das hundertste, dass jüngste, dass Lieblingsschaf, macht einen Sprung und verschwindet hinter dem Verführer. Der Hirte ruft nach ihm, aber es kehrt nicht zurück. Es läuft rascher als der Wind, um den Vorübergegangenen einzuholen; um sich beim Laufen zu stärken, kostet es von dem Salz, schlingt es in sich hinein und verspürt darauf ein Brennen und ein fremdartiges Gefühl, dass es verführt, nach dem tiefen Wasser im Dunkel des Waldes zu lechzen. Und in der Wildnis verliert es sich, immer hinter dem Verführer herlaufend; es fällt, steht auf, fällt wieder... Ein-, zwei-, dreimal fühlt es an seinem Hals die Umarmung von Schlangen, und in seinem Durst trinkt es schmutziges Wasser, und da es hungrig ist, frißt es ekelerregende Blätter und Kräuter.

Was tut indessen der gute Hirte? Er bringt die neunundneunzig Schafe in Sicherheit; dann macht er sich auf den Weg und sucht solange, bis er Spuren des verlorenen Schäfleins gefunden hat. Da dieses nicht zu ihm zurückkehrt und seine Einladung in den Wind schlägt, geht er zu ihm. Und er sieht es von weitem, trunken vom Geifer der Schlangen, so trunken, dass es keine Sehnsucht nach dem geliebten Antlitz verspürt, sondern darüber spottet. Und es fühlt sich schuldbewußt, gleichsam als Dieb, der in eine fremde Wohnung eingedrungen ist, so schuldbewußt, dass es keinen Mut mehr hat aufzuschauen... Aber der Hirte wird nicht müde... Er geht weiter, sucht und sucht und folgt ihm. Er findet seine Spur. Weinend sieht er auf den Spuren des verlorenen Schäfleins Wollfetzen: Fetzen der Seele; Blutspuren; verschiedene Vergehen; Schmutz: Beweis seiner Wollust. Er geht weiter und holt es ein.

Ah! Ich habe dich gefunden, geliebtes Schäflein. Ich habe dich eingeholt! Wie weit bin ich deinetwegen gelaufen, um dich in den Schafstall zurückzuholen! Neige nicht beschämt den Kopf. Deine Sünde ist in meinem Herzen begraben. Niemand außer mir, der ich dich liebe, wird es erfahren. Ich werde dich verteidigen vor fremder Kritik. Ich werde dich mit meiner Person decken und dir ein Schild sein gegen die Steinwürfe der Ankläger. Komm! Bist du verwundet? Oh, zeige mir deine Wunden. Ich kenne sie. Aber ich möchte, dass du sie mir zeigst mit dem Vertrauen, dass du hattest, als du noch rein warst und mich, deinen Hirten und Gott, mit unschuldigen Augen ansahst. Sieh, da sind sie. Sie haben alle einen Namen. Wie traurig sie doch sind! Wer hat dir so tiefe Wunden im Grunde deines Herzens geschlagen? Der Versucher, ich weiß es! Er, der keinen Hirtenstab und keine Axt hat, aber dessen vergifteter Biß in die Tiefe dringt. Und hinter ihm stachen dir die falschen Edelsteine seines Weihrauchfasses in die Augen: Sie haben dich verführt mit ihrem Glitzern... Aber es war nur Höllenschwefel, der ans Licht gezogen wurde, um dir das Herz zu verbrennen. Schau, wie viele Wunden! Welch zerrissenes Fell, wieviel Blut, wie viele Dornen!

O arme, kleine, enttäuschte Seele! Aber sage mir: wenn ich dir verzeihe, wirst du mich dann wieder lieben? Sage mir: wenn ich die Arme nach dir ausstrecke, wirst du dann herbeieilen? Sage mir: hast du nicht Durst nach echter, guter Liebe? Nun, komm und werde wieder neu geboren. Kehre auf die heiligen Weiden zurück. Weine! Deine Tränen, mit den meinen vermischt, waschen die Spuren deiner Sünde ab, und ich will dir meine Brust und meine Venen öffnen, weil du vom Übel, dass dich verbrannt hat, aufgezehrt bist, und ich sage zu dir: „Nähre dich und lebe.“

Komm, dass ich dich in meine Arme nehme. Wir werden schnell auf heilige und sichere Weiden gehen. Du wirst alles von dieser Stunde der Verzweiflung vergessen. Und die neunundneunzig Schwestern, die guten, sie werden jubeln bei deiner Rückkehr; denn ich sage dir, mein verirrtes Schäflein, dass ich dich, von weither kommend, gesucht, eingeholt und gerettet habe; man feiert mehr ein verlorenes Schaf, dass zurückkehrt, als die neunundneunzig Gerechten, die sich nie vom Schafstall entfernt haben.»

Jesus hat sich nie umgedreht, um auf den Weg zu blicken in seinem Rücken, auf dem im abendlichen Dämmerschein Maria von Magdala dahergekommen ist. Sie ist immer noch sehr elegant, aber wenigstens gut gekleidet, von einem dunklen Schleier bedeckt, der ihre Züge und Formen verhüllt. Und als Jesus sagt: «Ich habe dich gefunden, Geliebte», fährt Maria mit den Händen unter den Schleier und beginnt zu weinen, leise und untröstlich. Das Volk sieht sie nicht, denn sie befindet sich auf der anderen Seite der Hecke, die den Weg einsäumt. Nur der Mond, der hoch steht, und der Geist Jesu sehen sie...

Und er sagt zu mir: «Die Deutung findest du in der Vision selbst. Doch ich werde noch mit dir darüber reden. Nun ruhe dich aus! Ich segne dich, treue Maria!»

«NACH DER ERINNERUNG AN DAS GESETZ HABE ICH DIE HOFFNUNG AUF VERGEBUNG SINGEN LASSEN»

Jesus sagt:

«Seit Januar, nachdem ich dich das Abendmahl im Hause Simon des Aussätzigen sehen ließ, hast du und dein geistlicher Führer danach verlangt, mehr über Maria Magdalena und das, was ich zu ihr gesagt habe, zu erfahren. Nach sieben Monaten will ich euch heute die Seiten der Vergangenheit aufschlagen, um euch zufriedenzustellen; um allen, die sich über solche Aussätzige der Seele zu beugen haben, eine Richtschnur zu geben und die Unglücklichen, die in ihrem Grab des Lasters ersticken, herauszurufen.

Gott ist gut. Mit allen ist er gut. Er mißt nicht mit menschlichem Maße. Er macht keinen Unterschied zwischen Sünde und Todsünde. Die Sünde schmerzt ihn, um welche es sich auch immer handelt. Die Reue erfreut ihn; er ist bereit zu verzeihen. Der Widerstand gegen die Gnade macht ihn unerbittlich streng; denn die Gerechtigkeit kann dem Unbußfertigen nicht verzeihen; so stirbt er als solcher trotz aller Hilfe, die er empfangen hat, um sich zu bekehren.

Aber die verfehlten Bekehrungen sind, wenn nicht zur Hälfte, so doch zu vier Zehntel, auf die versäumten Bekehrungsversuche der dafür Bestellten, auf mangelndes Verständnis und verlogenen Eifer, verbunden mit wirklichem Egoismus und Hochmut, zurückzuführen; man zieht es vor, ruhig in seinen vier Wänden zu bleiben, anstatt durch den Schlamm zu waten, um ein Herz zu retten. „Ich bin rein. Ich bin der Achtung würdig. Ich gehe nicht dorthin, wo Schmutz ist, wo man mir die Achtung verweigert.“ Aber wer so spricht, hat das Evangelium nicht gelesen, wo geschrieben steht, dass der Sohn Gottes hinging, Zöllner und Dirnen zu bekehren, und nicht nur Rechtschaffene, die nach dem alten Gesetz lebten. Aber denkt ein solcher nicht daran, dass der Hochmut geistige Unreinheit ist, dass die Lieblosigkeit Unreinheit des Herzens ist? Wirst du beleidigt? Ich wurde es vor dir und mehr als du, und ich war der Sohn Gottes. Wird dein Gewand in den Schmutz geraten? Habe ich nicht mit meinen Händen diesen Schmutz berührt, ihm auf die Füße geholfen und gesagt: „Wandle auf diesem neuen Weg?“

Erinnert ihr euch nicht, was ich euren ersten Vorgängern sagte? „In welche Stadt, in welches Dorf ihr auch immer kommt, erkundigt euch, ob dort jemand ist, der es verdient, und dann wohnt bei ihm.“ Damit die Welt nicht murrt. Die Welt ist stets geneigt, in allen Dingen das Schlechte zu sehen. Doch ich habe hinzugefügt: „Wenn ihr in die Häuser eintretet – Häuser habe ich gesagt, nicht Haus – dann grüßt mit den Worten: 'Der Friede sei mit diesem Haus.' Wenn das Haus dessen würdig ist, dann wird der Friede über dasselbe kommen; wenn es nicht würdig ist, kommt er auf euch zurück.“ Ich möchte damit sagen: bis ihr nicht ganz sicher über die Unbußfertigkeit seid, müßt ihr für alle die gleiche Liebe haben. Und ich habe diese Unterweisung vervollständigt mit den Worten: „Und wenn euch jemand nicht aufnimmt und eure Worte nicht anhört, dann schüttelt beim Verlassen dieser Häuser oder dieser Stadt den Staub, der an euren Sohlen haftet, ab.“ Für die Guten, aus denen die ständig geübte Güte gleichsam einen Block reinsten Kristalls macht, ist die Gefahr der Unzucht nur ein Staub, den man abschütteln oder fortblasen kann, ohne dass eine Narbe zurückbleibt.

Seid wahrhaft gut, ein einziger Block mit der ewigen Güte in der Mitte, und keine Verderbnis wird euch erreichen und beschmutzen können, außer die Sohlen, die den Boden berühren. Die Seele ragt hoch darüber hinaus. Die Seele des Guten ist eins mit Gott. Die Seele ist im Himmel. Dorthin gelangt kein Staub und kein Schlamm, auch wenn er mit Hinterlist gegen den Geist des Apostels geschleudert wird.

Er kann das Fleisch verletzen, euch materiell oder moralisch verwunden, euch verfolgen oder beleidigen; denn das Böse haßt das Gute. Bin ich vielleicht nicht beleidigt worden? Bin ich nicht getroffen worden? Aber haben die Schläge, die häßlichen Worte, meinen Geist getroffen?

Haben sie ihn verwirrt? Nein! Wie Speichel auf einem Spiegel, wie ein gegen eine saftige Frucht geschleuderter Stein gleiten sie ab, ohne einzudringen; oder sie werden nur oberflächlich eindringen, ohne den im Kern verborgenen Keim zu verletzen, vielmehr das Aufkeimen fördern. Und wie das Korn stirbt, wenn es keimt, so geht es auch dem Apostel. Körperlich stirbt er wohl, tagtäglich stirbt er in metaphorischem Sinn; aber es wird nur das menschliche Ich zerbrochen. Das ist jedoch kein Tod: es ist Leben. Der Geist siegt über den Tod des Menschlichen.

Sie, die Sünderin ist zu mir gekommen aus der Launenhaftigkeit der Untätigen, die im Müßiggang nichts mit ihrer Zeit anzufangen weiß. Ihre Ohren waren nur an die Lügen und die Schmeicheleien jener gewöhnt, die ihren Sinn einlullten, um sie zur Sklavin zu haben. Nun aber vernahm sie die klare, strenge Stimme der Wahrheit. Jener Wahrheit, die sich nicht davor fürchtet, verspottet und mißverstanden zu werden. Die nur spricht, indem sie auf Gott blickt. Und wie bei einem Festgeläute alle Töne ineinanderfließen, so vereinen sich alle Stimmen in seinem Wort. Es sind Stimmen, die im Himmel, im freien Blau der Lüfte, erklingen, und sich ausbreiten über Täler und Berge, Ebenen und Seen, um an die Herrlichkeit des Herrn und seine Feste zu erinnern.

Erinnert ihr euch nicht an die doppelte Festfreude, die in Zeiten des Friedens den Tag des Herrn erfüllte? Die große Glocke gab mit ihrem tönenden Klöppel im Namen des göttlichen Gesetzes den ersten Ton an. Sie sagte: „Ich spreche im Namen Gottes, des Richters und Königs.“ Dann aber setzten die kleinen Glocken mit ihrem Harfenklang ein: „Denn er ist gut, barmherzig und geduldig“ ' bis die kleinste Glocke mit ihrer silberhellen Engelsstimme sprach: „Seine Liebe spornt euch an, Verzeihung und Mitleid zu üben, um euch zu lehren, dass die Verzeihung viel nützlicher ist als der Groll und die Barmherzigkeit besser als die Unerbittlichkeit. Kommt zu dem, der verzeiht. Habt Vertrauen auf den, der mit euch fühlt.“ Auch ich habe zuerst an das Gesetz erinnert, dass von der Sünderin mit Füßen getreten worden war; dann aber habe ich die Hoffnung auf Vergebung singen lassen.

Die Vergebung! Sie ist der Tau, der auf den Feuerbrand des Schuldigen fällt. Der Tau ist kein Hagel, der abprallt und verwundet, zerschmettert und zu Boden fällt, nicht eindringt, die Blume aber tötet. Der Tau steigt so sachte herab, dass auch die zarteste Blume nicht spürt, wenn er sich auf den Blütenblättern niederläßt. Dann aber trinkt sie die Erfrischung und erholt sich. Er läßt sich auch bei den Wurzeln auf die trockene Scholle nieder und dringt dann tiefer ein... Er ist die Feuchtigkeit der Sterne, ein liebevolles Weinen der Amme auf die durstigen Kinder, und dringt als Erquickung zusammen mit der süßen und belebenden Milch ein. Oh, die Geheimnisse der Elemente, die tätig sind, auch wenn der Mensch ruht oder sündigt!

Die Vergebung ist wie dieser Tau. Er bringt nicht nur Reinheit mit sich, sondern auch Lebenssäfte, die nicht den Elementen entnommen sind, sondern aus göttlichen Quellen stammen. Und nach dem Versprechen der Vergebung spricht die Weisheit und sagt, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, und ermahnt und rüttelt auf. Nicht mit Härte, sondern in mütterlicher Sorge, um zu retten.

Wie oft werdet ihr in eurer Härte noch undurchdringlicher und abweisender gegen die Liebe, die sich über euch neigt! ... Wie oft verlacht ihr sie! Wie oft flieht ihr sie, während sie zu euch spricht! ... Wir oft haßt ihr sie! ... Wenn die Liebe euch so behandeln würde, wie ihr es mit ihr tut, dann wehe eurer Seele! Indessen, seht! Die Liebe ist die unermüdliche Wanderin, die auf der Suche nach euch ist. Sie sucht euch sogar auf, wenn ihr euch in dunklen und schmutzigen Höhlen versteckt.

Warum wollte ich in jenes Haus gehen? Warum wirkte ich an ihr. nicht ein Wunder? Um den Aposteln zu zeigen, wie sie handeln, wie sie der Voreingenommenheit und der Kritik trotzen müssen, um eine Pflicht zu erfüllen, die so erhaben ist, dass sie über allen weltlichen Kleinigkeiten steht.

Warum habe ich Judas jene Worte gesagt? Die Apostel waren zu sehr Menschen. Alle Christen sind noch zu sehr Menschen; auch die Heiligen der Erde sind es, wenn auch in geringerem Maße. Auch in den Vollkommenen bleibt immer irgendetwas Menschliches zurück. Doch die Apostel waren noch nicht so weit. Ihre Gedanken waren noch von menschlichen Dingen erfüllt. Ich habe sie zu Höherem geführt. Aber das Gewicht ihres Menschseins hat sie immer wieder hinuntergezogen. Um sie stets weniger fallenzulassen, musste ich auf den Weg des Aufstiegs Dinge stellen, die geeignet waren, den Abstieg aufzuhalten. Sie sollten in der Betrachtung und in der Ruhe einen Halt finden, um dann wieder höher aufsteigen zu können, diesmal über die vorher erreichte Grenze hinaus. Es musste sich um Dinge handeln, die sie davon überzeugten, dass ich Gott bin. Daher die Seelenschau, daher die Herrschaft über die Elemente, daher die Wunder, die Verklärung, die Auferstehung und die Allgegenwart.

Ich war auf dem Wege nach Emmaus, während ich zugleich im Abendmahlsaal war. Und die von den Aposteln und Jüngern festgestellte Allgegenwart erschütterte sie, löste sie von ihren weltlichen Banden und führte sie auf den Weg Christi.

Mehr als für Judas, der schon in sich den Todeskeim barg, sprach ich für die anderen elf Apostel. Ich musste notwendigerweise meine Gottheit vor ihnen aufleuchten lassen, nicht aus Hochmut, sondern weil es für ihre Ausbildung notwendig war. Ich bin Gott und Meister. Jene Worte mussten mich als Gott offenbaren. Ich enthüllte mich in übermenschlicher Art und lehrte die Vollkommenheit: keine schlechten Gespräche führen, nicht einmal mit unserem Innersten. Denn Gott sieht, und er muss in ein reines

Inneres sehen, um dort hinabsteigen und seinen Aufenthalt nehmen zu können.

Warum habe ich das Wunder nicht in jenem Haus gewirkt? Um allen zu verstehen zu geben, dass die Gegenwart Gottes eine reine Umgebung erfordert, aus Rücksicht auf seine erhabene Majestät. Um nicht mit Lippenworten zu sprechen, sondern mit einem tiefergehenden Wort, dass bis zur Seele der Sünderin dringt und sagt: „Siehst du, Unglückselige? Du bist so schmutzig, dass deine ganze Umgebung beschmutzt wird. So schmutzig, dass Gott in deiner Anwesenheit nicht wirken kann. Du bist schmutziger als irgend jemand; denn du wiederholst die Sünde Evas und hältst dem Adam die Frucht entgegen, indem du ihn versuchst und seiner Pflicht entziehst. Du Magd des Satans!“

Warum will ich aber nicht, dass sie von der geängstigten Mutter Satan genannt wird? Weil kein Grund Schmähung und Haß rechtfertigt. Die erste Notwendigkeit und die erste Bedingung, Gott in sich zu haben, besteht darin, keinen Groll zu hegen und zu verzeihen, zu verstehen. Die zweite Bedingung besteht darin, dass man anerkennt, nicht sündenfrei zu sein; man darf nicht allein die Fehler anderer sehen. Die dritte Bedingung ist, dass man dankbar und treu zu bleiben weiß, wenn man Gnade erlangt hat, aus Gerechtigkeit dem Ewigen gegenüber. Unglücklich sind jene, die nach erhaltener Gnade schlimmer sind als die Hunde und sich ihres Wohltäters nicht erinnern, während das Tier sich dessen erinnert!

Ich habe kein Wort an Magdalena gerichtet. Als wäre sie eine Statue, habe ich sie einen Augenblick angeschaut; dann habe ich mich abgewandt. Ich habe mich den „Lebenden“ zugewandt, die ich retten wollte. Sie, tot wie behauener Marmor und noch mehr als dieser, habe ich sie scheinbar voller Gleichgültigkeit behandelt. Aber ich habe kein Wort gesprochen und nichts getan, was nicht ihre Seele treffen sollte, die ich retten wollte. Und das letzte Wort: „Ich verhöhne nicht. Verhöhne auch du nicht! Bete für die Sünder, sonst nichts!“, hat sich wie eine wachsende Blumengirlande mit dem ersten Wort auf dem Berg verbunden: „Vergebung ist nützlicher als Groll, und Mitleid besser als Unnachgiebigkeit.“ Und sie haben sie eingeschlossen, die arme Unglückliche, in einen weichen, frischen Kranz duftender Liebe, um sie fühlen zu lassen, wie verschieden die liebevolle Knechtschaft Gottes von der wilden Knechtschaft Satans ist; wie lieblich der Himmelsduft ist, gegenüber dem Gestank der Sünde; wie beruhigend es ist, heilig geliebt zu werden, anstatt satanisch besessen zu sein.

Seht, wie maßvoll der Herr in seinem Wollen ist. Er verlangt keine blitzartigen Bekehrungen. Er verlangt nichts Absolutes von einem Herzen. Er kann warten. Er begnügt sich. Und während er darauf wartet, dass das verlorene Schäflein den Weg, die Irrsinnige den Verstand wiederfindet, begnügt er sich mit dem, was ihm die verzweifelte Mutter geben kann.

Ich frage sie nur: „Kannst du verzeihen?“ Wie viele andere Dinge hätte ich von ihr fordern können, um sie eines Wunders würdig zu machen, wenn ich nach menschlicher Art gehandelt hätte! Aber ich messe eure Kräfte mit göttlichem Maß. Für die verzweifelte Mutter war es schon viel, wenn sie so weit kam zu verzeihen. Und das allein forderte ich in jener Stunde. Dann, nachdem ich ihr das Kind zurückgegeben hatte, habe ich zu ihr gesagt: „Sei heilig und heilige dein Haus.“ Aber solange der Schmerz sie quälte, habe ich nichts als Verzeihung der Schuldigen gegenüber verlangt. Man kann von einem, der eben noch im Nichts der Finsternis war, nicht alles verlangen. Die Mutter wäre so zum vollen Licht gelangt, und mit ihr die Frau und die Kinder. In jenem Augenblick war es aber nur erforderlich, in ihre vom Weinen noch blinden Augen den ersten Schein des Lichtes eindringen zu lassen: das Vergeben, dass heißt, dass Morgengrauen des Tages Gottes.

Von den Gegenwärtigen wäre nur einer – ich meine nicht Judas; ich spreche von den Leuten, die sich zugesellt hatten, nicht von meinen Jüngern – nur einer wäre nicht ans Licht gelangt. Niederlagen sind mit den Siegen des Apostolates verknüpft. Es gibt immer einen Menschen, für den sich der Apostel umsonst bemüht. Aber diese Niederlagen dürfen nicht den Mut verlieren lassen. Der Apostel soll sich nicht anmaßen, alles erreichen zu wollen. Er hat mit vielerlei Kräften zu rechnen, die wie die Fangarme eines Polypen die Beute zu erfassen suchen, die er ihnen entrissen hat. Das Verdienst des Apostels bleibt dasselbe. Unglücklich ist der Apostel, der da sagt: „Ich weiß, dass ich keinen Erfolg haben werde, deshalb gehe ich nicht dorthin.“ Das ist ein Apostel von geringem Wert.

Man muss sich auch dann aufmachen, wenn unter tausend nur einer gerettet wird. Das apostolische Tagewerk wird durch diesen einen ebenso ertragreich, wie wenn er tausend gerettet hätte. Da er alles getan hat, was in seinen Kräften steht, wird Gott ihn dafür belohnen.

Man muss auch daran denken, dass dort, wo der Apostel nicht bekehren kann, weil der zu Bekehrende zu sehr von Satan umklammert ist, und die Kraft des Apostels nicht ausreicht, Gott immer noch eingreifen kann. Also? Wer ist mächtiger als Gott?

Eine andere Sache, die der Apostel unbedingt üben muss, ist die Nächstenliebe. Offenkundige Liebe! Nicht nur eine im Herzen verborgene Liebe den Brüdern gegenüber. Sie genügt unter guten Brüdern. Aber der Apostel ist ein Arbeiter Gottes; er darf sich nicht damit begnügen, nur zu beten; er muss auch handeln. Er muss mit Liebe handeln. Mit großer Liebe. Härte lähmt die Arbeit des Apostels und hemmt die Hinkehr der Herzen zum Licht. Keine Härte, sondern Liebe!

Die Liebe ist das Gewand des Liebenden. Die Liebe ist die Rüstung gegen die Angriffe der bösen Leidenschaften. Die Liebe enthält ein Übermaß an konservierenden Essenzen, die euch vor dem Eindringen menschlich-satanischer Fäulnis bewahrt. Um eine Seele gewinnen zu können, muss man zu lieben verstehen. Um eine Seele zu gewinnen, muss man sie soweit bringen, dass sie liebt; dass sie das Gute liebt und ihren armen, sündigen Liebhabereien entsagt.

Ich wollte die Seele Maria Magdalenas gewinnen. Und wie bei dir, kleiner Johannes, habe ich mich nicht darauf beschränkt, von meinem Lehrstuhl aus zu sprechen. Ich bin hinabgestiegen, um sie auf den Wegen der Sünde zu suchen. Ich bin ihr nachgegangen und habe sie mit meiner Liebe verfolgt. Süße Verfolgung! Ich, die Reinheit, bin dort eingekehrt, wo sie, die Unreinheit, sich befand.

Ich habe kein Ärgernis gefürchtet, weder für mich, noch für die anderen. Ärger konnte nicht bei mir einkehren, weil ich die Barmherzigkeit bin; und sie weint über die Sünden und nimmt kein Ärgernis daran. Unglücklich ist der Hirte, der Ärgernis nimmt, sich hinter diesem Vorwand verschanzt und eine Seele im Stiche läßt. Wißt ihr nicht, dass die Seelen leichter als die Körper zu erwecken sind; dass das barmherzige und liebevolle Wort: „Schwester, steh auf, zu deinem Heil!“ oft Wunder wirkt? Ich habe mich vor dem Ärgernis der anderen nicht gefürchtet. Vor den Augen Gottes war mein Wirken gerechtfertigt. Vor den Augen der Gerechten war es verständlich. Das Auge des Böswilligen, in dem die Bosheit gärt, die aus einer inneren Fäulnis entsteht, hat keinen Wert. Es findet auch Schuld an Gott! Es sieht nur sich selbst vollkommen. Deswegen kümmerte ich mich nicht darum.

Die drei Phasen der Rettung einer Seele sind die folgenden:

Völlig untadelhaft sein, um reden zu können, ohne zum Schweigen gezwungen zu werden. Man kann zu einer ganzen Schar sprechen, derart, dass das apostolische Wort, dass man an die die mystische Barke umgebende Menge richtet, sich wie Wasserwellen immer mehr ausbreitet bis zum unruhigen Ufer, wo jene sich aufhalten, die im Schlamm stecken und nicht darauf bedacht sind, die Wahrheit kennenzulernen.

Das ist die erste Arbeit, um die Kruste der harten Scholle zu durchbrechen und sie für den Samen vorzubereiten. Das ist die schwerste Arbeit für den, der sie verrichtet, und für den, an dem sie vorgenommen wird; denn das Wort muss wie der schneidende Pflug verwunden, um zu öffnen. In Wahrheit sage ich euch, dass das Herz des guten Apostels selbst verwundet wird und blutet, wenn es verwunden muss, um zu öffnen. Aber auch dieser Schmerz ist fruchtbringend. Mit dem Blut und den Tränen des Apostels wird die unfruchtbare Scholle fruchtbar gemacht.

Die zweite Eigenschaft: Auch dort arbeiten, wo einer, der seine Mission nicht ernst nimmt, fliehen würde. Sich verbrauchen in der Anstrengung, Unkraut, Dornen und Disteln ausreißen, um das gepflügte Erdreich zu reinigen und darauf die Macht Gottes und seine Güte als Sonne wirken zu lassen, und gleichzeitig, wie ein Richter oder ein Arzt, gerecht und barmherzig sein, geduldig warten, um den Seelen Zeit zu lassen, die Krisis zu überstehen, zu überlegen, sich zu entscheiden.

Dritter Punkt: Sobald die Seele, die im Schweigen bereut hat, sich weinend und an ihre Vergangenheit denkend, schüchtern und in der Furcht, zurückgewiesen zu werden, dem Apostel nähert, muss dieser ein Herz haben, dass größer als das Meer, zarter als das Herz einer Mutter und verliebter als das eines Bräutigams ist; er muss es vollkommen öffnen, um Wogen der Zärtlichkeit ausfließen zu lassen.

Wenn ihr Gott in euch habt, Gott, der Liebe ist, werdet ihr leicht die Worte der Liebe finden, die ihr zu den Seelen sagen müßt. Gott wird in euch und durch euch reden, und, wie Honig der von der Wabe tropft, wie der Balsam, der aus der Ampulle quillt, wird die Liebe die ausgedörrten und angeekelten Lippen benetzen, auf die verwundeten Seelen fallen und Erquickung und Arznei sein. Macht, dass die Sünder euch lieben; euch, die Lehrer der Seelen. Macht, dass sie die Süßigkeit der himmlischen Liebe kennenlernen und nach keiner anderen Speise mehr verlangen. Macht, dass sie in eurer Güte eine große Erleichterung finden und sie für alle ihre Wunden suchen.

Ihr müßt dafür sorgen, dass eure Liebe ihnen jegliche Furcht nimmt, wie es die Epistel sagt, die du heute gelesen hast: „Die Furcht setzt die Züchtigung voraus; wer fürchtet, ist nicht vollkommen in der Liebe.“ Aber auch der ist nicht vollkommen, der Furcht einflößt. Sagt nicht: „Was hast du getan?“ Sagt nicht: „Geh weg!“ Sagt nicht: „Du verlangst nicht nach der wahren Liebe“ ' sondern sagt, sagt in meinem Namen: „Liebe, und ich werde dir verzeihen.“ Sagt: „Komm in die Arme Jesu.“ Sagt: „Koste dieses Engelsbrot und dieses Wort und vergiß das Pech der Hölle und den Hohn Satans.“ Nehmt die Schwächen der anderen auf euch. Der Apostel muss seine eigene und die Schwäche anderer, sein eigenes Kreuz und das anderer tragen, und wenn ihr zu mir kommt, beladen mit verwundeten Schäflein, dann beruhigt sie, diese Verirrten, und sagt zu ihnen: „Alles ist von jetzt an vergessen!“ Sagt: „Habe keine Angst vor dem Erlöser. Er ist deinetwegen vom Himmel herabgekommen, gerade für dich. Ich bin nur die Brücke, auf der du zu ihm gelangst. Er wartet jenseits des Flusses der Lossprechung auf dich, um dich zu seinen heiligen Weideplätzen zu führen, die hier auf Erden beginnen, aber dann in einer ewigen Schönheit, die nährt und selig macht, im Himmel weiterbestehen.“

Dies ist die Erklärung. Euch geht dies wenig an, ihr, dem guten Hirten getreue Schäflein. Aber wenn es dir, kleine Braut, dein Vertrauen mehrt, wird es dem Pater noch mehr Licht in seinem Licht als Richter bringen, und vielen wird es ein Ansporn sein zum Guten. Es wird der Tau sein, von dem ich gesprochen habe, der eindringt und nährt und die welkenden Blumen wieder aufrichtet.

Erhebt das Haupt! Der Himmel ist oben. Sei im Frieden, Maria! Der Herr ist mit dir!»