24.04.2016

DAS NEUE GEBOT

nach Maria Valtorta

«Nun, da du zufrieden bist, geh», sagt Jesus zu Judas. «Alles ist hier (er betont dieses Wort ganz besonders) vollbracht. Was anderswo noch zu tun ist, dass tue bald, Judas des Simon.»

«Ich gehorche dir sofort, Meister. Später treffe ich dich in Gethsemane. Du gehst doch dorthin, nicht wahr? Wie immer?»

«Ich gehe dorthin... wie immer... ja.»

«Was hast du zu tun?» fragt Petrus. «Gehst du allein?»

«Ich bin doch kein Kind», spöttelt Judas, der bereits seinen Mantel anlegt.

«Laß ihn gehen. Er und ich wissen, was zu tun ist», sagt Jesus.

«Ja, Meister.» Petrus schweigt. Vielleicht glaubt er, dass er mit seinem Verdacht gegen den Gefährten gesündigt hat. Er legt die Hand an die Stirn und denkt nach.

Jesus drückt Johannes ans Herz und flüstert ihm nochmals ins Haar: «Sage Petrus noch nichts. Es wäre ein unnötiges Ärgernis.»

«Leb wohl, Meister. Lebt wohl, Freunde.» Judas verabschiedet sich.

«Leb wohl», sagt Jesus.

Und Petrus: «Leb wohl, Junge.»

Johannes, dass Haupt beinahe im Schoß Jesu, murmelt: «Satan!» Jesus allein hört es und seufzt.

Hier hört alles auf. Jesus sagt: «Ich unterbreche aus Mitleid mit dir die Vision. Zu gegebener Zeit lasse ich dich das Ende des Abendmahles schauen.»

Einige Minuten herrscht absolutes Schweigen. Jesus hält das Haupt gesenkt und streichelt mechanisch das blonde Haar des Johannes.

Dann gibt er sich einen Ruck, hebt das Haupt, läßt den Blick über die Apostel schweifen und tröstet sie durch ein Lächeln. Er sagt: «Wir wollen den Tisch verlassen und uns nahe zusammensetzen, wie Kinder um ihren Vater.»

Sie nehmen die Liegen, die hinter dem Tisch stehen (die von Jesus, Johannes, Jakobus, Petrus, Simon, Andreas und dem Vetter Jakobus), und tragen sie auf die andere Seite.

Jesus setzt sich auf die seine, wiederum zwischen Johannes und Jakobus. Als er aber sieht, dass Andreas sich auf den von Iskariot verlassenen Platz setzen will, ruft er aus: «Nein, nicht dorthin!» Ein impulsiver Ausruf, den selbst seine große Klugheit nicht verhindern kann. Dann verbessert er: «Wir brauchen nicht so viel Platz. Wenn wir uns setzen, genügen diese Liegen. Ich möchte euch ganz nahe bei mir haben.»

Nun sitzen sie alle auf den in U-Form aufgestellten Liegen und Jesus ihnen gegenüber in der Mitte am Tisch, auf dem nun keine Speisen mehr stehen.

Jakobus des Zebedäus ruft Petrus: «Setze dich hierher. Ich setze mich auf diesen Schemel zu Füßen Jesu.»

«Gott segne dich, Jakobus! Das habe ich mir so sehr gewünscht!» sagt Petrus und setzt sich dicht neben seinen Meister, der sich nun zwischen Johannes und Petrus eingezwängt befindet, mit Jakobus zu seinen Füßen.

Jesus lächelt: «Ich sehe, dass meine vor kurzem gesprochenen Worte schon zu wirken beginnen. Die guten Brüder lieben sich. Auch ich sage dir, Jakobus: „Gott segne dich.“ Und der Ewige wird diese deine Tat nicht vergessen, und du wirst dort oben den Lohn dafür empfangen.

Ich vermag alles, worum ich bitte. Ihr habt es gesehen. Mein Wunsch hat genügt, und der Vater hat dem Sohn erlaubt, sich den Menschen als Speise zu geben. Durch das, was jetzt geschehen ist, ist der Menschensohn verherrlicht; denn das Wunder, dass nur den Freunden Gottes möglich ist, beweist seine Macht. Je größer das Wunder, desto gewisser und tiefer ist diese Freundschaft Gottes. Es ist dies ein Wunder, dass in seiner Art, Dauer und Natur, und durch seine Bedeutung und seine Tragweite nicht größer sein könnte. Ich sage euch: Es ist so gewaltig, so übernatürlich und so unfaßbar für den Hochmut des Menschen, dass nur sehr wenige es verstehen werden, wie es verstanden werden muss, und viele werden es leugnen. Was werde ich dann sagen? Fluch über sie? Nein. Ich werde sagen: Erbarmen!

Aber je größer das Wunder ist, desto größer ist die Ehre dessen, der es wirkt. Es ist Gott selbst, der sagt: „Seht, dieser mein Auserwählter hat es gewollt und hat es erhalten. Ich habe es ihm gewährt, denn er findet große Gnade vor meinen Augen.“ Und hier sagt er: „Er findet unendliche Gnade, so wie das von ihm gewirkte Wunder unendlich ist.“ Und ebenso, wie die Herrlichkeit von Gott auf den Urheber des Wunders herabkommt, steigt die Herrlichkeit von ihm zum Vater auf. Denn alle übernatürliche Herrlichkeit kehrt, da sie von Gott kommt, zu ihrer Quelle zurück. Und die Herrlichkeit Gottes, obwohl sie unendlich ist, wird noch vermehrt und noch strahlender durch die Herrlichkeit seiner Heiligen. Daher sage ich: Wie der Menschensohn durch Gott verherrlicht ist, so ist Gott durch den Menschensohn verherrlicht. Ich habe Gott in mir verherrlicht. Gott wird seinerseits seinen Sohn in sich verherrlichen. Sehr bald wird er ihn verherrlichen.

Frohlocke, o geistiger Wesenskern der zweiten Person, der du nun zu deinem Thron zurückkehrst! Frohlocke, o Fleisch, dass du aufsteigst nach so langem Exil im Staub. Nicht mehr das Paradies des Adam, sondern das erhabene Paradies des Vaters wird dir zur Wohnstatt gegeben werden! Wenn geschrieben steht, dass die Sonne stillstand aus Verwunderung über einen Befehl Gottes, der durch den Mund eines Menschen erging, was wird dann erst mit den Sternen geschehen, wenn sie das Wunder am Fleisch des Menschen sehen, dass auffährt und sich in der Vollkommenheit der verherrlichten Materie zur Rechten des Vaters setzt? Meine Kinder, nur noch eine kleine Weile bin ich bei euch. Dann werdet ihr mich suchen, wie Waisen ihren toten Vater suchen. Weinend werdet ihr umherirren und von ihm sprechen, und vergeblich werdet ihr an das stumme Grab pochen und dann an die blauen Pforten des Himmels und bittend eure Seelen erheben auf der Suche nach Liebe und sagen: „Wo ist unser Jesus? Wir wollen ihn bei uns haben. Ohne ihn ist kein Licht mehr in der Welt, keine Freude, keine Liebe! Oh, gebt ihn uns wieder oder laßt uns hinein. Wir wollen sein, wo er ist.“ Aber vorerst könnt ihr nicht kommen, wohin ich gehe. Ich habe es auch zu den Juden gesagt: „Dann werdet ihr mich suchen, aber wo ich hingehe, dorthin könnt ihr mir nicht folgen.“ Ich sage es auch zu euch.

Denkt an die Mutter... Selbst sie kann nicht kommen, wohin ich gehe. Und doch habe ich den Vater verlassen, um zu ihr zu kommen und in ihrem unbefleckten Schoß Jesus zu werden. Und doch bin ich aus der Unversehrten gekommen, in der strahlenden Ekstase meiner Geburt. Von ihrer zu Milch gewordenen Liebe habe ich mich genährt. Ich bin aus Reinheit und Liebe hervorgegangen, denn Maria hat mich genährt mit ihrer von der vollkommenen Liebe, die im Himmel lebt, befruchteten Jungfräulichkeit. Durch sie bin ich herangewachsen und habe sie Mühen und Tränen gekostet... Und doch verlange ich einen bisher nie erreichten Heroismus von ihr, im Vergleich zu dem Judith und Jael nur die Heldentaten armer Frauen, die einer Rivalin am Dorfbrunnen gegenübertreten, vollbracht haben. Und doch liebt mich niemand wie sie. Und trotzdem verlasse ich sie und gehe dorthin, wohin sie erst nach langer Zeit kommen kann. Das Gebot, dass ich euch gebe, gilt nicht für sie: „Heiligt euch Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag, Stunde um Stunde, damit ihr zu mir kommen könnt, wenn eure Stunde schlägt.“ In ihr ist alle Gnade und Heiligkeit. Sie ist das Geschöpf, dass alles erhalten und alles gegeben hat. Nichts ist hinzuzufügen oder wegzunehmen. Sie ist der heiligste Beweis dessen, was Gott kann.

Aber um sicher zu sein, dass ihr fähig sein werdet, zu mir zu kommen und den Schmerz und die Trauer der Trennung von eurem Jesus zu überwinden, gebe ich euch ein neues Gebot. Es ist das Gebot, dass ihr einander lieben sollt. Liebt einander, wie ich euch geliebt habe. Daran wird man erkennen, dass ihr meine Jünger seid. Wenn ein Vater viele Söhne hat, woran erkennt man diese? Nicht so sehr am Aussehen – denn es gibt Menschen, die anderen gleichen und doch nicht zur gleichen Familie und nicht einmal zum gleichen Volk gehören – als vielmehr an der gemeinsamen Liebe zur Familie, zu ihrem Vater und zueinander. Und auch nach dem Tod des Vaters löst sich die gute Familie nicht auf; denn alle sind eines Blutes und in allen fließt das Blut des Vaters und schafft Bindungen, die nicht einmal der Tod löst; denn die Liebe ist stärker als der Tod. Wenn ihr einander nun liebt, auch nachdem ich euch verlassen habe, werden alle erkennen, dass ihr meine Kinder seid, dass ihr meine Jünger seid, und untereinander Brüder, da ihr nur einen Vater habt.»