04.06.2016

 

Der 12-jährige Jesus im, Tempel

 

Die Reise von Nazaret nach Jerusalem zur Feier der Volljährigkeit Jesu

 

Ich sehe Jesus mit seiner Mutter ins Eßzimmer von Nazaret eintreten.

Jesus ist ein schöner zwölfjähriger Jüngling, hochgewachsen, wohlgestaltet und kräftig – nicht dick. Er sieht infolge seiner Statur erwachsener aus als er ist. Er ist schon groß und er reicht seiner Mutter bis an die Schultern. Sein Gesicht ist noch rundlich und rosig wie damals, als er klein war; es wird sich während des Jugend- und Mannesalters verfeinern und eine blassere Farbe annehmen wie feiner, rosagelblicher Alabaster.

Die Augen sind ebenfalls noch Kinderaugen, groß und weit geöffnet mit einem Funken von Freude im ersten, verlorenen Blick. Später sind sie nicht mehr so weit offen . . . Die Lider werden sich halb über die Augen senken, um die zu große Verdorbenheit der Welt vor dem Reinen und Heiligen zu verschleiern. Nur in den Augenblicken des Wunderwirkens werden sie weit offen und strahlend sein, mehr noch als jetzt, um Satan und den Tod zu vertreiben, um die Kranken und Sünder zu heilen. Und dann wird die kleine Spur der Freude nicht mehr in den ernsten Augen sein . . .

Der Tod und die Sünde werden ihnen stets gegenwärtig sein und mit ihnen das Wissen, auch das menschliche Wissen um die Nutzlosigkeit seines Opfers infolge des gegensätzlichen Willens der Menschen.

Nur in sehr seltenen Augenblicken der Freude, wie bei seinem Verweilen mit den Erlösten, den Reinen und den Kindern, werden diese heiligen, gütigen Augen wieder einmal aufleuchten.

Jetzt ist er noch bei der Mutter, in ihrem Haus, neben Josef, der ihm liebevoll zulächelt. Auch die Vettern sind da und bewundern Jesus. Seine Tante Maria, die Frau des Alphäus, liebkost ihn. Jesus ist glücklich. Mein Jesus braucht Liebe, um glücklich zu sein. In diesem Augenblick hat er sie.

Er trägt ein weites, rubinrotes Wollkleid, das weich fällt und sehr schön und gleichmäßig gewoben ist. Am Hals, vorne auf der Brust, am Ende der langen, weiten Ärmel und am Saum des bodenlangen Gewandes, das die Sandalen sehen läßt, ist eine Borte, die nicht gestickt, sondern in rubinroter Wolle gewoben ist, einen Ton dunkler als das Gewand. Es muß das Werk der Mutter sein, denn die Schwägerin bewundert und lobt sie. Jesus trägt neue, schön angefertigte Sandalen; sie bestehen nicht nur aus einer Sohle und zwei Lederriemen, mit denen sie am Fuß festgehalten werden.

Jesu blonde Haare sind schon sehr dicht, und ihre Farbe etwas satter als in den Kindertagen. Die bis unter die Ohren fallenden Locken leuchten kupferfarbig auf in ihren Rundungen. Es sind nicht mehr die dürftigen Löckchen der Kindheit. Es sind auch noch nicht die schulterlangen, gewellten Haare des Mannes, die dann in einer nach innen gedrehten Welle enden; doch sie beginnen schon in Farbe und Fülle diesen zu gleichen.

»Da ist er, unser Sohn«, sagt Maria und legt ihre Rechte auf die linke Hand Jesu. Es sieht aus, als wolle sie ihn vorstellen und damit die Pflegevaterschaft des Gerechten, der dabeisteht, bestätigen.

Und sie fügt hinzu: »Segne uns, Josef, bevor wir uns nach Jerusalem aufmachen! Die rituelle Segnung vor dem Schulgang, dem ersten Schritt ins Leben, war nicht notwendig. Aber nun, da er in den Tempel geht, um dort als Erwachsener anerkannt zu werden, tue es und segne mich mit ihm! Dein Segen (Maria unterdrückt einen Seufzer)

wird ihn stärken und auch mir Kraft geben, wenn ich mich langsam von ihm losreißen muß.«

»Maria, Jesus wird immer dein sein! Dieser Ritus wird unsere Beziehungen nicht beeinflussen. Und ich werde ihn dir nicht abspenstig machen. Niemand anderer als du, meine Heilige, ist würdig, ihn ins Leben hinauszubegleiten!«

Maria verneigt sich, nimmt die Hand Josefs und küßt sie. Sie ist die ehrerbietige und liebevolle Braut des Gemahls!

Josef nimmt dieses Zeichen der Achtung und Liebe würdig entgegen.

Dann legt er die geküßte Hand auf Marias Haupt und sagt: »Ja, ich segne dich, du Gebenedeite, und Jesus mit dir. Kommt, meine einzigen Freuden, meine Ehre, meine einzige Aufgabe!« Josef spricht feierlich. Die Arme ausgebreitet, mit den Handflächen über den blonden, heiligen Häuptern, spricht er den Segen: »Der Herr beschütze und behüte euch; er erbarme sich euer und gebe euch seinen Frieden! Der Herr gebe euch seinen Segen!«

Und dann sagt er: »Jetzt wollen wir gehen! Die Stunde des Aufbruchs ist gekommen!«

Maria nimmt ein großes, dunkelrotes Tuch und legt es in Falten um den Körper des Sohnes. Sie liebkost ihn dabei.

Dann gehen sie aus dem Haus, schließen alles ab und machen sich auf den Weg. Sie gesellen sich zu anderen Pilgern, die die gleiche Richtung eingeschlagen haben. Außerhalb des Ortes trennen sich die Frauen von den Männern. Die Kinder gehen, mit wem sie wollen, Jesus bleibt bei der Mutter.

Die Pilger singen wandernd Psalmen. Die Landschaft ist frühlingshaft.

Frische Felder, frische Wiesen, frische Blätter an den Bäumen, die schon geblüht haben. Menschen singen auf den Feldern und Wegen.

Gezwitscher verliebter Vögel in den Bäumen . . . Klare Bächlein, in denen sich die Blumen an den Ufern spiegeln . . . Lämmlein, die am Mutterschafe hochspringen . . . Friede und Freude unter dem schönsten Aprilhimmel . . . So endet die Vision.

 

 

 

Die Prüfung des volljährigen Jesus im Tempel

 

Der Tempel an einem Festtag. Menschen kommen und gehen durch die Tore der Umfassungsmauer, durchschreiten Vorhöfe, Innenhöfe und Säulengänge, um dann in diesem oder jenem Gebäude des Tempelkomplexes zu verschwinden. Auch die Reisegesellschaft, zu der die Familie Jesu gehört, kommt nun, andächtig Psalmen singend, an.

Zuerst alle Männer, dann die Frauen. Ihnen haben sich auch andere Pilger angeschlossen; vielleicht sind auch sie aus Nazaret, oder vielleicht sind es Freunde aus Jerusalem. Ich weiß es nicht.

Josef trennt sich von der Gruppe, nachdem er mit den anderen an einem Ort den Allerhöchsten angebetet hat, zu dem nur die Männer Zutritt haben (die Frauen sind auf einer tieferen Terrasse stehengeblieben).

Er geht mit Jesus durch die Höfe zurück, biegt seitlich ab und betritt einen großen Raum, der wie eine Synagoge aussieht. Ich weiß nicht, warum. Gab es im Tempel auch Synagogen? Er spricht mit einem Leviten, und dieser verschwindet hinter einem gestreiften Vorhang, um dann mit einigen alten Priestern (ich nehme an, daß es Priester sind) zurückzukehren. Sicherlich sind es Lehrer der Gesetzeskunde, die die Aufgabe haben, die Gläubigen zu prüfen.

Josef stellt Jesus vor. Zuerst haben sich beide tief vor den zehn Gelehrten, die würdig auf niedrigen Holzschemeln sitzen, verneigt.

»Hier ist mein Sohn«, sagt Josef. »Seit drei Monaten und zwölf Tagen hat er das Alter, das das Gesetz für die Großjährigkeit vorschreibt.

Ich wünsche aber, daß er auch nach den israelitischen Vorschriften volljährig sei. Ich bitte zu beachten, daß er auch im Aussehen zeigt, daß er die Kindheit und die Minderjährigkeit beendet hat. Ich bitte euch, gnädig und gerecht zu prüfen und zu beurteilen, ob das, was ich als Vater vorbringe, der Wahrheit entspricht. Ich habe ihn auf diese Stunde und für die Würde, ein Sohn des Gesetzes zu werden, vorbereitet. Er kennt die Gebote, die Überlieferungen, die Beschlüsse und das Brauchtum mit den Schnüren. Er kennt die täglichen Gebete und Segnungen. Er kann, da er das Gesetz als solches und in seinen Verzweigungen die Halacha, der Midrasch und die Haggada kennt, als Mann auftreten. Ich bitte daher, von der Verantwortung über seine Handlungen und Sünden entbunden zu werden. Von nun an soll er den Vorschriften unterworfen sein und für seine Nachlässigkeiten gegen das Gesetz selbst verantwortlich sein. Prüft ihn!«

»Das werden wir tun. Tritt näher, Knabe! Wie ist dein Name?«

»Jesus des Josef von Nazaret.«

»Nazarener, kannst du lesen?«

»Ja, Rabbi. Ich kann die geschriebenen Wörter lesen und verstehe, was sie aussagen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß ich auch die Bedeutung der Sinnbilder oder Symbole verstehe, die sich unter dem Äußeren verbirgt, wie sich die Perle in der rohen, verschlossenen Muschel versteckt.«

»Eine ungewöhnliche und sehr weise Antwort! Selten hört man so etwas von den Lippen Erwachsener, erst recht nicht von denen eines Knaben, und noch dazu eines Nazareners.«

Die Aufmerksamkeit der Zehn erwacht. Sie wenden ihre Augen nicht mehr von dem schönen blonden Knaben ab, der sie so sicher, so unbefangen und furchtlos anblickt.

»Du machst deinem Lehrer, der gewiß sehr gelehrt war, Ehre.«

»Die Weisheit Gottes hat sich in seinem gerechten Herzen niedergelassen.«

»Du Glücklicher, Vater eines solchen Sohnes!«

Josef, im Hintergrund des Saales, verneigt sich und lächelt.

Sie geben Jesus drei verschiedene Schriftrollen und sagen: »Lies jene, die mit dem goldenen Band verschlossen ist.«

Jesus öffnet die Rolle und liest. Es sind die Zehn Gebote. Doch nach den ersten Worten nimmt ihm ein Richter die Rolle aus der Hand und sagt: »Fahre aus dem Gedächtnis fort.« Jesus fährt fort, so sicher, als ob er ablese. Jedesmal, wenn er den Namen des Herrn nennt, verneigt er sich tief.

»Wer hat dich das gelehrt? Warum tust du das?«

»Weil dieser Name heilig ist und mit einem inneren und äußeren Zeichen der Ehrfurcht ausgesprochen werden muß. Vor dem König, der nur für kurze Zeit König ist, verneigen sich die Untertanen; und doch ist er nur Staub. Sollte sich da nicht vor dem König der Könige, dem allerhöchsten Herrn Israels, der gegenwärtig, wenn auch nur dem Geist sichtbar ist, ein jedes Geschöpf verbeugen, das Ihm für die ganze Ewigkeit untertan ist?«

»Bravo! Mann, wir raten dir, laß deinen Sohn von Hillel oder Gamaliël unterrichten. Er ist zwar ein Nazarener, doch seine Antworten lassen hoffen, daß er ein neuer großer Lehrer werden wird.«

»Der Sohn ist volljährig. Er kann tun, was er will. Ich werde ihm nichts in den Weg legen, wenn das, was er will, ehrenhaft ist.«

»Knabe, höre! Du hast gesagt: „Vergiß nicht, die Feiertage zu heiligen!

Das gilt nicht nur für dich, sondern auch für deinen Sohn, deine Tochter, deinen Knecht, deine Magd und selbst für dein Zugtier.

Allen ist es verboten, am Sabbat zu arbeiten!“ Nun sage mir: Wenn eine Henne am Sabbat ein Ei legt oder ein Schaf ein Junges bekommt, ist es dann erlaubt, diese Leibesfrucht zu verwenden oder ist sie als Schandtat anzusehen?«

»Ich weiß, daß viele Rabbis und auch der lebende Schammai sagen, daß das am Sabbat gelegte Ei gesetzwidrig sei. Doch ich denke, daß der Mensch etwas anderes ist als das Tier oder als der tierische Akt des Gebärens. Wenn ich das Tier verpflichte, am Sabbat zu arbeiten, dann begehe auch ich seine Sünde; denn ich zwinge es mit der Peitsche zur Arbeit. Aber wenn ein Huhn ein Ei legt, das im Eierstock herangereift ist oder ein Schaf am Sabbat ein Junges wirft, dann ist ein solches Ereignis keine Sünde. Darum sind in den Augen Gottes das Ei und das Lämmlein, die am Sabbat ans Licht treten, keine Sünde.«

»Wieso das, wenn doch eine jede Arbeit am Sabbat Sünde ist?«

»Weil Empfangen und Gebären vom Willen des Schöpfers abhängen und geregelt werden durch das von ihm in jedes Geschöpf gelegte Gesetz. So gehorcht die Henne nur diesem Gesetz, das sagt, nach so und soviel Stunden ist das Ei bereit und muß gelegt werden.

Und auch das Lamm gehorcht nur dem Gesetz, das der gegeben hat, der alles erschaffen und auch festgelegt hat, daß zweimal im Jahre – wenn der Frühling auf den blühenden Wiesen lacht und wenn der Wald sich entblättert und die Kälte die Brust des Menschen schnürt – die Schafe zu ihren Böcken gehen, um dann zu gegebener Zeit Milch, Fleisch und nahrhaften Käse zu liefern für die Monate der harten Mühsal der Ernte oder der wachsenden Not der Kältezeit.

Wenn also ein Schaf zu seiner Zeit ein Junges wirft, so kann dieses sogar auf dem Altar als Opfer heilig sein, weil es die Frucht des Gehorsams dem Schöpfer gegenüber ist.«

»Ich werde nicht weiter fragen. Seine Weisheit übersteigt die der Erwachsenen und ist erstaunlich.«

»Nein. Er hat behauptet, auch die Symbole erklären zu können.

Hören wir ihn an!«

»Sag zuerst einen Psalm, die Segnungen und die Gebete!«

»Auch die Gebote!«

»Ja, auch die Midraschim!«

Jesus sagt mit großer Sicherheit eine ganze Litanei von Vorschriften auf . . . »das darfst du nicht . . . das unterlasse . . . « Wenn wir noch all diese Einschränkungen hätten, rebellisch wie wir sind, so versichere ich euch, daß niemand gerettet würde . . .

»Genug! Öffne nun die Schriftrolle mit dem grünen Band!«

Jesus öffnet sie und will mit der Lesung beginnen.

»Weiter vorne . . . noch weiter . . . «

Jesus gehorcht.

»Lies und erkläre, was dies bedeutet, wenn dir scheint, daß hier ein Symbol vorliege!«

»Im Wort Gottes fehlt es selten. Wir sind es, die nicht imstande sind, es zu sehen und anzuwenden. Ich lese im zweiten Buch der Könige Kapitel 22, Vers 10: „Schafan, der Schreiber, sagte in seinem Bericht an den König: ‚Der Hohepriester Hilkija hat mir eine Rolle gegeben.‘ Als Schafan es in der Gegenwart des Königs gelesen hatte, zerriß der König, nachdem er die Worte des Gesetzes Gottes gehört hatte, seine Kleider und gab . . . “«

»Überschlage die Namen . . . «

»„. . . folgende Anordnung: ‚Geht und fragt den Herrn für mich, für das Volk, für ganz Judäa über die Worte dieses Buches! Der große Zorn Gottes ist gegen uns entbrannt, weil unsere Väter die Worte dieses Buches nicht angehört haben und seine Vorschriften nicht befolgt haben‘ . . . “«

»Genug. Dies hat sich vor mehreren Jahrhunderten zugetragen.

Welches Symbol siehst du in diesem Vorkommnis der alten Chronik?«

»Ich finde, daß es keine Zeit für das gibt, was ewig ist. Gott ist ewig, unsere Seele ist ewig, ewig sind die Verbindungen zwischen Gott und der Seele. Was also vor langer Zeit die Strafe ausgelöst hat, ruft sie auch heute hervor, und so sind auch die Folgen der Sünde die gleichen.«

»Und weiter.«

»Israel besitzt die Weisheit nicht mehr, die von Gott kommt. Ihn, nicht die armen Menschen muß man um Erleuchtung bitten. Und diese Erleuchtung erhält man nicht, wenn man Gott gegenüber untreu und ungerecht ist. So wird gesündigt, und Gott straft in seinem Zorn.«

»Wir sollten die Weisheit nicht mehr kennen? Was sagst du da, Knabe? Und die sechshundertdreizehn Vorschriften?«

»Die Vorschriften sind da; aber es sind nur mehr Wörter. Wir kennen sie, doch wir befolgen sie nicht. Daher kennen wir sie nicht. Das Symbol bedeutet: jeder Mensch, jede Zeit muß den Herrn befragen, um seinen Willen zu erkennen und sich an ihn zu halten, um nicht seinen Zorn herauszufordern.«

»Der Knabe ist vollkommen. Nicht einmal die Schlinge der verfänglichen Frage hat ihn verwirrt. Er soll in die wahre Synagoge eingeführt werden.«

Gemeinsam gehen sie in einen größeren Raum. Hier kürzen sie ihm zuerst einmal die Haare. Josef nimmt die Locken an sich. Dann umgürten sie sein rotes Gewand mit einem langen Gürtel, den sie mehrmals um seine Taille winden. Sie legen ihm Streifen an die Stirne, an den Arm und an den Mantel, und befestigen diese mit einer Art Spangen. Darauf singen sie Psalmen, und Josef lobt den Herrn mit einem langen Gebet und erbittet alles Gute für den Sohn.

Die Zeremonie ist beendet und Jesus geht mit Josef fort. Auf dem Rückweg treffen sie mit den männlichen Verwandten zusammen. Sie kaufen und opfern ein Lamm. Dann begeben sie sich mit dem geschlachteten Opfer zu den Frauen.

Maria küßt ihren Jesus. Ihr ist, als habe sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie schaut ihn an, der nun mit dem veränderten Kleid und den geschnittenen Haaren wie ein Mann aussieht. Sie liebkost ihn. Sie gehen hinaus, und alles ist zu Ende.

 

 

 

Der Schmerz Marias, weil Jesus fehlt

 

Jesus sagt:

»Kleiner Johannes, habe Geduld! Hier ist noch etwas! Behandeln wir auch das noch, um deinen Seelenführer zufriedenzustellen und das Werk zu vollenden. Ich wünsche, daß diese Arbeit ihm morgen, am Aschermittwoch, übergeben wird. Ich will, daß du diese ermüdende Arbeit abschließt, denn . . . Ich will, daß du mit mir leidest.

So gehen wir noch einmal weit, weit zurück (22. Februar 1944 – Tatsächlich hatte sie am selben Tag Stücke geschrieben, die zur Passion und Verherrlichung gehörten). Wir gehen zum Tempel, worin der Zwölfjährige disputiert. Noch mehr.

Wir kehren zurück auf die Wege, die nach Jerusalem führen und in Jerusalem zum Tempel.

Du siehst die Angst Marias, als sie beim Zusammentreffen der Frauen und Männer feststellt, daß ich nicht bei Josef war. Sie erhebt nicht die Stimme in bitteren Vorwürfen gegen den Gefährten. Alle Frauen hätten dies getan. Ihr tut es geringer Dinge wegen und vergeßt, daß der Mann immer das Haupt der Familie ist.

Doch der Schmerz, der auf dem Antlitz Marias liegt, durchbohrt Josef mehr als jeder Vorwurf. Maria ergeht sich nicht in dramatischen Szenen. Ihr tut dies wegen geringfügiger Dinge, um bemerkt und bemitleidet zu werden. Doch ihr zurückgehaltener Schmerz ist offenkundig im Zittern, das sie befällt, im erbleichenden Antlitz mit den geöffneten Augen, das mehr Mitleid erregt als Tränen und Gejammer.

Sie ist nun weder müde noch hungrig. Und der Weg ist weit gewesen, und seit Stunden hat sie keine Stärkung mehr zu sich genommen.

Doch sie vergißt alles: auch das Lager, das vorbereitet, und das Essen, das bald ausgeteilt wird. Sie geht zurück; es ist Abend; die Nacht bricht herein. Das kümmert sie nicht. Jeder Schritt bringt sie Jerusalem näher. Sie hält die Karawanen und Pilger auf; sie stellt Fragen.

Josef folgt und hilft ihr. Eine Tagesreise verlangt die Rückkehr, und dann beginnt die rastlose Suche in der Stadt.

Wo, wo kann ihr Jesus nur sein? Und Gott läßt zu, daß sie viele Stunden nicht weiß, wo sie mich suchen könnte. Ein Kind im Tempel zu suchen, war doch eine Sinnlosigkeit. Was sollte ein Kind im Tempel tun?

Es hätte sich höchstens in der Stadt verlaufen können und wäre dorthin zurückgekehrt mit seinen kleinen Schritten und hätte mit weinender Stimme nach der Mutter gerufen und so die Aufmerksamkeit der Erwachsenen, besonders der Priester, auf sich ziehen können, die dann durch Anschläge an den Toren dafür gesorgt hätten, die Eltern ausfindig zu machen . . . Doch da war nirgends eine Bekanntmachung. Niemand wußte von diesem Knaben. Schön?

Blond? Kräftig? Oh, solche gibt es viele! Zu wenig, um sagen zu können: „Ich habe ihn gesehen. Er war da oder dort! . . . “

Dann, nach drei Tagen, symbolisch für die drei künftigen Tage der Angst, kommt Maria erschöpft in den Tempel und durcheilt die Höfe und Hallen. Nichts! . . . Die arme Mutter läuft nach allen Richtungen, von wo sie eine Knabenstimme zu vernehmen meint. Selbst das Blöken der Lämmlein kommt ihr wie Kinderweinen vor. Doch Jesus weint nicht. Er lehrt. Da hört Maria hinter einer Schranke von Menschen die teure Stimme, die soeben sagt: „Diese Steine werden erzittern . . . “ Sie versucht, die Menge zu zerteilen. Es gelingt ihr nach großer Mühe. Da steht ihr Sohn mit ausgebreiteten Armen inmitten der Gelehrten.

Maria ist die „kluge Jungfrau“. Doch diesmal überwindet der Kummer ihre gewohnte Zurückhaltung. Sie überwindet alle Hindernisse.

Sie eilt zu Jesus, umarmt ihn, hebt ihn vom Stuhl hoch, stellt ihn auf den Boden . . . und sagt: „Warum hast du uns das getan? Seit drei Tagen suchen wir dich. Deine Mutter stirbt vor Kummer, Sohn!

Dein Vater ist erschöpft! Warum, Jesus?“

Man fragt Den nicht nach dem „Warum“, der weiß. Berufene fragt man nicht, warum sie alles verlassen haben, um der Stimme Gottes zu folgen. Ich war die Weisheit und ich wußte. Ich war „berufen“

zu einer Sendung und erfüllte sie. Über dem irdischen Vater und der leiblichen Mutter war Gott, der göttliche Vater. Seine Interessen sind gewichtiger als unsere; seine Zuneigungen sind über alles erhaben.

Ich sage es meiner Mutter. Ich beendige die Unterweisung der Gelehrten mit der Unterweisung Marias, der Königin der Gelehrten.

Und sie hat es nie vergessen. Die Sonne war in ihr Herz zurückgekehrt, während sie meine Hand, demütig und gehorsam, hielt; aber meine Worte sind ihr im Herzen geblieben.

Viel Sonne und viele Wolken wandern am Himmel in den 21 Jahren, die ich noch auf Erden verbringe. Viel Freude und viel Schmerz wechseln sich in ihrem Herzen in diesen 21 Jahren ab. Doch sie wird nie mehr fragen: „Warum hast du uns dies angetan, mein Sohn?“

Lernt davon, ihr anmaßenden Menschen!

Ich selbst habe dich durch diese Vision geführt und sie dir erklärt, weil du außerstande bist, mehr zu tun!«