14.01.2016

DER AUSSÄTZIGE BEI CHORAZIM WIRD GEHEILT

nach Maria Valtorta

Mit einer fotografischen Genauigkeit habe ich seit dem frühen Morgen einen armen Aussätzigen vor meinem geistigen Auge.

Er ist wahrlich nur mehr ein menschliches Wrack. Ich könnte nicht einmal sagen, wie alt er ist, denn die Krankheit hat sich bei ihm verheerend ausgewirkt. Da er halbnackt ist, gewahrt man seinen zum Skelett abgemagerten Körper, der wie eine zerfressene Mumie aussieht. Hände und Füße sind verkrümmt und es fehlen Teile davon, so dass die kläglichen Gliedmaßen nichts Menschliches mehr an sich haben. Die armen verkrüppelten Hände gleichen den Pfoten eines geflügelten Monstrums, die Füße Ochsenhufen, so plump und entstellt sind sie.

Und erst der Kopf! Ich glaube, der Kopf eines Toten, der unbegraben bleibt und von der Sonne und dem Wind mumifiziert wird, könnte diesem Haupte gleichen. Einige übriggebliebene Haarbüschel da und dort auf der gelblichen Haut, die voller Krusten ist, gleich angetrocknetem Staub auf einem Schädel; halboffene und tiefeingefallene Augen; angefressene Lippen und eine Nase, bei der der Knorpel sichtbar wird; die Ohren, die nur ansatzmäßig vorhandene Muscheln sind; und alles überzogen von einer ledernen, gelblichen Haut, unter der die Knochen hervorstehen. Die Haut scheint nur die Aufgabe zu haben, die armen Knochen in ihrem schmutzigen „Sack“ zusammenzuhalten, der mit Narben und eitrigen Wunden bedeckt ist. Eine Ruine!

Beim Anblick dieses von einer vertrockneten Haut überzogenen Gerippes in seinem schmutzigen und zerfetzten Mantel überkommt mich unwillkürlich der Gedanke an den in der Welt umherziehenden „Tod“; nur hält dieser Mann statt der Sense einen knorrigen Ast als Stock in der Hand.

Er steht an der Schwelle einer abseits liegenden Spelunke, die so verwahrlost ist, dass ich nicht sagen kann, ob sie ursprünglich ein Grab oder ein Unterstand für Holzfäller war, oder ob sie der Überrest eines zerstörten Hauses ist.

Er blickt nach der Straße, die etwas mehr als hundert Meter von seinem Unterschlupf entfernt liegt, eine staubige Hauptstraße, auf der noch die Sonne brütet. Niemand bewegt sich auf ihr. Soweit das Auge reicht, nur Sonne, Staub und Einsamkeit. Weiter oben, in Richtung Nordwesten, muss ein Dorf oder eine Stadt sein. Ich kann die ersten Häuser in etwa einem Kilometer Entfernung sehen.

Der Aussätzige hält seufzend Ausschau. Dann nimmt er eine verbeulte Tasse, füllt sie an einem ärmlichen Rinnsal und trinkt. Nun schleppt er sich zu einem Gebüsch, bückt sich und reißt einige wilde Rüben aus dem Boden. Er geht zum Bächlein zurück, reinigt die Rüben im seichten Wasser vom ärgsten Schmutz und beginnt, langsam zu essen; unter großer Mühe führt er die verstümmelten Hände zum Mund. Die Rüben müssen hart wie Holz sein, denn er hat Mühe, sie zu kauen; oft muss er ausspucken, da er nicht schlucken kann, selbst wenn er Wasser dazu trinkt.

«Wo bist du, Abel?» ruft eine Stimme. Der Aussätzige wendet sich um, und auf seinen Lippen liegt etwas wie ein Lächeln. Doch es ist nur noch ein Zerrbild davon, denn diese Lippen, von denen nicht mehr viel übrigbleibt, vermögen nicht mehr zu lächeln. Mit eigenartig kreischender Stimme antwortet er: «Hier bin ich. Ich hoffte nicht mehr, dass du kommen würdest. Ich dachte, dir wäre ein Unheil zugestoßen; ich war sehr traurig. Wenn auch du mir fehlst, was bleibt dann dem armen Abel?» Während er so spricht, begibt er sich zur Straße, soweit ihm dies die Vorschriften erlauben.

Auf der Straße kommt ihm ein Mann mit raschen Schritten entgegen.

«Bist du es wirklich, Samuel? Oh, wenn du nicht der bist, den ich erwarte... wer du auch sein magst, tu mir kein Leid an!» «Ich bin es, Abel, wirklich ich... Und ich bin gesund. Schau, wie ich renne. Ich habe mich etwas verspätet, ich weiß. Ich war in Sorge um dich. Doch wenn du nun erfährst... oh, du wirst glücklich sein! Hier habe ich nicht nur die üblichen Brotkrusten, sondern ein ganzes, frisches, gutes Brot... nur für dich... auch guten Fisch und Käse. Alles für dich. Ich will, dass du feierst, mein armer Freund, um dich auf ein größeres Fest vorzubereiten.» «Seit wann bist du so reich? Ich verstehe nichts mehr ...» «Ich werde es dir sagen.» «Und du bist gesund, ich erkenne dich nicht wieder.» «Höre also: Ich erfuhr, dass in Kapharnaum der heilige Rabbi sei, und ich bin hingegangen...» «Bleib stehen, bleib stehen! Ich bin ansteckend! ...» «Oh, dass macht nichts, ich habe vor nichts mehr Angst.» Der Mann, der niemand anderer ist als der arme Gelähmte, der im Hause der Schwiegermutter des Petrus durch Jesus geheilt worden ist, steht nun wenige Schritte vor dem Aussätzigen. Er hat im Gehen gesprochen und dabei glücklich gelächelt.

Der Aussätzige sagt wiederum: «Im Namen Gottes, bleibe stehen! Wenn dich jemand sieht...» «Ich bleibe stehen... Schau, ich lege die Vorräte hierhin. Iß, während ich rede.» Er legt das Bündel auf einen großen Stein und öffnet es. Dann geht er einige Schritte zurück, während der Aussätzige näherkommt und sich auf die unerwartete Nahrung stürzt. «Oh, wie lange ist es her, seit ich das letzte Mal solche Sachen gegessen habe. Wie gut sie sind! Ich dachte schon, ich müßte mit leerem Magen zur Ruhe gehen. Kein einziger Mitleidiger ist heute gekommen, auch du nicht. So habe ich versucht, Wurzeln zu kauen ...» «Armer Abel! Ich habe es mir gedacht. Doch ich sagte mir: „Gut, jetzt wird er traurig sein, doch bald wird er glücklich sein.“» «Glücklich, ja, über die gute Nahrung...» «Nein, du wirst für immer glücklich sein!» Der Aussätzige schüttelt das Haupt.

«Höre, Abel, wenn du glauben kannst, wirst du glücklich sein.» «Glauben? An wen?» «An den Meister, an den Meister, der mich geheilt hat.» «Aber ich bin aussätzig und im Endstadium. Wie kann er mich heilen?» «Oh, er kann es! Er ist heilig!» «Ja, auch Elisäus heilte den aussätzigen Naaman; doch ich... ich kann nicht zum Jordan gehen.» «Du wirst ohne Wasser geheilt werden. Höre, dieser Meister ist der Messias, verstehst du? Der Messias! Der Sohn Gottes ist er. Und er wird alle heilen, die Glauben haben. Er sagt: „Ich will“, und die Dämonen fliehen, die Glieder werden gerade und die blinden Augen sehen!» «Oh, und ob ich den Glauben habe! Doch wo kann ich den Messias sehen?» «Deswegen bin ich gekommen. Er ist dort, in jenem Dorf. Ich weiß, wo er heute abend sein wird. Wenn du willst... ich habe mir gesagt: ich werde es Abel berichten, und wenn Abel fühlt, dass er glauben kann, dann werde ich ihn zum Meister begleiten.» «Bist du verrückt, Samuel? Wenn ich mich Häusern nähere, werde ich gesteinigt!» «Nicht zu den Häusern. Der Abend bricht an. Ich bringe dich bis zum Wäldchen; dann werde ich gehen und den Meister rufen. Ich begleite dich!» «Geh, geh schnell weg! Ich werde allein bis dorthin gehen. Ich werde zwischen den Hecken im Graben kriechen. Doch du, geh, geh! Oh, geh, mein guter Freund! Wenn du wüßtest, was es heißt, diese Krankheit zu haben... und was es heißt, auf Heilung hoffen zu können!» Der Aussätzige kümmert sich nicht mehr um die Nahrung. Er weint und fleht seinen Freund mit Gesten an.

«Ich gehe, und du kommst nach!» sagt der ehemalige Gelähmte und eilt davon.

Abel kriecht mühsam in den Graben, der längs der Straße verläuft und voller Disteln ist. Nur in der Mitte ist ein dünnes Rinnsal. Der Abend sinkt nieder, während der Unglückliche sich durch das Sträucherdickicht dahinschleppt, immer auf der Lauer, ob er einen Schritt hört. Zweimal legt er sich flach in den Graben. Das erste Mal wegen eines Reiters, der auf der Straße vorbeitrabt; das zweite Mal, weil drei Männer vorbeikommen, die mit Heu beladen zum Dorfe gehen. Dann kriecht er weiter.

Doch noch vor ihm erreicht Jesus mit Samuel das Wäldchen. Samuel sagt zu Jesus: «Gleich wird er kommen. Er kann nur langsam gehen wegen der Wunden. Habe Geduld!» «Ich habe keine Eile.» «Wirst du ihn heilen?» «Glaubt er?» «Oh! ... Er starb fast vor Hunger; er sah nach vielen Jahren der Entbehrung die erste gute Nahrung; er hat alles bis auf einige Bissen zurückgelassen, um so rasch als möglich hierherzukommen.» «Woher kennst du ihn?» «Ich lebte von Almosen, nachdem ich verunglückt war, und ich zog auf den Straßen von einem Ort zum anderen. Hier kam ich jeden siebten Tag vorbei, und so lernte ich den Armen kennen... an einem Tage, da er vom Hunger getrieben bis zur Straße kam, auf der Suche nach etwas Eßbarem. Es war während eines furchtbaren Gewitters. Er wühlte im Abfall wie ein Hund. Ich hatte trockenes Brot im Beutel, eine Gabe mildtätiger Menschen, und teilte es mit ihm. Seitdem sind wir Freunde, und jede Woche versorge ich ihn mit dem, was ich habe... Habe ich viel, bekommt er reichlich, habe ich wenig, erhält er wenig. Ich tue, was ich kann, als wäre er mein Bruder. Und seit dem Abend, da du mich geheilt hast — gepriesen seist du dafür — denke ich an ihn... und an dich!» «Du bist gut, Samuel. Darum hat die Gnade dich heimgesucht. Wer liebt, erhält alles bei Gott. Doch hier ist etwas im Gebüsch!» «Bist du es, Abel?» «Ich bin es.» «Komm, der Meister erwartet dich hier unter dem Nußbaum!» Der Aussätzige kriecht aus dem Graben und rutscht mühsam die Böschung hinauf bis zur Wiese. Jesus steht dort, mit dem Rücken an einen sehr hohen Nußbaum gelehnt, und erwartet ihn.

«Meister, Messias, Heiliger, habe Erbarmen mit mir!» ruft der Aussätzige aus und wirft sich im Grase Jesus zu Füßen. Das Gesicht noch auf dem Erdboden, ruft er noch einmal: «O mein Herr! Wenn du willst, kannst du mich rein machen!» Dann richtet er sich auf und kniend hebt er die knochendürren Arme mit den verkrüppelten Händen hoch und zeigt das verwüstete Gesicht... Die Tränen rinnen ihm über die Wangen und die wunden Lippen.

Jesus betrachtet ihn voller Erbarmen. Er betrachtet diese Menschenlarve, die zerstört ist durch die schreckliche Krankheit. Nur eine wahre Nächstenliebe erträgt ihre Nähe, so abstoßend und stinkend ist sie.

Doch siehe, Jesus streckt ihm seine schöne, gesunde Hand entgegen, seine rechte Hand, wie um den Armen zu streicheln.

Dieser jedoch wirft sich zurück auf die Fersen und schreit: «Berühre mich nicht! Habe Erbarmen mit dir!» Doch Jesus macht einen Schritt vorwärts. Feierlich, voller Güte und Milde legt er seine Hand auf das vom Aussatz zerfressene Haupt und sagt mit ruhiger, liebevoller, doch auch machtvoller Stimme: «Ich will! Sei rein!» Die Hand bleibt einige Augenblicke auf dem armen Haupt. «Steh auf, geh zum Priester und erfülle, was das Gesetz vorschreibt! Erzähle nicht, was ich dir getan habe. Bleibe nur gut! Sündige nie wieder! Ich segne dich.» «O Herr! Abel! Du bist ganz gesund!» ruft Samuel, der die Verwandlung des Freundes beobachtet hat, freudig aus.

«Ja, er ist gesund. Durch seinen Glauben hat er es verdient. Lebe wohl! Der Friede sei mit dir!» «Meister! Meister! Meister! Ich gehe nicht weg von dir! Ich kann mich nicht von dir trennen.» «Tu, was das Gesetz vorschreibt! Dann sehen wir uns wieder. Zum zweiten Mal komme mein Segen über dich!» Jesus geht und gibt Samuel ein Zeichen, dass er bleiben soll. Die beiden Freunde weinen vor Freude, während sie im Mondschein zum letzten Mal in die Unglückshöhle zurückkehren.

Die Vision endet hier.