08.03.2016

DER GELÄHMTE AM TEICH VON BETHSAIDA

nach Maria Valtorta

Jesus befindet sich in Jerusalem, genauer gesagt in der Umgebung der Burg Antonia. Bei ihm sind alle Apostel mit Ausnahme von Judas Iskariot. Eine große Menschenmenge bewegt sich eilenden Schrittes zum Tempel. Alle sind festlich gekleidet, die Apostel wie die anderen Pilger, und ich nehme an, dass gerade das Pfingstfest gefeiert wird. Viele Bettler mischen sich unter das Volk mit ihrem mitleidheischenden Gejammer! Sie sind auf dem Weg zu den besten Plätzen, d.h. zu den Toren des Tempels und den Wegkreuzungen, an denen die Leute vorbei müssen. Jesus geht, Almosen austeilend, an ihnen vorüber, während sie ihm all ihr Elend aufzählen und beschreiben. Ich habe den Eindruck, dass Jesus bereits im Tempel gewesen ist; denn ich höre die Apostel über Gamaliel reden, der tat, als ob er Jesus nicht sähe, obwohl sein Schüler Stephanus ihn auf seine Ankunft aufmerksam gemacht hat.

Ich vernehme auch, wie Bartholomäus seine Gefährten fragt: «Was hat der Schriftgelehrte wohl mit dem Satz gemeint: „Eine Hammelherde für einen billigen Schlachthof?“»

«Er wird von einem seiner Geschäfte gesprochen haben», antwortet Thomas.

«O nein, er meinte uns damit. Ich habe es wohl gemerkt. Denn der folgende Satz bestätigt den Sinn des ersten: „Bald wird auch er als Lamm zur Schur und zur Schlachtbank geführt werden.“»

«Ja, auch ich habe es gehört», bestätigt Andreas.

«Stimmt! Ich hätte große Lust, zurückzukehren und den Begleiter des Schriftgelehrten zu fragen, was er von Judas des Simon weiß», sagt Petrus.

«Was wird er schon wissen! Judas ist diesmal nicht dabei, weil er tatsächlich krank ist. Wir wissen es. Vielleicht hat ihn die Reise wirklich zu sehr angestrengt. Wir sind kräftiger. Er hat immer ein bequemes Leben geführt und wird schnell müde», meint Jakobus des Alphäus.

«Ja, wir wissen es; aber der Schriftgelehrte hat auch gesagt: „Es fehlt das Chamäleon der Gruppe.“ Ist das Chamäleon nicht das Tier, dass seine Farbe wechseln kann sooft es will?» fragt Petrus.

«Ja, Simon. Aber sie haben sicher damit gemeint, dass er immer neue Kleider trägt. Er hält etwas darauf, er ist noch jung. Man muss Mitleid mit ihm haben...» beruhigt ihn der Zelote.

«Auch das stimmt. Jedoch! ... Welch eigenartige Bemerkungen!»schließt Petrus.

«Er glaubt immer, er sei bedroht», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Auch wir glauben immer, bedroht zu sein, und sehen Gefahren, wo keine sind!» bemerkt Judas Thaddäus.

«Und wir sehen Fehler, wo keine sind», schließt Thomas.

«Ach ja, mißtrauisch zu sein, ist schlimm... Wer weiß, wie es Judas heute geht? Er wird sich wie im Paradies vorkommen, bei diesen Engeln... Um diese Wonne genießen zu können, möchte auch ich beinahe krank sein!» sagt Petrus, und Bartholomäus antwortet: «Hoffen wir, dass er bald wieder gesund wird. Wir müssen wirklich bald ans Ziel unserer Reise kommen, denn die Hitze beginnt drückend zu werden.»

«Oh, an Pflege wird es ihm nicht fehlen, und außerdem denkt ja auch der Meister an ihn, wenn etwas geschähe», versichert Andreas.

«Er hatte hohes Fieber, als wir ihn verlassen haben. Ich weiß nicht, wie er es bekommen hat ...» sagt Jakobus des Zebedäus, und Matthäus fügt hinzu: «Wie man eben Fieber bekommt! Es musste wohl kommen. Aber es wird nichts passieren. Der Meister hat keinerlei Bedenken. Wenn er etwas Schlimmes vermutete, hätte er das Schloß Johannas nicht verlassen.»

Jesus ist tatsächlich unbesorgt. Er unterhält sich mit Margziam und Johannes, während er vorausgeht und Almosen verteilt. gewiss erklärt er dem Knaben viele Dinge, denn ich sehe, wie er auf dieses und jenes hinweist. Er geht dem Ende der Tempelmauer zu, zur Nord-Ost-Ecke. Dort sind viele Menschen, die sich zu einem von mehreren Säulen umgebenen Platz begeben. Dieser Platz befindet sich vor einem Tor, dass ich „Herdentor“ nennen höre.

«Hier ist der Teich der Prüfung: der Teich von Bethsaida. Nun schau gut auf das Wasser. Siehst du, es liegt jetzt völlig still. Bald wird es steigen bis oben zum noch feuchten Rand. Siehst du? Dann steigt der Engel des Herrn herab, dass Wasser spürt es und verehrt ihn, wie es kann. Er bringt dem Wasser den Befehl, den zu heilen, der bereit ist, darin unterzutauchen. Siehst du die vielen Menschen? Aber viele sind nicht genügend aufmerksam und sehen die erste Bewegung des Wassers nicht; oder aber die Stärkeren stoßen in liebloser Weise die Schwächeren zurück. Man darf sich von den Zeichen Gottes nicht ablenken lassen. Man muss die Seele immer wachsam halten, denn man weiß nie, wenn Gott sich zeigt oder seinen Engel schickt. Und man darf nie selbstsüchtig sein, nicht einmal, um der Gesundheit willen. Oft geschieht es, dass diese Unglücklichen darüber streiten, wer das Wasser zuerst berühren darf oder wer es am nötigsten hat; so bringen sie sich um die Wohltat der Ankunft des Engels», erklärt Jesus geduldig dem kleinen Margziam, der ihn mit weitgeöffneten Augen aufmerksam anschaut und zugleich auch das Wasser im Auge behält.

«Kann man den Engel sehen? Das würde mir gefallen.»

«Levi, der Hirte, der in deinem Alter ist, sieht ihn. Paß auch du gut auf und sei bereit, ihn zu preisen!»

Der Knabe läßt sich nun von nichts mehr ablenken. Seine Augen blicken bald auf das Wasser, bald über das Wasser; anderes sieht und hört er nicht mehr.

Indessen betrachtet Jesus das kleine Volk der Kranken, Blinden, Krüppel und Gelähmten, die warten.

Auch die Apostel schauen aufmerksam zu. Die Sonne spielt mit ihrem Licht auf dem Wasser und bemächtigt sich als Königin auch der fünf Säulengänge, welche die Becken umgeben.

«Schau da, schau!» jubelt Margziam. «Das Wasser steigt, es bewegt sich, es funkelt! Was für ein Licht! Der Engel!»... und das Kind wirft sich auf die Knie.

Tatsächlich kommt Bewegung in das Wasser im Becken, dass wie ein Spiegel in der Sonne gleißt und nun plötzlich anschwillt und bis zum Beckenrand ansteigt. Für einen Augenblick ein blendender Glanz! Ein Lahmer ist bereit, sich ins Wasser zu tauchen; gleich darauf steigt er wieder heraus, und das Bein, dass durch eine große Narbe verunstaltet war, ist völlig geheilt. Die anderen beklagen sich und streiten mit dem Geheilten und werfen ihm vor, dass er nicht arbeitsunfähig war, wie sie es sind. Der Streit dauert an.

Jesus sieht sich um und erblickt einen Gelähmten, der auf seiner Bahre leise vor sich hinweint. Er nähert sich ihm, beugt sich über ihn und fragt: «Du weinst?»

«Ja. Niemand denkt an mich. Ich bin immer hier. Alle werden geheilt, ich nie. Schon achtundreißig Jahre liege ich auf dem Rücken. Ich habe meine ganze Habe aufgezehrt; meine Angehörigen sind gestorben, und nun bin ich bei einem entfernten Verwandten, der mich morgens hierher bringt und am Abend wieder abholt... Ich bin für ihn eine große Belastung! Oh, ich möchte sterben!»

«Verliere nur nicht den Mut. Du hast viel Geduld und Glauben bewiesen, Gott wird dich erhören!»

«Ich hoffe es... Aber es kommen Augenblicke der Trostlosigkeit. Du bist gut, aber die anderen... Wer geheilt ist, sollte sich Gott dankbar erweisen, hierbleiben, um den armen Brüdern zu helfen.»

«Das sollte er wirklich tun. Doch habe deswegen keinen Groll in deinem Herzen. Sie denken nicht daran. Es ist keine Bosheit ihrerseits. Die Freude, geheilt zu sein, macht sie zu Egoisten. Verzeih ihnen ...»

«Du bist gut. Du würdest nicht so handeln. Ich gebe mir Mühe, mich auf den Händen hinzuschleppen, wenn das Wasser aufwallt; doch es kommt mir immer ein anderer zuvor; am Rand kann ich mich nicht aufhalten, ich würde niedergetrampelt werden. Aber selbst wenn ich mich dort aufhalten würde, wer würde mich ins Wasser tauchen? Wenn ich dich früher gesehen hätte, hätte ich dich darum gebeten ...»

«Willst du wirklich geheilt werden? Dann erhebe dich! Nimm dein Bett und gehe!» Jesus hat sich erhoben, um diesen Befehl zu erteilen, und es scheint, als habe er auch den Gelähmten erhoben; denn dieser stellt sich auf seine Füße und macht ein, zwei, drei Schritte – er kann es kaum fassen – hinter Jesus her, der sich entfernt; und da er nun gewahr wird, dass er wirklich gehen kann, stößt er einen Schrei aus, so dass sich alle umwenden.

«Aber wer bist du? Im Namen Gottes, sage es mir! Bist du vielleicht der Engel des Herrn?»

«Ich bin mehr als ein Engel. Mein Name ist „Erbarmen“. Geh im Frieden!»

Alle drängen sich herbei. Sie wollen sehen. Sie wollen reden. Sie wollen geheilt werden. Aber da kommen schon die Tempelwachen herbei, die anscheinend auch den Teich überwachen, und stoßen die schreiende Menge unter Drohungen zurück.

Der Gelähmte nimmt sein Bett: zwei Stangen auf zwei Paar kleinen Rädern und ein zerrissenes Tuch, dass auf die Stangen genagelt ist; er geht glücklich davon und ruft Jesus zu: «Ich werde dich wiederfinden! Ich werde dein Gesicht und deinen Namen nicht vergessen.»

Jesus ist unter die Menge getreten; er geht in entgegengesetzter Richtung der Stadtmauer zu. Aber er hat die letzte Säulenhalle noch nicht verlassen, da hält ihn auch schon eine Gruppe von Juden der übelsten Klasse, wie von einer wilden Furie gepeitscht, an, alle vereint im Verlangen, Jesus Unverschämtheiten zu sagen. Sie suchen, sie schauen umher, sie forschen. Aber es gelingt ihnen nicht, zu erfahren, was vorgefallen ist, und Jesus geht weg, während die Juden, enttäuscht, sich auf einen Hinweis der Wächter auf den armen, glücklichen Geheilten stürzen und ihm vorwerfen: «Warum trägst du das Bett? Es ist Sabbat! Das ist dir nicht erlaubt!»

Der Mann schaut sie an und sagt: «Ich verstehe euch nicht. Ich weiß nur, dass er, der mich geheilt hat, sagte: „Nimm dein Bett und wandle.“ Das weiß ich!»

«Es war sicher ein Dämon, der dir befohlen hat, den Sabbat zu entheiligen. Wie sah er aus? Wer war es? Ein Jude? Ein Galiläer? Ein Proselyt?»

«Ich weiß es nicht. Er war hier. Er sah mich weinen und kam zu mir. Er sprach mit mir. Er heilte mich. Er ging mit einem Kind an der Hand weg. Ich glaube, es war sein Sohn; denn er ist alt genug, um einen Sohn jenes Alters zu haben.»

«Ein Kind? So war er es nicht! ... Wie war sein Name? Hast du ihn nicht gefragt? Lüge nicht!»

«Er hat mir gesagt, dass er „Erbarmen“ heißt.»

«Du Dummkopf! Das ist doch kein Name!»

Der Mann hebt die Schultern und geht fort.

Die anderen sagen: «Er war es ganz bestimmt. Die Schriftgelehrten Ananias und Zachäus sahen ihn im Tempel.»

«Aber er hat doch keine Kinder!»

«Und doch ist er es. Er war mit seinen Jüngern da.»

«Aber Judas war nicht dabei, den kennen wir gut! Die anderen... sie können allerlei Volk sein.»

«Nein, sie gehören zu ihm!»

Der Wortstreit geht weiter, während die Säulenhallen sich wieder mit Kranken anfüllen...

Jesus kehrt von einer anderen Seite in den Tempel zurück. Von der Westseite her, die besonders mit der Stadt verbunden ist. Die Apostel folgen ihm. Jesus blickt umher und sieht schließlich das, was er sucht: Jonathan, der ihn ebenfalls sucht.

«Es geht ihm besser, Meister. Das Fieber sinkt. Deine Mutter sagt, dass sie hofft, bis zum kommenden Sabbat kommen zu können.»

«Danke Jonathan. Du bist pünktlich gewesen.»

«Nicht sehr. Maximinus des Lazarus hat mich aufgehalten. Er ist auf der Suche nach dir. Er ist zur Säulenhalle Salomons gegangen.»

«Ich werde ihn einholen. Der Friede sei mit dir, und bringe meinen Frieden der Mutter und den frommen Frauen, und auch Judas.»

Jesus geht eilends zur Säulenhalle Salomons, wo er tatsächlich Maximinus vorfindet.

«Lazarus hat erfahren, dass du hier bist. Er möchte dich sehen, um dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Wirst du kommen?»

«Ohne Zweifel. Und zwar sehr bald. Du kannst ihm sagen, dass er mich in dieser Woche erwarten kann.»

Maximinus geht, nachdem sie noch einige Worte gewechselt haben.

«Beten wir noch etwas, da wir bis hierher zurückgekommen sind», sagt Jesus und geht auf den Vorhof der Hebräer zu.

Dort aber begegnet er dem geheilten Gelähmten, der dem Herrn im Tempel gedankt hat. Der Geheilte entdeckt Jesus in der Menge, begrüßt ihn freudig und erzählt, was ihm nach seinem Weggehen zustieß. Er schließt mit den Worten: «Einer, der sehr erstaunt über meine Heilung war, hat mir gesagt, wer du bist. Du bist der Messias. Ist das wahr?»

«Ich bin es! Aber auch, wenn du durch das Wasser oder eine andere Macht geheilt worden wärest, hättest du immer dieselbe Verpflichtung Gott gegenüber gehabt: jene, die Gesundheit zu guten Werken benützen. Du bist nun geheilt. Kehre daher mit guten Vorsätzen zu den täglichen Pflichten zurück. Und sündige nicht mehr, damit Gott dich nicht noch einmal strafen muss.

Geh in Frieden!»

«Ich bin alt... ich kann nichts... Aber ich möchte dir folgen, um dir zu dienen und um zu lernen. Willst du mich?»

«Ich weise niemand ab. Überlege es dir jedoch, bevor du kommst. Und wenn du dich entschlossen hast, dann komm!»

«Wohin? Ich weiß nicht, wohin du gehst ...»

«Durch die Welt. Überall wirst du Jünger finden, die dich zu mir führen. Der Herr erleuchte dich zu deinem Wohl!»

Jesus geht an seinen Platz und betet...

Ich weiß nicht, ob der Geheilte spontan zu den Juden tritt oder ob diese, auf der Lauer, ihn anhalten, um zu erfahren, ob der Mann, mit dem er soeben gesprochen hat, ihn auch auf wunderbare Weise heilte. Ich weiß nur, dass er sich mit den Juden unterhält und dann weitergeht, während sie sich zur Treppe begeben, die Jesus hinabsteigen muss, um zu den anderen Höfen und zum Ausgang des Tempels zu gelangen.

Als Jesus kommt, sagen sie zu ihm, ohne ihn zu grüßen: «Du fährst also fort, den Sabbat zu schänden nach all den Rügen, die dir schon erteilt worden sind! Und dann verlangst du noch, dass man dich als einen Gesandten Gottes achtet?»

«Als Gesandten? Noch viel mehr: als Sohn Gottes; denn Gott ist mein Vater. Wenn ihr mich nicht achten wollt, dann laßt es eben bleiben. Aber ich werde deswegen nicht aufhören, meine Mission auszuüben. Gott hört keinen Augenblick auf, tätig zu sein. Auch jetzt ist mein Vater tätig, und ich bin ebenfalls tätig; denn ein guter Sohn tut, was sein Vater tut, und ich bin gekommen, um auf Erden zu wirken.»

Das Volk hat sich angesammelt, um den Disput mitanzuhören. Es sind Leute darunter, die Jesus kennen, andere, die von ihm Wohltaten empfangen haben, und wieder andere, die ihn zum erstenmal sehen; einige lieben ihn, andere hassen ihn, die meisten sind unschlüssig. Die Apostel umringen den Meister. Margziam hat Angst, und sein Gesichtsausdruck verrät, dass er den Tränen nahe ist.

Die Juden, Schriftgelehrten, Pharisäer und Sadduzäer schreien laut und verärgert: «Du wagst es? Oh, du nennst dich Sohn Gottes? Sakrileg! Gott ist, der da ist, und er hat keinen Sohn! Ruft doch Gamaliel und holt Sadok! Versammelt die Rabbis, damit sie hören und widerlegen.»

«Regt euch nicht auf! Ruft sie, und sie werden euch sagen, ob es wahr ist, dass Gott der Eine und Dreieinige ist: Vater, Sohn und Heiliger Geist, und dass das Wort, also der Sohn des Gedankens, gekommen ist, wie es prophezeit ist, um Israel und die Welt von den Sünden zu erlösen. Das Wort bin ich! Ich bin der verheißene Messias! Es ist daher keine Gotteslästerung, wenn ich den Vater meinen Vater nenne. Ihr seid beunruhigt, weil ich Wunder wirke; weil ich dadurch die Menge an mich ziehe und sie überzeuge. Ihr klagt mich an, ein Dämon zu sein, weil ich Wunder wirke. Aber Beelzebub ist schon seit Jahrhunderten auf der Welt, und wahrlich, es fehlt ihm nicht an Anbetern... Warum tut er denn nicht, was ich tue?»

Das Volk flüstert: «Das stimmt! Das ist wahr! Niemand tut, was er tut.»

Jesus fährt fort: «Ich sage euch: es kommt daher, dass ich weiß, was er nicht weiß, und kann, was er nicht kann. Wenn ich die Werke Gottes vollbringe, dann deshalb, weil ich sein Sohn bin. Niemand kann etwas tun, was er nicht vorher einen anderen hat tun sehen. Ich, der Sohn, tue nur das, was ich den Vater habe tun sehen, da ich von Ewigkeit zu Ewigkeit eins mit ihm bin, und weder im Wesen noch im Wirken verschieden von ihm bin. Alle Dinge, die der Vater tut, vollbringe auch ich, da ich sein Sohn bin. Weder Beelzebub noch andere können das tun, was ich tue, weil weder Beelzebub noch die anderen das wissen, was ich weiß. Der Vater liebt mich, seinen Sohn, und er liebt mich ohne Maß, wie auch ich ihn liebe. Deshalb zeigt er mir immer alles, was er tut, damit ich das tue, was er tut: Ich auf der Erde in dieser Zeit der Gnade, er im Himmel seit den Zeiten, als es die Erde noch nicht gab. Und er wird mir immer noch größere Werke zeigen, die ich vollbringen soll, damit ihr euch darüber wundert.

Sein Gedanke ist unerschöpflich im Ausdenken. Ich ahme ihn nach, da ich unerschöpflich bin in der Erfüllung dessen, was der Vater denkt und in Gedanken wünscht. Ihr wißt noch nicht, was die unerschöpfliche Liebe alles vermag. Wir sind die Liebe. Und es gibt keine Begrenzung für uns, und es gibt nichts, was nicht angewendet werden könnte auf die drei Grade des Menschen: den niedrigen, den höheren und den geistigen. Und wahrlich, so wie der Vater die Toten erweckt und ihnen das Leben wiedergibt, so kann auch ich, der Sohn, dass Leben denen geben, die ich erwecken will. Mehr noch, durch die unendliche Liebe des Vaters für den Sohn ist es mir erlaubt, nicht nur dem niederen, sondern auch dem höheren Grad das Leben wiederzugeben, durch die Befreiung des Gedankens und des Herzens des Menschen von den Irrtümern seines Verstandes und den bösen Leidenschaften; und was den geistigen Teil betrifft, so kann ich die Befreiung von den Sünden bewirken, denn der Vater verurteilt niemanden, sondern hat das Gericht dem Sohne übergeben, da der Sohn es ist, der durch sein eigenes Opfer die Menschheit erkauft, um sie zu erlösen; und das tut der Vater aus Gerechtigkeit, denn es ist nur gerecht, dem zu geben, der mit eigener Münze zahlt, und damit alle den Sohn ehren, wie sie bereits den Vater ehren.

Wißt also, wenn ihr den Vater vom Sohn trennt oder den Sohn vom Vater und euch der Liebe nicht erinnert, dann liebt ihr Gott nicht, wie es ihm gebührt: mit Wahrheit und Weisheit; sondern ihr verfällt der Irrlehre, sofern ihr nur einem allein die Ehre gebt, während sie eine wunderbare Dreifaltigkeit bilden. Wer den Sohn nicht ehrt, ist wie einer, der den Vater nicht ehrt: denn der Vater, Gott, nimmt es nicht hin, dass nur ein Teil von ihm angebetet wird. Er will in seiner Ganzheit angebetet werden. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der ihn als seinen vollkommenen Gedanken der Liebe gesandt hat. Er leugnet daher, dass Gott seine Werke recht zu machen weiß.

In Wahrheit sage ich euch: wer mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, der wird das ewige Leben haben und nicht verdammt werden, sondern vom Tod zum Leben übergehen; denn an Gott glauben und mein Wort annehmen bedeutet, in sich das Leben aufnehmen, dass nicht stirbt.

Die Stunde ist im Kommen, für viele ist sie bereits gekommen, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören, und wer sie im Grunde des Herzens als Lebensspenderin vernommen hat, der wird leben.

Was sagst du, Schriftgelehrter?»

«Ich sage, dass die Toten nichts mehr hören und dass du von Sinnen bist.»

«Der Himmel wird dich überzeugen, dass es nicht so ist und dass dein Wissen nichts ist im Vergleich zum Wissen Gottes. Ihr habt die übernatürlichen Dinge so sehr vermenschlicht, dass ihr den Worten keine andere Bedeutung mehr gebt als eine unmittelbare und irdische. Ihr habt die Haggada gelehrt, auf bestimmte Formeln festgelegt, und zwar eure eigenen, ohne euch zu bemühen, die Allegorien in ihrer Wahrheit zu erfassen; und jetzt, da euch der Druck der Menschlichkeit, die über den Geist triumphiert, ermüdet hat, glaubt ihr das nicht mehr, was ihr selbst lehrt. Und das ist der Grund, weshalb ihr nicht mehr gegen die finsteren Mächte ankämpfen könnt.

Der Tod, von dem ich spreche, ist nicht der Tod des Fleisches, sondern der des Geistes. Es werden jene kommen, die mit den Ohren mein Wort hören, und es in ihr Herz aufnehmen und in die Tat umsetzen. Diese werden, auch wenn sie geistig tot sind, zum Leben erweckt; denn mein Wort ist Leben, dass vergeistigt. Und ich kann es geben, wem ich will, denn in mir ist die Fülle des Lebens, und wie der Vater in sich das vollkommene Leben hat, so hat auch der Sohn das Leben vom Vater in sich selbst, dass vollkommene, vollständige, ewige, unerschöpfliche und übertragbare Leben. Und mit dem Leben hat mir der Vater die Gewalt gegeben zu richten; denn der Sohn des Vaters ist der Menschensohn, und er kann und muss den Menschen richten.

Wundert euch nicht über diese erste, geistige Auferstehung, die ich mit meinem Wort bewirke. Ihr werdet noch viel größere Dinge sehen, größer für eure schwerfälligen Sinne, denn in Wahrheit sage ich euch, es gibt nichts Größeres als die unsichtbare, doch wirkliche Auferstehung eines Geistes. Bald kommt die Stunde, dass die Gräber von der Stimme des Gottessohnes durchdrungen werden, und alle, die in den Gräbern sind, werden sie hören. Und die Gutes getan haben, werden hervorgehen zur Auferstehung des ewigen Lebens, und die Böses getan haben, zur Auferstehung der ewigen Verdammung.

Ich will damit nicht sagen, dass ich es aus mir selbst und durch meinen eigenen Willen tue: ich handle durch den Willen meines Vaters, der mit dem meinigen vereinigt ist. Ich spreche und urteile gemäß dem, was ich höre, und mein Urteil ist richtig, weil ich nicht meinen Willen suche, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Ich bin nicht vom Vater getrennt. Ich bin in ihm, und er ist in mir, und ich kenne seine Gedanken und setze sie in Wort und Tat um.

Was ich da sage, um für mich Zeugnis abzulegen, kann für euren ungläubigen Geist unannehmbar sein, der in mir nichts anderes sehen will als einen Menschen, der euch allen gleich ist. Noch einen anderen gibt es, der für mich Zeugnis ablegt und von dem ihr sagt, dass ihr ihn als großen Propheten verehrt. Ich weiß, dass sein Zeugnis wahr ist. Aber ihr, die ihr sagt, dass ihr ihn verehrt, nehmt das Zeugnis nicht an, weil es euch nicht gefällt und ihr mir feindlich gesinnt seid. Ihr nehmt das Zeugnis des gerechten Mannes, des letzten Propheten Israels, nicht an, in allem, was euch nicht gefällt, und ihr sagt, auch er sei nur ein gewöhnlicher Mensch und könne irren.

Ihr habt Johannes fragen lassen in der Hoffnung, dass er, was mich betrifft, nach euren Gedanken antworten werde. Aber Johannes hat ein der Wahrheit entsprechendes Zeugnis abgelegt, und ihr habt es nicht angenommen. Denn der Prophet sagt, dass Jesus von Nazareth der Sohn Gottes ist; ihr aber sagt – doch nur im Herzen, denn ihr fürchtet die Menschen – dass der Prophet ein Wahnsinniger ist, wie es auch Christus ist. Ich selbst jedoch erhalte kein Zeugnis vom Menschen, auch wenn es sich um den Heiligsten von Israel handelt; ich sage euch: er war die brennende und leuchtende Lampe, ihr aber habt nur für kurze Zeit ihr Licht genutzt. Als dieses Licht sich über mich verbreitet hat, um euch Christus erkennen zu lassen als das, was er ist, da habt ihr die Leuchte unter den Scheffel gestellt. Vorher habt ihr schon zwischen euch und dem Licht eine Mauer errichtet, um im Schein des Lichtes nicht den Gesalbten des Herrn erkennen zu müssen.

Ich bin Johannes für sein Zeugnis dankbar, und auch der Vater ist ihm dafür dankbar. Und Johannes wird großen Lohn für dieses sein Zeugnis erhalten. Er wird daher im Himmel leuchten. Als die erste Sonne wird er strahlen, strahlen wie alle, die der Wahrheit treu und hungrig nach der Gerechtigkeit gewesen sind. Aber ich habe noch ein größeres Zeugnis als das des Johannes, und das ist das Zeugnis meiner Werke. Denn die Werke, die der Vater mir zu erfüllen aufgetragen hat, verrichte ich, und diese bezeugen, dass der Vater mich gesandt und mir jede Macht gegeben hat. Und so ist es der Vater selbst, der mich gesandt hat, der zu meinen Gunsten Zeugnis ablegt.

Ihr habt seine Stimme nie vernommen noch sein Antlitz geschaut. Aber ich habe ihn gesehen und sehe ihn immer. Ich habe ihn gehört und höre ihn. In euch wohnt nicht sein Wort, weil ihr nicht an ihn glaubt, der mich gesandt hat.

Ihr forscht in der Schrift, weil ihr glaubt, durch ihre Kenntnis das ewige Leben erwerben zu können. Und ihr seht nicht, dass gerade die Schriften es sind, die von mir sprechen. Und warum wollt ihr immer noch nicht zu mir kommen, um das Leben zu besitzen? Ich sage es euch: wenn ihr etwas findet, dass euren verknöcherten Ideen widerspricht, weist ihr es zurück. Es fehlt euch die Demut! Ihr bringt es nicht über euch, zu sagen: „Ich habe gefehlt; dieser oder dieses Buch sagen die Wahrheit, und ich bin im Irrtum.“ So habt ihr es mit Johannes getan, so mit den Schriften, so mit dem Wort, dass zu euch spricht. Ihr könnt nicht mehr sehen und verstehen, weil ihr in eurem Hochmut eingehüllt und von euren eigenen Stimmen besessen seid.

Glaubt ihr, dass ich so zu euch spreche, weil ich von euch verherrlicht werden möchte? Nein, wißt, ich suche und nehme kein Lob von den Menschen an. Was ich suche und will, ist euer ewiges Heil. Das ist die Ehre, die ich suche. Mein Ruhm als Erlöser kann kein anderer sein als Erlöste zu haben, und ich werde um so größer sein, je mehr Erlöste ich habe. Das ist die Ehre, die mir gegeben werden muss von den geretteten Seelen und vom Vater und vom Heiligen Geist. Aber ihr werdet nicht gerettet werden. Ich habe euch erkannt wie ihr wirklich seid. Ihr habt keine Gottesliebe in euch. Ihr seid ohne Liebe. Und deswegen gelangt ihr nicht zur Liebe, die zu euch spricht, und deswegen geht ihr nicht ins Reich der Liebe ein. Dort seid ihr unbekannt. Der Vater kennt euch nicht, weil ihr mich nicht anerkennt, der ich im Vater bin. Ihr wollt mich nicht erkennen.

Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr habt mich nicht aufgenommen, während ihr bereit seid, einen jeden aufzunehmen, der im eigenen Namen kommt, vorausgesetzt, dass er euch nach dem Mund redet. Ihr sagt, dass in euren Seelen der Glaube zuhause ist. Nein, dass ist nicht wahr. Wie könnt ihr glauben, ihr, die ihr um irdische Ehre bettelt, und nicht den Ruhm des Himmels sucht, der von Gott allein ausgeht? Den Ruhm, der die Wahrheit ist, und nicht ein Interessenspiel, dass nicht über die weltlichen Dinge hinausgeht und nur der lasterhaften Menschlichkeit der entarteten Söhne Adams schmeichelt.

Ich werde euch beim Vater nicht anklagen. Denkt so etwas nie! Es ist schon einer da, der euch anklagt. Es ist Moses, auf den ihr hofft. Er wird euch vorwerfen, dass ihr nicht an ihn glaubt, weil ihr nicht an mich glaubt; denn er hat von mir gesprochen, und ihr erkennt mich nicht an dem, was er schriftlich hinterlassen hat. Ihr glaubt nicht an die Worte von Moses, der doch jener Große ist, bei dem ihr schwört! Wie könnt ihr an die Worte des Menschensohnes glauben, der für euch ein Gotteslästerer ist? Menschlich gesprochen ist das logisch. Aber hier befinden wir uns auf dem Gebiet des Geistes, und eure Seelen sind im Widerspruch zu ihm. Gott beobachtet sie im Licht meiner Werke, und er vergleicht eure Handlungen mit dem, was ich euch zu lehren gekommen bin. Und Gott richtet euch.

Ich gehe jetzt. Lange Zeit werdet ihr mich nicht wiedersehen. Wißt, dass dies kein Sieg ist, sondern eine Strafe. Gehen wir!»

Und Jesus durchschreitet die Menge, die teils verstummt ist, teils aus Furcht vor den Pharisäern beifällig flüstert, und entfernt sich.