03.02.2016

DER SABBAT IN DER SYNAGOGE VON NAZARETH

nach Maria Valtorta

Wiederum in der Synagoge von Nazareth, diesmal am Sabbat.

Jesus hat die Anklage gegen Abimelech gelesen und schließt mit den Worten: «Es soll ein Feuer von ihm ausgehen und die Zedern des Libanon verzehren.» Dann gibt er dem Synagogenvorsteher die Schriftrolle zurück.

«Willst du nicht auch den Rest lesen? Es wäre gut zum besseren Verständnis des Apologs», sagt der Synagogenvorsteher.

«Es ist nicht notwendig. Die Zeit des Abimelech ist fern. Ich wende den alten Apolog auf die heutige Zeit an.

Hört, hört, ihr Leute von Nazareth.

Ihr kennt bereits die Anwendung des Apologs gegen Abimelech durch die Unterweisung eures Vorstehers, der seinerzeit durch einen Rabbi unterrichtet worden ist. Und dieser Rabbi hatte den Text auf die gleiche Weise und mit den gleichen Schlußfolgerungen ausgelegt wie seine Vorgänger seit Jahrhunderten.

Von mir werdet ihr eine andere Anwendung vernehmen. Und ich bitte euch, euren Verstand zu benützen und nicht wie Stricke zu sein, die um die Brunnenrolle laufen und, solange sie nicht abgenützt sind, von der Rolle zum Wasser und vom Wasser zur Rolle gehen, ohne etwas anderes tun zu können.

Der Mensch ist weder ein Stück Hanf noch ein mechanisches Werkzeug. Der Mensch ist mit einem Verstand versehen, den er den Bedürfnissen und den Verhältnissen entsprechend gebrauchen muss.

Denn wenn auch der Buchstabe des Wortes ewig ist, so ändern sich doch die Umstände. Armselig sind die Meister, die sich nicht die Mühe nehmen noch die Genugtuung suchen, zu gegebener Zeit Neues zu lehren, also den zeitgemäßen Sinn, den die alten Worte immer enthalten, ausfindig zu machen.

Sie gleichen einem Echo, dass immer nur dasselbe Wort wiederholen kann, zehn- und nochmals zehnmal; aber ohne auch nur ein einziges Mal ein eigenes Wort zu sagen.

Die Bäume, oder vielmehr die Menschheit, die mit den vielen Bäumen und Pflanzen des Waldes gemeint ist, fühlen das Bedürfnis, von jemandem geführt zu werden, der nicht nur alle Ehren und Vorrechte annimmt, sondern auch, und das ist viel schwerwiegender, die Last der Autorität; das heißt die Verantwortung für das Glück oder Unglück seiner Untergebenen; die Verantwortung gegenüber den benachbarten Völkern und, was viel schrecklicher ist, gegenüber Gott. Denn die Kronen und die sozialen Ränge, welche es auch immer sein mögen, sind von den Menschen gewollt, dass ist wahr, aber sie sind auch von Gott zugelassen; von dem Gott, ohne dessen Zustimmung keine menschliche Macht sich durchsetzen kann. Ein Umstand, der undenkbare und unvorhergesehene Ablösungen von Dynastien und den Verlust von Machtstellungen erklärt, die ewig und unantastbar schienen, die aber, als sie in der Bestrafung oder Prüfung der Völker das Maß überschritten hatten, von denselben Völkern durch Zulassung Gottes gestürzt wurden und so in ein Nichts, in Staub und manchmal sogar in den Schlamm elender Kloaken gestürzt wurden.

Ich habe gesagt: Die Völker fühlen das Bedürfnis, sich jemanden auszuwählen, der alle Verantwortung den Untergebenen, den benachbarten Völkern und Gott gegenüber auf sich nimmt.

Wenn schon das Gericht der Geschichte furchtbar ist und die Interessen der Völker es vergebens zu ändern versuchen, weil Ereignisse und neue Völker es vor die ursprüngliche Wahrheit stellen, so ist das Gericht Gottes noch furchtbarer; denn Gott ist keinem Druck von außen ausgesetzt und kennt keine Launen und Änderungen in seinen Urteilen, wie dies bei den Menschen zu oft der Fall ist; und noch weniger kann er in seinem Urteil irren. Es wäre daher vonnöten, dass die Erwählten der Völker und Urheber der Geschichte mit einer heroischen, den Heiligen eigenen Gerechtigkeit handelten, um nicht in den künftigen Jahrhunderten mit Schmach bedeckt und von Gott in alle Ewigkeit gestraft zu werden.

Doch kehren wir zurück zur Lehre des Abimelech.

Die Bäume wollten sich also einen König erwählen und begaben sich zum Ölbaum. Aber dieser heilige und für übernatürliche Zwecke geheiligte Baum – wegen des Öles, dass vor dem Herrn brennt und eine wichtige Rolle beim Zehnten und den Opfergaben spielt; der seine Flüssigkeit für die Herstellung von heiligem Balsam für die Salbung des Altars, der Priester und der Könige liefert; da derselbe eine, ich möchte sagen, wunderbare Wirkung auf die Menschen oder die Körper der Kranken ausübt -dieser Baum antwortete: „Wie kann ich gegen meine heilige und übernatürliche Berufung fehlen und mich zu irdischen Dingen erniedrigen?“

Oh! Welch eine süße Antwort des Ölbaumes!

Warum ist sie nie gelernt und praktiziert worden von jenen, die Gott zu seiner heiligen Mission erwählt hat; wenigstens von ihnen, sage ich? Denn diese Antwort sollte in Wahrheit jeder Mensch auf die Einflüsterungen Satans geben, da jeder Mensch König und Kind Gottes ist, mit einer Seele beschenkt, die ihn zu einem königlichen und göttlichen Sohn macht, der zu übernatürlichen Dingen berufen ist. Er hat eine Seele, die ein Altar und eine Wohnung ist. Der Altar Gottes und das Haus, in das der Vater des Himmels herabsteigt, um von seinem Sohn und Untergebenen Liebe und Ehrfurcht zu empfangen. Jeder Mensch hat eine Seele, und da jede Seele Altar ist, macht sie aus dem Menschen, der er ist, einen Priester, einen Hüter des Altares; im Buch Leviticus steht geschrieben: „Der Priester soll sich nicht beflecken.“

Der Mensch hätte daher die Pflicht, auf die Versuchungen Satans, des Fleisches und der Welt zu antworten: „Kann ich aufhören, geistlich zu sein und mich um materielle und sündige Dinge zu kümmern?“

Die Bäume gingen darauf zum Feigenbaum und luden ihn ein, über sie zu herrschen. Aber der Feigenbaum antwortete: „Wie soll ich auf meine Süßigkeit und meine köstlichen Früchte verzichten, um euer König zu werden?“

Viele wenden sich an den, der süß und angenehm ist, damit er ihr König werde. Nicht so sehr, weil sie seine Süßigkeit schätzen als vielmehr in der Hoffnung, dass er wegen seiner Süßigkeit ein Spottkönig sein werde, bei dem sie alles durchsetzen und mit dem sie sich jede Freiheit erlauben könnten. Aber die Süßigkeit ist keine Schwäche. Sie ist Liebe. Gerecht, intelligent und beständig! Verwechselt die Süßigkeit nicht mit Schwäche. Erstere ist eine Tugend, die zweite ein Fehler. Und da sie Tugend ist, vermittelt sie dem Besitzer eine Geradheit des Gewissens, die ihm erlaubt, den Beeinflussungen und Verführungen der Menschen zu widerstehen, die versuchen, ihn ihren Interessen gefügig zu machen, die nicht die Interessen Gottes sind; er wird um jeden Preis seiner Aufgabe treu bleiben.

Wer sanften Herzens ist, wird niemals mit Bitterkeit auf die Schmähungen anderer reagieren. Verzeihend und lächelnd wird er immer sagen: „Bruder, laß mir meine süße Bestimmung. Ich bin hier, um dich zu trösten und dir zu helfen; aber ich kann nicht der König werden, wie du ihn dir vorstellst, denn ich verlange nur nach dem einen Königtum für deine und meine Seele: nach dem geistigen.“

Die Bäume gingen zum Weinstock und baten ihn, ihr König zu sein. Aber der Weinstock antwortete: „Wie kann ich darauf verzichten, Freude und Kraft zu geben, um über euch herrschen zu können?“

Das Königtum bringt infolge der Verantwortung und der Gewissensbelastung immer Sorgen mit sich; denn viel seltener als ein schwarzer Diamant ist ein König, der nicht sündigt und sich keine Vorwürfe zu machen braucht. Die Macht ist verführerisch, solange sie wie ein Leuchtturm aus der Ferne strahlt; aber wenn man in der Nähe ist, sieht man, dass es nur ein Glühwürmchen ist und kein Stern.

Und ferner: Die Macht ist nur eine Kraft, die mit tausend Stricken gefesselt ist: durch die Interessen der Höflinge, der Verbündeten, die persönlichen Interessen und die der Verwandten. Wie viele Könige schwören sich selbst, während das Öl sie weiht: „Ich will unparteiisch sein“, und sie sind es doch nicht. Wie ein mächtiger Baum, der sich nicht gegen die erste Umklammerung des weichen, zarten Efeus wehrt, weil er sich sagt: „Er ist so schwach, dass es mir nicht schaden kann“, ja, dem es sogar gefällt, von einer Girlande geschmückt, ihr Beschützer zu sein; so läßt sich ein König fast immer die erste Umklammerung des Interesses eines Höflings, eines Verbündeten oder Verwandten gefallen; und er gefällt sich darin, der großzügige Beschützer zu sein. „Es ist ja nur eine Kleinigkeit“, sagt er sich, wenn ihm auch das Gewissen laut zuruft: „Paß auf!“ Und er denkt, dass er keinen Schaden leidet, weder an seiner Macht noch an seinem guten Namen. Auch der Baum macht es so. Doch es kommt der Tag, da der Efeu, der Zweig um Zweig herangewachsen ist, an Kraft und Länge zugenommen hat und voller Gier die Säfte aus dem Stamm saugt und zur Sonne aufsteigt, den mächtigen Stamm vollkommen umklammert, ihn überragt, erstickt und tötet. Und der Efeu war doch so zart! Und der Baum war doch so stark!

Auch dem König geht es so. Ein erster Kompromiß mit der eigenen Sendung, ein erstes Achselzucken gegenüber der Stimme des Gewissens, denn Lobsprüche sind angenehm, und das Ansehen als gesuchter Beschützer gefällt; dann aber kommt der Augenblick, da nicht mehr der König regiert, sondern die Interessen der anderen, die ihn gefangen halten, ihn knebeln bis zum Ersticken und ihn erdrücken, wenn er, der nun der Schwächere ist, sich nicht beeilt zu sterben.

Auch der gewöhnliche Mensch, der immer König in seinem Geist ist, verliert sich, wenn er aus Stolz oder Habsucht eine kleine Führungsstelle annimmt. Er verliert seinen geistigen Frieden, der von seiner Vereinigung mit Gott herrührt. Denn der Teufel, die Welt und das Fleisch können eine trügerische Machtstellung geben, aber auf Kosten der geistigen Freude, die von der Vereinigung mit Gott kommt. Freude und Kraft der Armen im Geist sind wohlverdient, wenn der Mensch sagen kann: „Wie kann ich es annehmen, in niedrigen Dingen ein König zu werden, wenn ich durch die Verbindung mit euch die innere Kraft und Freude und den Himmel und seine wahre Herrlichkeit verliere?“

Sie können auch sagen, diese Armen im Geist, die nur die eine Sehnsucht haben, dass Himmelreich zu besitzen, und die jeden anderen Reichtum verachten, der nicht zu diesem Reich gehört: „Sollen wir unsere Mission vernachlässigen, die darin besteht, Säfte der Kraft und der Freude heranreifen zu lassen für die Menschheit, unsere Schwester, die in der trockenen Wüste des Tierischen lebt und es nötig hat, getränkt zu werden, um nicht zu verdursten; mit Lebenssäften genährt zu werden, wie ein Kind, dass seiner Amme beraubt ist? Wir sind die Ammen der Menschheit, die den Busen Gottes verloren hat, die unfruchtbar und krank umherirrt und zu einem Verzweiflungstod, zum schwarzen Skeptizismus getrieben würde, wenn sie uns nicht fände, die sie mit der freudigen Geschäftigkeit der von allen irdischen Banden Befreiten davon überzeugte, dass es ein Leben, eine Freude, eine Freiheit, einen Frieden gibt. Wir können nicht um eines elenden Interesses willen auf diesen Liebesdienst verzichten.“

Die Bäume gingen daraufhin zum Dornenstrauch. Dieser wies sie nicht zurück, aber er stellte strenge Bedingungen: „Wenn ihr mich zum König haben wollt, dann stellt euch unter mich. Wenn ihr dies nicht tun wollt, nachdem ihr mich erwählt habt, werde ich jeden Dorn dazu benützen, euch zu quälen, und ich werde euch alle, auch die Zedern des Libanon, mit dem Feuer züchtigen.“

Seht, dass ist die Königsmacht, welche die Welt als echt annimmt! Gewalt und Grausamkeit werden von der verdorbenen Menschheit mit wahrem Königtum verwechselt, während die Sanftmut und die Güte als Dummheit und schwächliche Sentimentalität angesehen wird.

Der Mensch unterstellt sich nicht dem Guten, wohl aber dem Bösen. Er läßt sich von letzterem verführen und wird infolgedessen von ihm verbrannt.

Das ist die Lehre des Abimelech.

Doch ich möchte euch eine andere vorschlagen. Nicht etwas Fernliegendes, sondern etwas Naheliegendes, Gegenwärtiges.

Die Tiere dachten daran, sich einen König zu wählen. Und da sie hinterlistig waren, gedachten sie, einen zu wählen, der ihnen nicht durch seine Kraft oder Härte Furcht einflößen könnte.

Sie schlossen daher den Löwen und alle Katzenarten aus. Sie wollten auch keinen bekrallten Adler und keinen anderen Raubvogel haben. Sie mißtrauten dem Pferd wegen seiner Schnelligkeit, denn es hätte sie einholen und ihre Handlungen beobachten können; und noch mehr mißtrauten sie dem Esel, dessen Geduld sie zwar kannten, aber von dessen plötzlichen Wutausbrüchen und kräftigen Hufen sie ebenfalls wußten. Sie fürchteten sich davor, den Affen zum König zu machen, da er zu intelligent und rachsüchtig sei. Unter dem Vorwand, die Schlange hätte sich dem Satan ergeben, um den Menschen zu verführen, sagten sie, dass man sie trotz ihres Farbenreichtums und ihrer eleganten Bewegungen nicht zum König haben wolle. In Wirklichkeit wollten sie das Reptil nicht, weil sie dessen stillschweigendes Lauern, die Stärke seiner Muskeln und die schreckliche Wirkung seines Giftes kannten. Sollten sie einen Stier oder sonst ein Tier mit spitzen Hörnern zum König wählen? „O weh, auch der Teufel hat sie“, sagten sie; aber sie dachten: „Wenn wir uns eines Tages seinen Befehlen widersetzen wollen, dann rottet er uns mit seinen Hörnern aus.“

Sie überlegten und überlegten. Schließlich sahen sie ein fettes, weißes Lämmlein, dass sich lustig auf dem grünen Rasen tummelte und mit seinem Mäulchen an das mütterliche Euter pochte. Es hatte keine Hörner, sondern Augen, die mild waren wie der Himmel des April. Es war sanft und einfältig. Über alles war es glücklich. Über das Wasser eines Bächleins, in das es sein rosiges Mäulchen eintauchte; über die Blümlein, die alle einen anderen Geschmack hatten und sowohl dem Auge als auch dem Gaumen angenehm waren; über das dichte Gras, in das es sich legen konnte, wenn es satt war; über die Wolken, die andere Lämmlein zu sein schienen, die auf den blauen Wiesen weideten und es einluden, auf der Wiese zu spielen, wie sie es am Himmel taten; und vor allem über die Liebkosungen des Mutterschafes, dass ihm immer noch ein kurzes Saugen erlaubte und sein weißes Fell mit der rosigen Zunge beleckte; über den Schafstall, in dem es sicher und vor Winden geschützt war, und über die weiche und duftende Streu, in der man so schön neben dem Mutterschafe schlafen konnte.

„Es läßt sich leicht zufriedenstellen. Es kennt keine Waffen und kein Gift. Es ist unschuldig. Machen wir es zu unserem König!“

Und so geschah es. Die Tiere rühmten sich ihres Königs, denn er war schön und gut, wurde von den benachbarten Völkern bewundert, und von den Untergebenen seiner geduldigen Sanftmut wegen geliebt.

So verging einige Zeit, und aus dem Schäfchen wurde ein Widder, der sprach: „Jetzt wird es Zeit, dass ich wirklich regiere. Jetzt habe ich die volle Erkenntnis meiner Aufgabe. Es war der Wille Gottes, der erlaubt hat, dass ich zum König gewählt wurde. Er hat mich auf diese Aufgabe vorbereitet und mir die Fähigkeit zum Regieren gegeben. Es ist daher recht, dass ich meine Macht in vollkommener Weise ausübe, schon deswegen, um die Gaben Gottes nicht zu vernachlässigen.“

Und da der Widder sah, dass sich die Untergebenen in ihren Handlungen gegen die Gesetze der Gerechtigkeit, der Liebe, der Güte, der Ehrlichkeit, der Sittsamkeit, des Gehorsams, der Ehrfurcht, der Klugheit und so weiter verfehlten, erhob er seine Stimme, um sie zu ermahnen.

Die Untergebenen machten sich lustig über sein sanftes Geblöke, dass nicht erschütterte wie das Brüllen des Löwen oder das Gepfeife der Adler, wenn sie sich auf die Beute stürzen, und keine Angst einflößte wie das Zischen der Schlange oder das Gebell der Hunde.

Das zum Widder gewordene Lamm beschränkte sich nicht mehr auf das Blöken. Es begab sich zu den Schuldigen, um sie zur Pflicht zurückzuführen. Doch die Schlange schlich sich zwischen seine Hufe. Der Adler erhob sich zum Flug in die Luft und ließ den Widder im Stich. Die Katzen verspotteten ihn und schlugen ihn mit ihren Pfoten beiseite und drohten: „Siehst du, was in der Pfote verborgen ist, die dich vorläufig nur stößt? Krallen!“ Die Pferde und alle Reittiere sausten im Galopp um ihn herum und verspotteten ihn. Die starken Elefanten oder andere Dickhäuter warfen ihn mit dem Rüssel und den Mäulern hin und her, während die Affen ihn von den Bäumen mit Früchten bewarfen.

Das Lämmlein, dass zum Widder geworden war, wurde unruhig und sagte: „Ich wollte weder von meinen Hörnern noch von meiner Kraft Gebrauch machen; denn auch ich habe Kraft in meinem Nacken, der mir zum Mittel dient, um kriegerische Hindernisse zu entfernen. Ich wollte sie nicht benützen, denn ich ziehe Liebe und Ermahnung vor. Aber wenn ihr euch nicht vor diesen Waffen beugt, dann werde ich Gewalt anwenden; denn ihr erfüllt Gott und mir gegenüber eure Pflicht nicht, und ich will meine Pflicht gegen Gott und gegen euch nicht vernachlässigen. Ich bin von euch und von Gott dazu erwählt, euch zur Gerechtigkeit und zum Guten zu führen. Und ich will, dass hier Recht und Gerechtigkeit, d.h. Ordnung, herrsche!“

So bestrafte er mit den Hörnern nur leicht, denn er war gut, einen störrischen Köter, der nicht davon ablassen wollte, die Nachbarn zu belästigen, und rannte dann mit seinem starken Nacken die Türe des Stalles ein, in dem ein egoistisches und gefräßiges Schwein auf Kosten anderer Futter aufgehäuft hatte; schließlich riß er auch einen Strauch auserlesener Lianen nieder, den sich zwei wollüstige Affen für ihre unerlaubten Liebeleien ausgesucht hatten.

„Dieser König ist zu mächtig geworden. Er will wirklich regieren. Er will, dass wir vernünftig leben. Das paßt uns aber nicht. Wir müssen ihn absetzen!“ So entschieden sie.

Aber ein schlauer Affe riet folgendes: „Wir wollen ihn unter dem Vorwand eines gerechten Motivs absetzen. Sonst machen wir einen schlechten Eindruck auf die Nachbarvölker und werden von Gott bestraft. Laßt uns daher jede Handlung des zum Widder gewordenen Lammes ausspionieren, um es wenigstens unter dem Schein von Gerechtigkeit anklagen zu können.“

„Dafür sorge ich“, sagte die Schlange.

„Auch ich“, sagte der Affe.

Die eine schlich durch das Gras, und der andere erkletterte die Bäume, um das zum Widder gewordene Lamm nie aus den Augen zu lassen, und jeden Abend, wenn es sich zurückzog, um sich von den Mühen seiner Aufgabe auszuruhen und über die Maßnahmen und Reden nachzudenken, mit denen es der Auflehnung Herr werden und die Sünden der Untergebenen bekämpfen wollte, da versammelten sich alle, um den Bericht der beiden Spione und Verräter anzuhören.

Denn das waren sie tatsächlich.

Die Schlange sagte zu ihrem König: „Ich folge dir, weil ich dich liebe, und wenn du angegriffen wirst, werde ich dich verteidigen.“

Der Affe sagte zu seinem König: „Wie sehr bewundere ich dich! Ich will dir helfen. Schau: von hier aus sehe ich, dass jenseits der Wiese gesündigt wird. Lauf!“ Dann sagte er zu seinen Genossen: „Heute hat er an einem Gastmahl der Sünder teilgenommen. Er hat so getan, als sei er dorthin gegangen, um sie zu bekehren; aber in Wirklichkeit hat er an ihrer Völlerei teilgenommen.“

Und die Schlange berichtete: „Er hat die Grenzen seines Volkes überschritten und sich Schmetterlingen, großen Mücken und schlüpfrigen Schnecken genähert. Er ist ein Verräter und treibt mit unreinen Fremden Handel.“

So sprachen sie hinter dem Rücken des Unschuldigen in der Annahme, dass er nichts davon wisse.

Aber der Geist des Herrn, der ihn auf seine Mission vorbereitet hatte, erleuchtete ihn auch über die Verschwörung seiner Untergebenen. Er hätte enttäuscht fliehen und sie verfluchen können. Aber das Lamm, dass ein sanftes und demütiges Herz hatte, liebte. Es hatte den Fehler, zu lieben. Es hatte den noch größeren Fehler, zu jedem Opfer bereit zu sein und liebend und verzeihend in seiner Mission ausharren zu wollen, um den Willen Gottes zu erfüllen.

Oh, welche Fehler in den Augen der Menschen! Unverzeihliche Fehler! So unverzeihlich, dass sie ihm die Verurteilung brachten.

„Er muss getötet werden, damit wir von seiner Unterdrückung erlöst werden.“

Und die Schlange übernahm es, ihn zu töten; denn die Schlange ist immer der Verräter...

Das ist die andere Lehre. An dir, Volk von Nazareth, ist es nun, sie zu verstehen. Aus der Liebe heraus, die mich an dich bindet, wünsche ich dir, dass du wenigstens auf der jetzigen Stufe deiner feindlichen Gesinnung stehenbleibst und nicht weiter gehst. Die Liebe zum Boden, auf dem ich Kind gewesen bin, auf dem ich in der Liebe zu euch und von euch geliebt aufgewachsen bin, läßt mich zu euch sagen: Seid mir nicht mehr feindlich gesinnt. Geht nicht so weit, dass die Geschichte schreiben muss: „Aus Nazareth kamen sein Verräter und seine ungerechten Richter.“

Lebt wohl. Seid gerecht im Urteil und standhaft im guten Willen. Das erste gilt euch allen, meine lieben Mitbürger. Das zweite gilt jenen von euch, die nicht von unredlichen Gedanken verwirrt sind. Ich gehe... Der Friede sei mit euch!» Von einem peinlichen Schweigen begleitet, dass nur von zwei oder drei beifälligen Stimmen unterbrochen wird, verläßt Jesus traurig und geneigten Hauptes die Synagoge von Nazareth. Die Apostel folgen ihm.

Die letzten der Gruppe sind die Söhne des Alphäus. Ihre Augen sind nicht die Augen eines geduldigen Schafes... Sie blicken streng auf die feindliche Menge, und Judas Thaddäus zögert nicht, sich vor seinen Bruder Simon hinzustellen und zu sagen: «Ich glaubte einen ehrlicheren und charakterfesteren Bruder zu haben.» Simon neigt das Haupt und schweigt. Doch der andere Bruder sagt, von anderen Nazarenern unterstützt: «Schäme dich, deinen älteren Bruder so zu beleidigen!» «Nein, ich schäme mich über euch. Über euch alle. Nicht nur eine Stiefmutter, sondern eine verkommene Stiefmutter ist dieses Nazareth für den Messias. Daher hört meine Prophezeiung: ihr werdet so viele Tränen weinen, dass ihr damit einen Brunnen unterhalten könnt; doch das Wasser wird nicht ausreichen, um in den Büchern der Geschichte den wahren Namen dieser Stadt auszulöschen. Wißt ihr, wie er lautet? „Torheit“! Lebt wohl.» Jakobus fügt einen weitherzigeren Gruß hinzu und wünscht ihnen das Licht der Weisheit. Dann gehen sie mit Alphäus der Sara und zwei Jünglingen hinaus; sie sind, wenn ich mich nicht irre, die beiden Eseltreiber, die bei der Begegnung mit der todkranken Johanna des Chuza dabei waren.

Die Menge bleibt wie gebannt zurück und murmelt: «Aber woher stammt seine Weisheit?» «Und wie kann er seine Wunder wirken? Denn er wirkt Wunder. Ganz Palästina spricht davon.» «Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns Joseph? Wir alle haben ihn in Nazareth an der Hobelbank gesehen, als er Tische und Betten machte und Räder und Schlösser herstellte. Er ist nicht einmal zur Schule gegangen, nur die Mutter ist seine Lehrerin gewesen!» «Auch das war ein Ärgernis für unseren Vater», sagt Joseph des Alphäus.

«Aber auch deine Brüder beendeten ihre Schule bei Maria des Joseph.» «Nun ja, mein Vater war ein Schwächling seiner Frau gegenüber...» fügt Joseph bei.

«Auch der Bruder deines Vaters, nicht?»

«Auch er.»

«Aber ist er wirklich der Sohn des Zimmermanns?» «Siehst du es denn nicht?» «Oh, wie viele Menschen gleichen sich! Ich glaube, dass er einer ist, der sich so nennt, es aber nicht ist.» «Und wo ist dann Jesus, der Sohn des Joseph?» «Glaubst du vielleicht, dass seine Mutter ihn nicht kennt?» «Hier sind seine Brüder und Schwestern, und alle nennen ihn Vetter. Ist das vielleicht nicht wahr, ihr beiden?» Die beiden älteren Söhne des Alphäus nicken zustimmend.

«Dann ist er entweder wahnsinnig oder besessen; denn das, was er sagt, kann nicht von einem Handwerker kommen.» «Man sollte ihn nicht anhören. Seine angebliche Lehre ist Irrsinn oder Besessenheit.» Jesus ist auf dem Platz stehen geblieben und wartet auf Alphäus der Sara, der mit einem Mann spricht. Während er wartet, berichtet ihm einer der Eseltreiber, der bei der Synagogentüre zurückgeblieben war, von den Verleumdungen, die er dort gehört hat.

«Das soll dich nicht betrüben. Ein Prophet wird im allgemeinen in seiner Heimat und seiner Vaterstadt nicht geschätzt. Der Mensch ist so töricht, dass er glaubt, ein Prophet müsse ein außerirdisches Wesen sein. Die Mitbürger und Verwandten kennen und erinnern sich mehr als alle an die menschliche Herkunft ihres Mitbürgers und Verwandten. Doch die Wahrheit siegt immer! Und nun grüße ich dich. Der Friede sei mit dir!» «Ich danke dir, Meister, dass du meine Mutter geheilt hast.» «Du hast es verdient, weil du verstanden hast zu glauben. Meine Macht ist hier unnütz, weil niemand glaubt. Laßt uns gehen, Freunde! Morgen, bei Sonnenaufgang, wollen wir abreisen.»