27.02.2016

DAS GLEICHNIS VOM VERLORENEN SOHN

nach Maria Valtorta

«Johannes von Endor, komm her zu mir! Ich muss mit dir reden», sagt Jesus, der sich an der Türe zeigt.

Der Mann eilt herbei und läßt das Kind stehen, dem er gerade etwas erklärte.

«Was hast du mir zu sagen, Meister?» fragt er.

«Komm mit mir hinauf!»

Sie gehen zur Terrasse hinauf und setzen sich in eine geschützte Ecke, denn, obwohl es noch Vormittag ist, brennt die Sonne schon sehr heiß. Jesus läßt seinen Blick über die Landschaft schweifen, in der das Korn von Tag zu Tag goldener wird und die Früchte der Bäume anschwellen. Es scheint, als wolle er seine Gedanken aus dieser Veränderung der Pflanzen schöpfen.

«Höre, Johannes! Ich glaube, heute wird Isaak kommen, um mich zu den Landarbeitern Jochanans zu führen, bevor sie abreisen. Ich habe Lazarus gebeten, ihnen einen Wagen zu leihen, damit sie bei ihrer Rückkehr rascher vorwärtskommen und nicht wegen einer Verspätung eine Strafe befürchten müssen. Lazarus wird es tun, denn Lazarus tut alles, was ich ihm sage. Aber von dir möchte ich etwas anderes. Ich habe hier eine Summe, die ich von einem Menschenkind für die Armen des Herrn bekommen habe. Normalerweise hat einer meiner Apostel die Aufgabe, dass Geld zu verwalten und die Almosen zu verteilen. Gewöhnlich tut es Judas von Kerioth, manchmal auch ein anderer. Judas ist abwesend. Die anderen brauchen nicht zu wissen, was ich im Sinne habe. Auch Judas wird es diesesmal nicht erfahren. Du wirst es in meinem Namen tun...»

«Ich, Herr? ... Ich... ich bin nicht würdig ...»

«Du musst dich daran gewöhnen, in meinem Namen zu arbeiten. Bist du nicht deswegen gekommen?»

«Ja, aber ich dachte, an meiner armen Seele arbeiten zu müssen.»

«Ich gebe dir die Möglichkeit dazu. Wogegen hast du gefehlt? Gegen die Barmherzigkeit und die Liebe. Du hast deine Seele mit Haß verwüstet. Mit Liebe und Barmherzigkeit sollst du sie wiederaufbauen. Ich gebe dir das Material dazu. Ich werde dich besonders für Werke der Barmherzigkeit und Liebe einsetzen. Du kannst auch heilen und reden. Daher bist du imstande, dich um die physisch und moralisch Kranken zu kümmern. Du wirst mit diesem guten Werk beginnen. Nimm die Börse. Du wirst sie Michäas und seinen Freunden geben. Mache gleiche Teile, aber mache sie so, wie ich es sage. Mache zehn Teile. Davon gibst du vier dem Michäas, einen für ihn, einen für Saul, einen für Joel und einen für Isaias. Die anderen sechs Teile gibst du Michäas, damit er sie dem alten Vater des Jabe bringt, für ihn und seine Gefährten. Es wird ihnen ein kleiner Trost sein.»

«Gut, aber was werde ich ihnen sagen, um es zu rechtfertigen?»

«Du kannst sagen: „Dies, damit ihr euch daran erinnert, für eine Seele zu beten, die auf dem Weg zur Erlösung ist.“»

«Doch dann könnten sie glauben, dass es sich um mich handelt. Das ist nicht recht!»

«Warum, willst du nicht gerettet werden?»

«Es ist nicht recht, sie glauben zu lassen, dass ich der Spender bin.»

«Laß nur und tue was ich sage!»

«Ich gehorche... aber erlaube mir wenigstens, dass ich etwas dazulege. Ich brauche ja nicht mehr viel. Bücher werde ich keine mehr kaufen, die Hühner brauche ich auch nicht mehr zu füttern... Mir genügt sehr wenig... Nimm, Meister! Ich behalte nur eine kleine Summe für die Sandalen ...» und er entnimmt einem Beutel am Gürtel viele Münzen und fügt sie den Münzen Jesu bei.

«Gott segne dich für deine Barmherzigkeit... Johannes, bald werden wir uns trennen, denn du wirst mit Isaak gehen.»

«Das tut mir weh, Meister, aber ich werde gehorchen.»

«Auch mich schmerzt es, dass du uns verläßt. Aber ich brauche dringend pilgernde Jünger. Meine Gegenwart genügt nicht mehr. Bald werde ich die Apostel aussenden, und dann die Jünger. Du wirst es recht gut machen. Dich behalte ich mir für besondere Aufgaben vor. Inzwischen wirst du dich bei Isaak bilden. Er ist sehr gut, und der Geist des Herrn hat ihn fürwahr während seiner langen Krankheit geformt. Er ist der Mensch, der immer alles verziehen hat... Unsere Trennung bedeutet andererseits nicht, dass wir uns nicht mehr sehen. Wir werden uns oft begegnen, und jedesmal, wenn wir zusammenkommen, werde ich besonders für dich sprechen. Denk daran!»

Johannes neigt sich vornüber, verbirgt sein Antlitz in den Händen mit einem bitteren Schluchzen und seufzt: «Oh, sag mir gleich irgendetwas, was mich davon überzeugt, dass mir verziehen worden ist, dass ich Gott dienen kann... Wenn du wüßtest, wie ich nun, da der Rauch des Hasses weg ist, meine Seele sehe... und wie ich an Gott denke...»

«Ich weiß es, weine nicht! Bleibe demütig, aber betrübe dich nicht. Betrübnis ist eine andere Art des Hochmuts. Nur Demut allein sollst du haben. Auf, weine nicht mehr ...»

Johannes von Endor beruhigt sich langsam.

Als ihn Jesus beruhigt sieht, sagt er: «Komm, laß uns unter das Blätterdach der Apfelbäume gehen und die Frauen und die Gefährten versammeln. Ich werde zu allen sprechen, dir aber sagen, wie Gott dich liebt.»

Sie gehen hinunter und scharen die anderen um sich, so wie sie ihnen begegnen.

Dann setzen sie sich im Kreise in den Schatten der Apfelbäume. Auch Lazarus, der mit dem Zeloten gesprochen hatte, schließt sich der Gesellschaft an. Es sind im ganzen zwanzig Personen.

«Hört! Es ist ein schönes Gleichnis, dass euch in vielen Fällen mit seinem Licht leiten wird.

Ein Mann hatte zwei Söhne. Der ältere war ernst, arbeitsam, liebevoll und gehorsam. Der andere war intelligenter als der ältere, der etwas schwerfällig war und sich gerne beraten ließ, um nicht die Sorge eigener Entscheidungen auf sich nehmen zu müssen; aber der jüngere war auch widerspenstig, ausgelassen, Liebhaber der Bequemlichkeit und des Vergnügens, verschwenderisch und müßig. Die Intelligenz ist eine große Gabe Gottes; aber sie ist eine Gabe, die weise verwendet werden muss. Sonst hat sie die Wirkung gewisser Arzneimittel, die, wenn falsch benützt, nicht heilen, sondern töten. Der Vater hatte das Recht und die Pflicht, ihn zu ermahnen, ein geordnetes Leben zu führen. Aber alles war nutzlos. Er bekam nur böse Antworten und erreichte, dass der Sohn in seinen schlechten Ansichten noch verstockter wurde.

Eines Tages schließlich, nach einem heftigen Wortwechsel, sagte der jüngere Sohn: „Gib mir meinen Erbanteil. So brauche ich deine Ermahnungen und das Gejammer des Bruders nicht mehr zu hören. Jedem das Seine, und damit setzen wir allem ein Ende.“

„Schau“ ' erwiderte der Vater, „bald wirst du ganz unter den Rädern sein. Was wirst du dann tun? Denk daran, dass ich deinetwegen nicht ungerecht bin und deinem Bruder keinen Pfennig nehmen werde, um dir zu helfen...“

„Ich werde nichts von dir verlangen. Sei beruhigt und gib mir meinen Teil!“

Der Vater ließ die Ländereien und die wertvollen Gegenstände abschätzen, und da er sah, dass Geld und Schmuckstücke genausoviel wert waren wie Haus und Grundbesitz, gab er dem älteren die Felder und Weingärten, die Herden und Olivenhaine, und dem jüngeren das Geld und die Wertsachen, welche dieser sofort in Geld umwandelte. Nachdem er in wenigen Tagen alles geregelt hatte, machte er sich auf den Weg nach einem fernen Land, wo er als großer Herr lebte und alles vergeudete in Schwelgereien jeder Art und sich als Sohn eines Königs feiern ließ, weil er sich schämte, zu sagen: „Ich bin ein Bauernsohn.“ Und somit verleugnete er seinen Vater.

Feste, Freunde und Freundinnen, Kleider, Wein, Spiele... ein ausschweifendes Leben... Bald sah er seine Mittel schwinden und das Elend sich nähern. Und um das Elend noch zu vergrößern, kam eine große Hungersnot über das Land, die sein letztes Geld aufzehrte. Nun wäre der Sohn gern zu seinem Vater zurückgekehrt, aber sein Stolz hinderte ihn daran. So ging er zu einem Wohlhabenden des Ortes, der in guten Zeiten sein Freund gewesen war, und bat ihn: „Nimm mich unter deine Knechte auf in Erinnerung an die Feste, an denen du teilgenommen hast.“ Seht, wie dumm der Mensch ist! Er zieht es vor, sich unter die Peitsche eines Herrn zu ducken, als zum Vater zu sagen: „Verzeih, ich habe gefehlt.“ Dieser Jüngling hatte viele unnütze Dinge erlernt, dank seiner wachen Intelligenz, wollte aber den Ausspruch Sirachs nicht lernen: „Wie niederträchtig ist der, der seinen Vater verläßt, und wie verflucht von Gott der, der seine Mutter beunruhigt.“ Er war intelligent, aber nicht weise.

Der Mann, an den er sich hilfesuchend gewandt hatte, stellte den Dummkopf als Schweinehirt an, als Dank für die mit ihm verbrachten genußvollen Stunden; denn sie waren in einem heidnischen Land, und es gab dort viele Schweine. Schmutzig, zerlumpt, stinkend und hungrig -denn die Nahrung war knapp wegen der vielen Diener, besonders der bösartigen, und er, der ausländische Schweinehirt, wurde zu alledem noch verlacht – sah er, dass die Schweine sich mit Eicheln satt fraßen und jammerte: „Könnte ich doch meinen Bauch mit diesen Früchten füllen. Aber sie sind zu bitter! Nicht einmal der Hunger läßt sie mir besser schmecken.“ Er weinte, als er an die reichen Feste voller Gelächter, Gesängen und Tänze dachte, die er noch vor kurzem als Verschwender geboten hatte; und an die bescheidenen, doch sättigenden Mahlzeiten in seiner fernen Heimat, an die Portionen, die der Vater immer selbst nach den persönlichen Bedürfnissen austeilte, während er selbst stets mit wenig zufrieden war und sich über den gesunden Appetit seiner Kinder freute... Und der Sohn dachte an die gefüllten Teller, die der Gerechte seinen Dienern zuteilte, und seufzte: „Auch die letzten Knechte meines Vaters haben genügend Brot, und ich sterbe hier vor Hunger...“

Eine lange Arbeit des Überlegens, ein langer Kampf, um den Stolz niederzuringen! Endlich kam der Tag, da er, wiedergeboren in Demut und Weisheit, auf die Füße sprang und sagte: „Ich gehe zu meinem Vater. Dieser Stolz ist Dummheit, die mich gefangen hält. Und wozu? Warum körperlich und noch mehr seelisch leiden, wenn ich Verzeihung und Erleichterung erhalten kann? Ich gehe zu meinem Vater. Es ist beschlossen! Aber was werde ich ihm sagen? Nun, das, was ich in dieser Demütigung, in diesem Schmutz, unter dem beißenden Hunger gelernt habe. Ich werde sagen: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und gegen dich. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden, behandle mich daher wie deinen letzten Knecht, aber laß mich unter deinem Dach weilen, damit ich dich vorbeigehen sehen kann...' Ich werde nicht sagen können: 'Weil ich dich liebe...' denn er würde es mir nicht glauben. Aber mein Leben soll es ihm sagen, und er wird verstehen und mich vor seinem Tod noch segnen... Oh, ich hoffe es; denn mein Vater liebt mich.“ Als er am Abend ins Dorf zurückkam, kündigte er seinem Arbeitgeber, und, sich von Ort zu Ort durchbettelnd, kehrte er in seine Heimat zurück. Da waren schon die väterlichen Ländereien... und das Haus... und der Vater, der die Arbeit leitete, gealtert und abgemagert durch den Schmerz, aber immer noch gütig. Der Schuldige blieb furchtsam stehen. Doch der Vater, der umherschaute, erblickte ihn, eilte ihm entgegen, und als er ihn erreicht hatte, schlang er die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Nur der Vater hatte in diesem traurigen Bettler seinen Sohn erkannt, und nur er hatte einen Liebesantrieb verspürt.

Der Sohn in seinen Armen, den Kopf an die väterliche Brust gelehnt, flüsterte unter Schluchzen: „Vater, laß mich dir zu Füßen niederfallen.“ „Nein, mein Sohn! Nicht zu Füßen! An mein Herz, dass so viel ob deiner Abwesenheit gelitten hat und das wieder aufleben muss mit dem Gefühl deiner Wärme an meiner Brust.“ Der Sohn weinte noch stärker und sagte: „Oh, mein Vater! Ich habe gegen den Himmel und gegen dich gesündigt, und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Aber erlaube mir, dass ich unter deinen Knechten, unter deinem Dache bleiben und dich sehen, dein Brot essen und deinen Wein trinken kann. Bei jedem Bissen Brot, bei jedem deiner Atemzüge wird mein verdorbenes Herz sich erneuern, und ich werde redlich werden...“

Doch der Vater, der ihn immer noch in den Armen hielt, führte ihn zu den Dienern, die sich in einiger Entfernung versammelt und die Szene beobachtet hatten, und sagte: „Bringt rasch das schönste Gewand und ein Becken mit duftendem Wasser. Wascht ihn, salbt ihn, kleidet ihn an, legt ihm neue Schuhe an und steckt ihm einen Ring an den Finger. Dann nehmt ein gemästetes Kalb, schlachtet es und bereitet ein Festmahl; denn dieser mein Sohn war tot und ist auferstanden; er war verloren, und ist wiedergefunden worden. Ich will, dass auch er nun seine einfache Kindesliebe wiederfindet, und meine Liebe und das Fest im Haus zu seiner Rückkehr sollen sie ihm wiedergeben. Er soll verstehen, dass er für mich immer der jüngste Sohn ist, wie er es in seiner fernen Kindheit war, als er an meiner Seite ging und mich mit seinem Lächeln und Geplauder beglückte.“ Und die Diener folgten dem Befehl.

Der ältere Sohn aber war auf dem Feld und erfuhr nichts davon bis zu seiner Rückkehr. Am Abend, als er nach Hause kam, sah er es hellerleuchtet und vernahm Musikinstrumente und Tanzweisen. Er rief einen Diener, der vielbeschäftigt umherrannte, und fragte ihn: „Was geschieht hier?“ Und der Diener antwortete: „Dein Bruder ist zurückgekehrt. Dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er seinen Sohn gesund und von seinem großen Übel geheilt wieder besitzt, und er hat ein Festmahl angeordnet. Wir warten nur noch auf dich, um damit anzufangen.“ Der Ältere aber erzürnte, denn er betrachtete es als eine Ungerechtigkeit, ein solches Fest für den Jüngeren zu halten, zudem der Jüngere böse gewesen war; er wollte nicht hineingehen, sondern schickte sich an, sich vom Haus zu entfernen. Aber der Vater, der davon erfuhr, eilte hinaus, holte ihn ein und versuchte, ihn zu überzeugen, und bat ihn, seine Freude nicht zu vergällen. Der Erstgeborene antwortete seinem Vater: „Du willst, dass ich mich nicht aufrege? Du bist gegen deinen Erstgeborenen ungerecht und setzest ihn herab. Seit ich dazu fähig war, habe ich gearbeitet und dir gedient; es sind nun schon viele Jahre. Ich habe immer alle deine Befehle ausgeführt und auch alle deine Wünsche erfüllt. Ich bin immer in deiner Nähe gewesen und habe dich für zwei geliebt, um die Wunde, die mein Bruder dir zugefügt hat, zu heilen. Und du hast mir nicht einmal ein Ziegenböcklein geschenkt, damit ich es mit meinen Freunden genießen könnte. Ihm hingegen, der dich beleidigt und verlassen hat, der faul und verschwenderisch gewesen ist, der nur heimkehrt, weil er Hunger leidet, ihn ehrst du, und für ihn läßt du das schönste Kalb schlachten. Es lohnt sich also nicht, ein guter Arbeiter und ohne Laster zu sein! Das hättest du mir nicht antun dürfen!“ Da zog der Vater den älteren Sohn an seine Brust und sagte: „Oh, mein Sohn! Glaubst du, dass ich dich nicht liebe, weil ich keine Festfahne für deine Arbeit hisse? Deine Werke sind gut, und die Menschen loben dich deswegen. Aber dieser dein Bruder muss die Achtung der Welt und seiner selbst wiedererlangen. Glaubst du, dass ich dich nicht liebe, weil ich dir keine sichtbare Belohnung gebe? Morgens und abends, bei jedem Atemzug und Gedanken bist du in meinem Herzen, und in jedem Augenblick segne ich dich. Du hast den dauernden Lohn, immer bei mir zu sein, und was mein ist, dass ist dein. Aber es war gerecht, ein Mahl zu halten und ein Fest zu feiern für diesen deinen Bruder, der tot war und zum Guten auferstanden ist, der verloren war und in unsere Liebe zurückgeführt worden ist.“ Und der Ältere gab nach.

So, meine Freunde, geschieht es auch im Haus des Vaters. Wer glaubt, dem jüngeren Bruder im Gleichnis zu gleichen, der soll es ihm nachtun und zum Vater gehen, damit der Vater ihm sagen kann: „Nicht zu meinen Füßen, sondern an mein Herz, dass ob deiner Abwesenheit gelitten hat und nun über deine Rückkehr glücklich ist.“ Wer dem Erstgeborenen gleicht und ohne Schuld dem Vater gegenüber ist, soll nicht eifersüchtig auf die väterliche Freude sein, sondern daran teilnehmen, indem er dem erlösten Bruder Liebe schenkt.

Ich habe gesprochen. Bleib hier, Johannes von Endor, und auch du, Lazarus. Die anderen können gehen und die Tische decken. Wir werden gleich nachkommen.»

Alle ziehen sich zurück. Als Jesus, Lazarus und Johannes allein sind, sagt Jesus den beiden: «So geschieht es der teuren Seele, die du erwartest, Lazarus, und so geschieht es dir, Johannes: die Güte Gottes übersteigt alle Maße.»

Die Apostel mit der Mutter und den Frauen gehen zum Haus, ihnen voraus hüpft und springt Margziam. Doch schon kommt er zurück, nimmt Maria bei der Hand und sagt: «Komm mit mir, ich muss dir etwas sagen; dir allein!»

Maria stellt ihn zufrieden. Sie wenden sich dem Brunnen zu, der sich in einer Ecke des Hofes befindet, unter einer dichten Pergola verborgen, die sich vom Boden in einem Bogen bis zur Terrasse hinzieht. Dort hinten wartet Iskariot.

«Judas, was willst du? Geh, Margziam... Sprich, was willst du?»

«Ich fühle mich schuldig... Ich wage es nicht, zum Meister zu gehen und den Gefährten zu begegnen... Hilf du mir!»

«Ich will dir helfen... Aber denkst du nicht daran, wieviel Schmerz du verursachst? Mein Sohn hat deinetwegen geweint. Auch die Gefährten haben gelitten. Aber komm, niemand wird dir etwas vorwerfen. Wenn du kannst, falle nicht mehr in diese Fehler zurück. Es ist des Mannes unwürdig und ein Sakrileg gegen das Wort Gottes.»

«Und du, Mutter, kannst du mir verzeihen?»

«Ich? Ich zähle nichts bei dir, der du dir soviel einbildest. Ich bin die Geringste unter den Dienern des Herrn. Wie kannst du dich um mich kümmern, wenn du kein Mitleid mit meinem Sohn hast.»

«Weil auch ich eine Mutter habe, und wenn ich deine Verzeihung erhalte, so kommt es mir vor, als hätte auch sie mir verziehen.»

«Sie kennt diese deine Schuld nicht.»

«Aber ich habe ihr schwören müssen, gut zum Meister zu sein. Ich habe den Eid gebrochen. Ich spüre den Vorwurf der Seele meiner Mutter.»

«Du spürst ihn? Und die Klage und den Vorwurf des Vaters und des Wortes spürst du nicht? Du Unglücklicher, Judas! Du säst in dir und in denen, die dich lieben, den Schmerz.»

Maria ist sehr ernst und traurig. Sie spricht ohne Härte, doch mit großem Ausdruck in der Stimme. Judas weint.

«Weine nicht, sondern bessere dich! Komm.»

Sie nimmt ihn an der Hand, und so betreten sie die Küche. Das allgemeine Erstaunen ist groß. Aber Maria kommt jeder unbarmherzigen Äußerung zuvor. Sie sagt: «Judas ist zurückgekehrt. Macht es wie der Erstgeborene nach der Rede des Vaters. Johannes, geh und sag Jesus Bescheid.»

Johannes des Zebedäus eilt weg. Ein tiefes Schweigen lastet auf denen in der Küche. Schließlich sagt Judas: «Verzeih mir, du, Simon, als erster. Du hast ein so väterliches Herz. Auch ich bin ein Waisenkind.»

«Ja, ja, ich verzeihe dir. Bitte rede nicht mehr davon. Wir sind Brüder und mir gefallen diese Ebben und Fluten nicht, die Bitten um Verzeihung und die Rückfälle. Sie betrüben beide Teile. Da kommt Jesus. Geh ihm entgegen. Das genügt.»

Judas geht, während Petrus sich nicht anders zu helfen weiß, als hinauszugehen und wütend trockenes Holz zu spalten...