30.08.2016

DER BESESSENE VON KAFARNAUM WIRD IN DER SYNAGOGE GEHEILT

nach Maria Valtorta

Ich sehe die Synagoge von Kafarnaum. Sie ist schon voller wartender Menschen. Menschen an der Türe spähen auf den Platz hinaus, der noch sonnenbeschienen ist, obwohl es schon gegen Abend geht. Endlich ein Ausruf: »Der Meister kommt!«

Die Leute drehen sich alle dem Ausgang zu; die Kleineren stehen auf den Zehenspitzen oder drängen sich nach vorne. Wortwechsel, einige Püffe, ungeachtet der Warnungen von seiten der Angestelltender Synagoge und der Älteren der Stadt.

»Der Friede sei mit allen, die die Wahrheit suchen!« Jesus steht an der Schwelle und grüßt segnend, mit nach vorne ausgestreckten Armen, die Menge. Das lebhafte Licht des sonnigen Platzes umrahmt die Gestalt und umkleidet sie mit Glanz. Jesus hat das helle Gewand mit dem dunkelblauen vertauscht. Er geht durch die Menge, die ihm den Weg frei gibt, nach vorne. Hinter ihm scharen sich jedoch sofort wieder die Menschen zusammen, wie eine hohe Woge ein Schiff umspült.

»Ich bin krank, heile mich!« jammert ein Junge, der dem Aussehen nach schwindsüchtig ist und Jesus am Kleid festhält.

Jesus legt ihm seine Hand aufs Haupt und sagt: »Hab Vertrauen, Gott wird dich erhören. Laß mich zuerst zum Volk reden; dann werde ich zu dir kommen.«

Der Junge läßt das Kleid Jesu los und verhält sich ruhig.

»Was hat er zu dir gesagt?« fragt eine Frau mit einem Kind im Arm.

»Er hat gesagt, er wird zu mir kommen, nachdem er zum Volk gesprochen hat.«

»Wird er dich dann heilen?«

»Ich weiß es nicht. Er hat nur gesagt: „Vertraue!“ So will ich hoffen.«

»Was hat er gesagt?«

»Was hat er gesagt?«

Die Menge ist neugierig. Die Antwort Jesu wird herumgeboten.

»Dann will ich auch mein Kind holen.«

»Und ich werde meinen alten Vater hierherbringen.«

»Oh, wenn doch Haggai kommen wollte! Ich will es versuchen,

doch er wird nicht kommen.«

Jesus hat seinen Platz eingenommen. Er grüßt den Vorsteher der Synagoge und wird von diesem gegrüßt. Es ist ein kleiner Mann, dick und alt, und um mit ihm reden zu können, muss sich Jesus zu

ihm niederbücken. Es sieht aus, als neigte sich eine Palme über einen Strauch, der breiter als hoch ist.

»Was soll ich dir sagen?« fragt der Synagogenvorsteher.

»Was du willst, oder überlasse es der Fügung. Der Geist wird es lenken.«

»Aber wirst du vorbereitet sein?«

»Ich bin es. Wie es sich fügt. Ich wiederhole, der Geist des Herrn wird die Wahl zum Wohl des Volkes lenken.«

Der Vorsteher streckt die Hand nach dem Bündel von Pergamentrollen aus, entnimmt ihm eine, öffnet sie und hält dann an einer bestimmten Stelle inne. »Hier beginne ich«, sagt er.

Jesus nimmt die Rolle und liest die bezeichnete Stelle [Jos 7,13]:

»Josua: „Steh auf, weihe das Volk und sage ihm: ‚Heiligt euch für morgen; denn der Herr, der Gott Israels, sagt: Das Verderben ist in deiner Mitte, o Israel, du kannst nicht vor deinem Feind bestehen, solange nicht aus deiner Mitte entfernt ist, wer sich mit diesem Frevel befleckt hat.‘ „«

Jesus hält inne, rollt das Pergament zusammen und gibt es dem Vorsteher zurück.

Die Menge ist gespannt. Nur wenige flüstern: »Wir werden nun etwas Schönes gegen unsere Feinde hören.«

»Es ist der König Israels, der Verheißene, der sein Volk sammelt.« Jesus streckt die Arme aus in seiner üblichen Redehaltung.

Es herrscht nun vollkommene Stille.

»Der, der gekommen ist, euch zu heiligen, ist aufgestanden. Er hat die Abgeschiedenheit des Hauses verlassen, wo er sich vorbereitet hat für seine Sendung. Er hat sich der Reinigung unterzogen, um euch das Beispiel der Reinheit zu geben. Er hat seinen Platz eingenommen vor den Mächtigen dieser Zeit und dem Volk Gottes, und nun ist er unter euch. Ich bin es! Nicht wie einige unter euch es sich vorstellen und erhoffen, mit vernebeltem Geist und Aufruhr im Herzen. Größer und erhabener ist das Reich, dessen künftiger König ich bin und zu dem ich euch aufrufe.

Ich rufe euch auf, ihr Israeliten, früher als jedes andere Volk, weil ihr es seid, die von den Vätern der Väter die Verheißung dieser Stunde und das Bündnis mit dem Allerhöchsten, dem Herrn erhalten, habt. Aber nicht mit bewaffneten Truppen und nicht mit Blutvergießen wird dieses Reich gebildet, und es werden darin nicht die Gewalttätigen, die Herrschsüchtigen, die Stolzen, die Jähzorni-

gen, die Eifersüchtigen, die Unkeuschen, die Geizigen zugelassen werden, sondern die Guten, die Sanftmütigen, die Zufriedenen, die Barmherzigen, die Demütigen, die Geduldigen und die Gott und

den Nächsten Liebenden.

Israel, du wirst nicht aufgerufen, gegen die äußeren Feinde zu kämpfen, sondern gegen die inneren; gegen die, die in dem Herzen eines jeden sind; in den Herzen deiner zehntausend und aber zehntausend Söhne. Reißt das Verderben der Sünde aus jedem einzelnen Herzen, wenn ihr wollt, dass Gott euch morgen zusammenruft und zu euch sagt: „Mein Volk, dir gehört das Reich, das nicht mehr bedroht, nicht mehr überfallen, nicht mehr durch Feinde besetzt wird.“

Morgen. Was heißt dieses „Morgen“? In einem Jahr oder in einem Monat? Oh, sucht nicht! Sucht nicht mit ungesunder Sucht zu erfahren, was die Zukunft bringt; mit Mitteln, die den Gebrauch

sündhafter Hexerei an sich haben.

Laßt den Heiden die Götzen! Laßt Gott, dem Ewigen, das Geheimnis seiner Zeit. Von morgen an, dem Morgen, der nach dieser Abendstunde kommt und in der Nacht seinen Anfang nimmt, der mit dem Hahnenschrei anbricht: kommt und reinigt euch in wahrer Buße!

Büßt für eure Sünden, um Vergebung zu erlangen und für das Reich bereit zu sein. Reißt das Schandmal der Sünde aus euren Herzen. Ein jeder hat das seine. Ein jeder hat etwas in sich, das mit den zehn Geboten des ewigen Heiles im Widerspruch steht. Mit Aufrichtigkeit soll sich jeder prüfen, und ihr werdet herausfinden, wo ihr gefehlt habt. Seid demütig und bereut. Ihr müßt das Verlangen und den Willen haben, zu bereuen; aber nicht nur mit Worten. Gott irrt sich nicht und läßt sich nicht betrügen. Bereut mit dem festen Willen, der euch zur Änderung eures Lebens führt und euch wieder im Gesetz Gottes verankert. Das Himmelreich erwartet euch: morgen!

„Morgen?“ fragt ihr. Oh, die Stunde Gottes ist immer ein schnelles „Morgen“, selbst wenn es im Verlauf eines langen Lebens kommt wie das der Patriarchen. Die Ewigkeit hat als Maß der Zeit, nicht das langsame Rinnen der Sanduhr. Die Zeitmaße, die ihr Stunden, Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte nennt, sind nur Pulsschläge des Ewigen Geistes, der euch am Leben erhält. Doch ihr seid ewig eurem Geist nach und müßt für diesen Geist das gleiche Zeitmaß anwenden wie

euer Schöpfer.

Sagt euch daher: „Morgen ist mein Todestag.“ Indessen wird es nicht der Tod für den Gläubigen sein, sondern eine Ruhe in der Erwartung des Messias, der die Pforten des Himmels öffnen wird.

Wahrlich, ich sage euch, unter den Anwesenden sind nur siebenundzwanzig, die nach dem Sterben warten müssen. Die anderen sind schon vor dem Tod gerichtet, und der Tod wird für sie der

unverzügliche Übergang zu Gott oder zum Dämon sein; denn der Messias ist bereits erschienen. Er ist unter euch und ruft euch, um euch die Frohe Botschaft zu bringen, um euch in der Wahrheit zu

unterrichten und euch für den Himmel zu retten.

Tut Buße! Der Morgen des Himmelreiches ist nahe. Er soll euch rein vorfinden, damit ihr Besitzer des ewigen Tages werdet. Der Friede sei mit euch.«

Es erhebt sich ein bärtiger, bleicher Israelit, um Jesus zu widersprechen.

»Meister, was du sagst, steht im Widerspruch zu dem, was im zweiten Buch der Makkabäer, Israels Ruhm, zu lesen ist. Dort steht geschrieben: „Es ist wahrlich ein Zeichen großen Wohlwollens, den

Sündern nicht zu erlauben, lange Zeit hinter ihren Launen herzulaufen, sondern sie sofort zu bestrafen. Mit uns verhält sich der Herr nicht wie mit den anderen Nationen, die er mit Geduld erwartet, um sie am Tag des Gerichtes zu bestrafen, wenn das Maß der Sünden voll ist.“ Du hingegen sprichst so, als ob der Allerhöchste im Strafen sehr langsam wäre und uns wie die anderen Völker zur Zeit des Gerichtes erwartete, wenn das Maß der Sünden voll ist. Wahr-

lich, diese Tatsachen entgehen dir. Israel wird bestraft, wie der Geschichtsschreiber der Makkabäer sagt. Wenn es jedoch so wäre, wie du sagst, stünden dann deine Lehre und die im erwähnten Satz enthaltene, nicht im Widerspruch zueinander?«

»Wer du bist, weiß ich nicht. Doch wer du auch sein magst, ich antworte dir. Es gibt keine Widersprüche in der Lehre, sondern nur in der Art der Auslegung der Worte. Du legst sie in menschlicher Weise aus, ich in geistiger. Du, als Vertreter der Mehrheit, siehst alles in Beziehung zur Gegenwart und zum Vergänglichen. Ich, als Vertreter Gottes, erkläre und bringe alles in Beziehung mit dem Ewigen, dem Übernatürlichen. Jahwe hat euch gegenwärtig bestraft wegen eurer aufs Diesseits ausgerichteten Gerechtigkeit und eures Hochmuts. Aber wie hat er euch geliebt und wieviel Geduld übt er, mehr als mit irgendeinem anderen Volke, da er euch den Erlöser schenkt, seinen Messias, damit ihr ihn anhört und euch rettet vor der Stunde des göttlichen Zornes. Er will nicht, dass ihr weiterhin Sünder bleibt. Wohl hat er euch in eurer Hinfälligkeit geschlagen; da er aber sah, dass die Wunde nicht heilt, sondern euren Geist immer mehr abstumpfen läßt, sieh, da schickte er euch nicht Züchtigung, sondern das Heil. Er schickte euch den, der euch heilt und rettet: mich, der ich zu euch rede.«

»Findest du es nicht kühn, wenn du dich als einen Vertreter Gottes bezeichnest? Keiner der Propheten wagte soviel und du . . . Wer bist du, dass du so sprichst? Und auf wessen Geheiß sprichst du?«

»Die Propheten konnten von sich selbst nicht sagen, was ich über mich sage. Wer ich bin? Der Ersehnte, der Verheißene, der Erlöser. Ihr habt schon gehört, was der Vorläufer sagte: „Bereitet den Weg des Herrn . . . Seht, der Herr, unser Gott, der da kommt . . . Wie ein Hirte wird er seine Herde weiden, obwohl er selbst das wahre Osterlamm ist.“ Unter euch haben mehrere diese Worte des Vorläufers gehört und gesehen, wie der Himmel sich öffnete für ein Licht, das in Gestalt einer Taube herniederkam. Sie haben eine Stimme vernommen, die gesagt hat, wer ich bin. Auf wessen Geheiß ich rede? Auf Befehl dessen, der ist und der mich sendet.«

»Du kannst dies sagen; doch du kannst auch ein Lügner oder ein Betrüger sein. Deine Worte sind heilig; doch manchmal versucht Satan sich unter dem Deckmantel heiliger Worte zu verstecken, um so den Menschen irrezuführen. Wir kennen dich nicht!«

»Ich bin Jesus des Josef, aus dem Geschlecht Davids, geboren in Betlehem-Efrata, gemäß den Verheißungen. Ich werde der Nazoräer genannt, denn in Nazaret bin ich zu Hause. Dies in menschlicher Sicht. In den Augen Gottes bin ich sein Gesandter. Meine Jünger wissen es . . . «

»Oh, sie! Sie können sagen, was sie wollen, und das, was du ihnen zu sagen gebietest.«

»Ein anderer wird sprechen, der mich nicht liebt, und sagen, wer ich bin. Warte, ich will einen der hier Anwesenden zu mir rufen.«

Jesus betrachtet die Menge, die verblüfft und in zwei Lager geteilt ist. Er schaut umher, einen mit seinen blauen Augen suchend . . .

Dann ruft er laut: »Haggai! Komm nach vorne; ich befehle es dir!«

Große Bewegung unter dem Volk, das den Weg freigibt, um einem Mann Platz zu machen, der von einem Zittern befallen ist und der von einer Frau gestützt wird.

»Kennst du diesen Mann?«

»Ja. Es ist Haggai des Maleachi, hier von Kafarnaum. Er ist von einem bösen Geist besessen, der in ihm plötzliche Tobsuchtsanfälle auslöst.«

»Kennen ihn alle?«

Die Menge schreit: »Ja, ja . . . «

»Kann einer sagen, dass er schon mit mir gesprochen hat, auch nur wenige Minuten?«

Die Menge ruft: »Nein, nein; er geht nie aus dem Haus, und niemand hat dich dort gesehen.«

»Bring ihn zu mir, Frau!«

Die Frau zieht und stößt den Armen, der immer stärker zittert.

Der Vorsteher warnt Jesus: »Sei vorsichtig, der Teufel quält ihn... dann schlägt er um sich und kratzt und beißt.« Die Menschen weichen zu den Wänden zurück. Die zwei stehen sich jetzt gegenüber.

Ein Augenblick inneren Kampfes. Es scheint, dass der Mann, der gewöhnlich stumm ist, sich nun zu sprechen bemüht. Er heult . . . dann formt sich sein Geheul zu Worten: »Was ist zwischen uns und

dir, Jesus von Nazaret? Warum bist du gekommen, uns zu quälen, uns zu vernichten? Du, Herr des Himmels und der Erde! Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes. Kein Lebender war größer, als du

bist, denn in deinem menschlichen Leib ist der Geist des Ewigen Siegers eingeschlossen. Du hast mich schon besiegt in . . . «

»Schweig! Fahre aus ihm! Ich befehle es dir?«

Der Mann wird von einem Anfall geschüttelt. Er windet sich, als ob er von jemandem mit Stößen und Hieben mißhandelt würde . . . stößt unmenschliche Schreie aus, schäumt und wird auf den Boden geworfen . . . von dem er sich verwundert und geheilt erhebt.

»Hast du gehört? Was sagst du nun?« fragt Jesus seinen Gegner.

Der bärtige Mann hebt die Schultern und geht besiegt und ohne zu antworten fort. Die Menge verhöhnt ihn und spendet Jesus Beifall.

»Ruhe, der Ort ist heilig«, sagt Jesus. Dann ordnet er an: »Bringt mir den Jungen, dem ich die Hilfe Gottes versprochen habe.«

Der Kranke kommt. Jesus streichelt ihn. »Du hast geglaubt, sei geheilt! Geh in Frieden und sei gerecht!«

Der Junge schreit auf. Wer weiß, was er empfindet? Er wirft sich zu Füßen Jesu, küßt sie und dankt: »Ich danke dir in meinem und auch im Namen meiner Mutter!«

Andere Kranke kommen. Ein Kind mit gelähmten Beinen. Jesus nimmt es in die Arme, liebkost es, stellt es auf den Boden . . . und läßt es los. Das Kind fällt nicht; es springt zur Mutter, die es wei-

nend an ihr Herz drückt und dann mit lauter Stimme »den Heiligen Israels« preist. Auch ein blinder Greis kommt, von seiner Tochter geführt. Auch er wird mit einem Streicheln der kranken Augenhöhlen geheilt.

Jesus wird stürmisch gepriesen.

Er bahnt sich lächelnd einen Weg; obwohl er hochgewachsen ist, würde er nicht durchkommen, wenn Petrus, Jakobus, Andreas und Johannes nicht großzügig mit den Ellbogen zu Werke gingen und von der Ecke bis zu Jesus eine freie Bahn schaffen würden. Unter ihrem Schutz gelingt es Jesus, den Ausgang zu erreichen und auf den Platz hinauszugehen, von dem nunmehr die Sonne gewichen ist.

Damit endet die Vision.