19.03.2016

DER SABBAT VOR DEM EINZUG IN JERUSALEM; DAS GASTMAHL IN BETHANIEN

nach Maria Valtorta

Das Gastmahl ist in dem ganz weißen Saal vorbereitet, in dem Jesus mit den Jüngerinnen gesprochen hat. Alles glänzt in Weiß und Silber, was etwas kalt wirken könnte, wenn nicht Apfel-, Birn- oder andere Obstbaumzweige diesen Eindruck mildern würden. Ihre makellosen Blüten schimmern in einem so leichten Hauch von Rosa, dass sie an Schnee erinnern, den der Kuß einer fernen Morgenröte streift. Die Zweige stecken in bauchigen Vasen oder schlanken silbernen Amphoren auf den Tischen, Kästen und Anrichten entlang den Wänden, und ihre Blüten erfüllen den Saal mit dem typischen Duft von Obstbaumblüten, Frische und Herbheit des reinen Frühlings...

Lazarus betritt an der Seite Jesu den Saal. Hinter ihnen kommen zu zweit oder in größeren Grüppchen die Apostel. Zuletzt die beiden Schwestern des Lazarus mit Maximinus.

Ich sehe die Jüngerinnen nicht, und nicht einmal Maria. Vielleicht haben sie es vorgezogen, zusammen mit der betrübten Mutter im Haus des Simon zu bleiben.

Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Aber die letzten Strahlen der Sonne fallen noch auf die rauschenden Wipfel einiger Palmen, die nur wenige Meter vom Saal entfernt beisammen stehen, und die Krone eines gigantischen Lorbeerbaumes, in dem die Spatzen streiten, bevor sie schlafen gehen. Hinter den Palmen und dem Lorbeerbaum, den Rosen- und Jasminhecken, den Beeten mit Maiglöckchen, sonstigen Blumen und duftenden Pflänzchen leuchtet ein schneeweißer, mit dem zarten Grün der ersten Blättchen gesprenkelter Fleck: einige spätblühende Apfel- oder Birnbäume im Obstgarten. Es sieht aus, als sei eine Wolke in den Zweigen hängengeblieben.

Jesus bemerkt, als er an einem Krug mit blühenden Zweigen vorübergeht: «Sie haben schon kleine Früchte, seht nur. Oben sind noch Blüten , weiter unten aber sind sie bereits abgefallen, und der Fruchtknoten beginnt anzuschwellen.»

«Es war Maria, die sie pflücken wollte. Sie hat auch deiner Mutter einige Sträuße gebracht. Sie ist schon bei Sonnenaufgang aufgestanden, da sie befürchtete, dass ein weiterer Sonnentag die empfindlichen Blüten vernichten könnte. Ich habe jetzt erst von dieser Verwüstung erfahren. Aber ich habe mich nicht darüber empört wie die Landarbeiter. Ich habe vielmehr gedacht, es ist nur recht und billig, dir, dem König aller Dinge, alle Schönheiten der Schöpfung zu schenken.»

Jesus setzt sich lächelnd an seinen Platz und betrachtet Maria, die sich mit ihrer Schwester anschickt, wie eine Magd zu dienen. Sie bietet die Gefäße für die Reinigung und die Handtücher an, gießt dann den Wein in die Kelche und stellt nach und nach die Platten mit den Speisen auf die Tische, sowie sie die Diener aus der Küche bringen oder sie von den Anrichten herüberreichen, auf denen sie sie aufgeschnitten haben.

Obwohl die beiden Schwestern alle Geladenen zuvorkommend bedienen, konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit natürlich auf die beiden, die ihnen am teuersten sind: Jesus und Lazarus.

Auf einmal sagt Petrus, der herzhaft zugreift: «Sieh einer an! Erst jetzt bemerke ich, dass alle Gerichte so zubereitet sind wie in Galiläa. Ich fühle mich... Ja, ich fühle mich wie bei einem Hochzeitsmahl. Doch hier fehlt es nicht an Wein, wie damals in Kana.»

Maria mischt dem Apostel lächelnd einen neuen Kelch mit bernsteinfarbenem, klarem Wein. Aber sie sagt nichts.

Es ist wieder Lazarus, der erklärt: «Es war auch wirklich die Absicht meiner Schwestern, besonders Marias, ein Mahl zu bereiten, bei dem sich der Meister wie in Galiläa fühlen würde; wie in seinem Galiläa, das, wenngleich auch nicht vollkommen, so doch besser, viel besser als diese Gegend hier ist ...»

«Damit er sich wie zu Hause fühlt, müßte Maria mit am Tisch sein. In Kana war sie dabei. Und ihretwegen hat der Meister das Wunder gewirkt», bemerkte Jakobus des Alphäus.

«Es muss ein großartiger Wein gewesen sein!»

«Der Wein ist das Sinnbild des Frohsinns und müßte auch das der Fruchtbarkeit sein, da er der Saft der fruchtbaren Rebe ist. Aber mir scheint nicht, dass er viel genützt hat. Susanna ist immer noch kinderlos», bemerkt Iskariot.

«Oh, und ob es ein guter Wein war! Er hat unseren Geist befruchtet ...»sagt Johannes etwas träumerisch, wie immer, wenn er im Geist die von Gott gewirkten Wunder betrachtet. Und er fügt hinzu: «Für eine Jungfrau wurde das Wunder gewirkt... Und wer davon getrunken hat, hat die Wirkung der Reinheit gefühlt.»

«Hältst du Susanna denn für eine Jungfrau?» fragt Iskariot lachend.

«Das habe ich nicht gesagt. Die Mutter des Herrn ist Jungfrau, und Jungfräulichkeit strahlt aus allem, was für sie getan wird. Ich habe immer das Gefühl, dass alles, was man für Maria tut, jungfräulich ist ...» und Johannes träumt wieder und lächelt wer weiß welcher Vision zu.

«Selig dieser Jüngling! Ich glaube, er ist sich im Augenblick gar nicht bewusst, dass er auf der Welt ist. Seht ihn euch nur an», sagt Petrus und zeigt auf Johannes, der auf seinem Lager liegt, gedankenverloren mit Brotstückchen spielt und ganz vergißt zu essen.

Auch Jesus dreht sich etwas um und schaut Johannes an, der sich an einer Seite der in U-Form angeordneten Tische befindet und daher hinter dem Rücken des Meisters. Dieser liegt in der Mitte am mittleren Tisch, seinen Vetter Jakobus zur Linken und Lazarus zur Rechten. Nach Lazarus kommen der Zelote und Maximinus, neben Jakobus der andere Jakobus und Petrus. Johannes befindet sich zwischen Andreas und Bartholomäus. Dann kommt Thomas, und gegenüber sind Judas, Philippus, Matthäus und Thaddäus, letzterer an der Ecke, wo der lange mittlere Tisch beginnt.

Maria des Lazarus verläßt den Saal, während Martha Tabletts auf die Tische stellt mit den schönsten ersten Feigen, grünen Fenchelstengeln, frischen geschälten Mandeln, goldenen Orangen und Erdbeeren oder Himbeeren – ich weiß es nicht – die noch röter leuchten neben dem blassen Smaragdgrün des Fenchels und der Blumen und dem milchigen Weiß der Mandeln und der kleinen Melonen, oder einem ähnlichen Obst... es scheinen die kleinen grünen Melonen aus Unteritalien zu sein.

«Gibt es denn schon solche Früchte? Ich habe noch nirgends reife gesehen», sagt Petrus, der die Augen weit aufreißt, als er die Erdbeeren und die Melonen sieht.

«Sie sind zum Teil vom Küstengebiet jenseits von Gaza, wo ich einen Garten mit diesen Früchten habe, zum Teil von den Sonnenterrassen über dem Haus, den Gewächshäusern für die empfindlicheren Pflanzen, die vor dem Frost geschützt werden müssen. Ein römischer Freund hat mir gezeigt, wie man sie anbaut... Es war das einzige Gute, dass er mich gelehrt hat...» Sein Gesicht verfinstert sich. Martha seufzt... Doch Lazarus wird sofort wieder der perfekte Gastgeber, der seine Gäste nicht traurig stimmen möchte. «Auf den Landgütern um Baiae und Syrakus und am weiten Golf von Sybaris pflegt man diese Köstlichkeiten so anzubauen, um sie vor der Zeit genießen zu können. Eßt: die letzten Früchte der Orangenbäume Libyens, die ersten der sonnigen Melonenfelder Ägyptens und der Gärten Latiums, die weißen Mandeln unserer Heimat, die zarten Bohnen, die verdauungsfördernden Stengel, die nach Anis schmecken... Martha, hast du an das Kind gedacht?»

«Ich habe an alles gedacht. Maria war ganz gerührt bei der Erinnerung an Ägypten.»

«Wir hatten einige Pflanzen in dem armseligen Garten. Bei der großen Hitze war es ein Fest, wenn man die Melonen in den tiefen, kühlen Brunnen des Nachbarn hängen konnte, um sie dann am Abend zu essen... Ich erinnere mich noch daran... Und ich hatte eine naschhafte Ziege, auf die man achtgeben musste, denn sie hatte eine Vorliebe für zarte Pflanzen und Früchte...» Jesus, der bis dahin mit leicht geneigtem Haupt gesprochen hat, hebt nun den Kopf und betrachtet die Palmen, die im leichten Abendwind rauschen. «Wenn ich diese Palmen sehe... Immer wenn ich Palmen sehe, sehe ich Ägypten wieder, seinen gelben, sandigen Boden, den der Wind so leicht davontrug. Und in der Ferne flimmerten die Pyramiden in der dünnen Luft... und die hohen, schlanken Stämme der Palmen... und das Haus, in dem... Aber es ist besser, nicht davon zu reden. Jede Zeit hat ihre Plage. Und mit der Plage auch ihre Freude... Lazarus, würdest du mir einige dieser Früchte geben? Ich möchte sie Maria und Matthias bringen. Ich glaube nicht, dass Johanna solche hat.»

«Nein, sie hat keine. Sie hat es gestern gesagt und sich vorgenommen, sie in Bether anzupflanzen, wenn die Gewächshäuser errichtet sind. Aber ich kann sie dir jetzt noch nicht geben. Ich habe alle gepflückt, die es gab, und die anderen werden erst in einigen Tagen reif sein. Dann schicke ich sie dir, oder du kannst sie bis Donnerstag abholen lassen. Wir werden einen hübschen Korb für die Kinder vorbereiten, nicht wahr, Martha?»

«Ja, mein Bruder. Und wir werden die kleinen Lilien der Maiglöckchen dazulegen, die Johanna so sehr liebt.»

Maria Magdalena kommt wieder herein. Sie bringt eine Amphore mit schlankem Hals, der in einem Schnabel endet und elegant wie eine Vogelkehle geschwungen ist. Der wertvolle gelbliche Alabaster hat einen leichten Rosaton, wie die Haut mancher Blondinen. Die Apostel sehen sie an, vielleicht in Erwartung einer besonderen Leckerei. Aber Maria geht nicht in die Mitte des U, dass die Tische bilden und wo ihre Schwester sich befindet. Sie geht hinten an den Liegen vorbei und bleibt zwischen Jesus und Lazarus auf der einen und den beiden Jakobus auf der anderen Seite stehen.

Sie öffnet das Alabastergefäß und hält die Hand unter den Schnabel, um einige Tropfen einer dicken Flüssigkeit aufzufangen, die langsam aus dem geöffneten Krug quillt. Der intensive Geruch von Tuberosen und anderen Essenzen, ein herrlicher Duft, verbreitet sich im Saal. Doch Maria ist nicht zufrieden mit dem wenigen, dass heraustropft. Sie bückt sich und schlägt den Hals der Amphore kurz und fest gegen die Lehne des Ruhebettes Jesu. Der dünne Hals fällt zu Boden und bespritzt den Marmor mit duftenden Tropfen. Nun hat die Amphore eine größere Öffnung und das zähflüssige Öl läuft heraus.

Maria stellt sich hinter Jesus und träufelt das dicke Öl auf das Haupt ihres Meisters, befeuchtet damit alle Locken, reibt sie ein und bringt sie dann wieder in Ordnung mit einem Kamm, den sie aus ihrem Haar zieht * Das angebetete Haupt ihres Jesus! Sein rotblondes Haar glänzt und leuchtet wie dunkles Gold nach dieser Salbung. Das Licht des Leuchters, den die Diener angezündet haben, spiegelt sich auf dem blonden Haupt wie auf einem herrlich verzierten Bronzehelm. Der Duft ist betäubend. Er dringt in die Nase, steigt in den Kopf und reizt fast wie Nießpulver, so stark ist er, da das Öl im Übermaß verwendet wird.

Lazarus, der hinter sich schaut, lächelt, als er sieht, mit welcher Sorgfalt Maria die Haare Jesu salbt und dann kämmt, damit alles wieder schön in Ordnung ist nach dieser duftenden Einreibung. Sie achtet nicht darauf, dass ihre Zöpfe immer weiter auf den Hals und bald schon auf den Rücken herabgleiten, da nun der Kamm fehlt, der sie zuvor zusammen mit den Nadeln gehalten hat. Auch Martha schaut zu und lächelt. Die anderen unterhalten sich leise und mit unterschiedlichem Gesichtsausdruck.

Aber Maria ist noch nicht zufrieden. Es ist noch viel Öl in dem Gefäß mit dem abgebrochenen Hals, und das dichte Haar Jesu ist schon genug gesalbt. Da wiederholt Maria die Liebesgeste eines fernen Abends. Sie kniet vor dem Ruhebett nieder, löst die Schnallen der Sandalen Jesu und zieht sie ihm aus. Dann taucht sie die Finger ihrer schönen schlanken Hand in das Gefäß, entnimmt ihm so viel Salbe als möglich und reibt damit die nackten Füße ein, Zehe um Zehe, dann die Fußsohle, die Ferse und den Knöchel, nachdem sie den Saum des Leinenkleides zurückgestreift hat, und schließlich den Rist. Sie verweilt an der Stelle, wo die furchtbaren Nägel ihn durchbohren werden. Als sie keinen Balsam mehr findet in dem Gefäß, zerbricht sie es auf dem Boden. Und da ihre Hände nun frei sind, zieht sie die großen Haarnadeln aus dem Haar, löst die schweren Zöpfe auf und wischt mit diesen goldenen, lebenden, weichen, fließenden Strähnen das überflüssige Öl von den Füßen Jesu.

Judas – der bisher geschwiegen und mit lüsternen, neidvollen Blicken die schöne Frau und den Meister, dessen Kopf und Füße sie salbt, betrachtet hat – spricht jetzt laut. Es ist die einzige Stimme lauten Tadels; denn die anderen, nicht alle, nur einige, haben ihrem erstaunten Unmut nur durch Gesten oder leiser Worte Luft gemacht. Judas hingegen, der sogar aufgestanden ist, um die Salbung der Füße Christi besser sehen zu können, sagt unfreundlich: «Was für eine unnütze, heidnische Verschwendung! musste das sein? Und dann sollen die Vorsteher des Synedriums nicht von Sünde sprechen! Das sind Handlungen einer unzüchtigen Kurtisane, und sie passen nicht zu dem neuen Leben, dass du jetzt führst, o Frau. Sie erinnern zu sehr an deine Vergangenheit!»

Die Beschimpfung ist so unverschämt, dass alle bestürzt sind. Keiner bleibt ruhig. Einige setzen sich auf ihren Lagern auf, andere springen auf die Füße, und alle starren Judas an, als ob er plötzlich den Verstand verloren hätte.

Martha wird rot, und Lazarus springt auf, schlägt mit der Faust auf den Tisch und ruft: «In meinem Haus...» Doch dann schaut er Jesus an und beherrscht sich.

«Ja, ihr schaut mich an. Alle habt ihr in euren Herzen gemurrt. Aber nun, da ich es ausgesprochen habe, da ich offen gesagt habe, was ihr denkt, seid ihr sofort bereit, mir Unrecht zu geben. Ich wiederhole, was ich gesagt habe. Ich will nicht sagen, dass Maria die Geliebte des Meisters ist. Aber ich möchte betonen, dass gewisse Handlungen sich weder für sie noch für ihn geziemen. Maria hat unklug und auch ungerecht gehandelt. Ja! Warum diese Verschwendung? Wenn sie die Erinnerung an ihre Vergangenheit tilgen wollte, hätte sie das Gefäß und das Öl mir geben können. Es war mindestens ein Pfund reinstes Nardenöl. Und sehr wertvoll. Ich hätte es für wenigstens dreihundert Denare verkauft, denn Nardenöl dieser Art kostet so viel. Und ich hätte auch das Gefäß verkaufen können, denn es war sehr schön und kostbar. Das Geld hätte ich den Armen gegeben, die uns immer umlagern. Es reicht ja nie für alle. Und morgen in Jerusalem werden uns unzählige um Almosen bitten.»

«Das ist wahr», stimmen die anderen bei. «Sie hätte etwas für den Meister verwenden können und das übrige ...»

Maria von Magdala scheint taub zu sein. Sie trocknet immer noch die Füße Jesu mit ihren aufgelösten Haaren, die nun unten schon schwer von Öl und dunkler als oben auf dem Kopf sind. Die Füße Jesu, von der Farbe alten Elfenbeins, sind so glatt und weich, als hätten sie eine neue Haut bekommen. Maria legt Jesus wieder die Sandalen an und küßt jeden Fuß vorher und nachher noch einmal. Sie ist taub für alles, was nicht ihre Liebe zu Jesus ist.

Jesus verteidigt sie, legt eine Hand auf das zum letzten Kuß über seinen Fuß gebeugte Haupt und sagt: «Laßt sie. Warum betrübt und kränkt ihr sie? Ihr wißt nicht, was sie getan hat. Maria hat nicht unziemlich gehandelt, sondern ein gutes Werk an mir vollbracht. Die Armen werdet ihr immer unter euch haben. Ich aber verlasse euch bald. Sie werdet ihr immer haben, mich aber habt ihr nicht immer. Den Armen werdet ihr immer Almosen geben können. Mir, dem Menschensohn unter den Menschen, könnt ihr bald keinerlei Ehre mehr erweisen, weil die Menschen es so wollen und weil die Stunde gekommen ist. Die Liebe ist für Maria Erleuchtung. Sie fühlt, dass meine letzte Stunde naht, und da sie dieses Salböl über meinen Leib ausgegossen hat, hat sie es für mein Begräbnis getan. Wahrlich, ich sage euch, wo immer die Frohe Botschaft verkündet wird, da wird auch dieser Tat ihrer prophetischen Liebe gedacht werden. Auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Wollte Gott, dass aus jedem Geschöpf eine andere Maria würde, die den Wert der irdischen Dinge nicht berechnet, keine Anhänglichkeit an sie nährt und nicht die geringste Erinnerung an die Vergangenheit bewahrt, sondern alles vernichtet und mit Füßen tritt, was fleischlich und weltlich ist, die sich selbst vernichtet und sich verausgabt, wie sie es mit dem Nardenöl und dem Alabaster getan hat, aus Liebe zu ihrem Herrn. Weine nicht, Maria. Ich wiederhole dir in diesem Augenblick die Worte, die ich zu Simon, dem Pharisäer, und zu Martha, deiner Schwester, gesagt habe: „Alles ist dir verziehen, denn du hast vollkommen geliebt.“ Du hast den besseren Teil erwählt, und er wird dir nicht genommen werden. Geh in Frieden, mein sanftes, wiedergefundenes Lamm. Geh in Frieden. Die Weideplätze der Liebe werden auf ewig deine Nahrung sein. Steh auf. Küsse auch meine Hände, die dich gesegnet und losgesprochen haben... Wie viele haben meine Hände losgesprochen, gesegnet und geheilt, wie vielen haben sie Wohltaten erwiesen! Und doch sage ich euch, dass Volk, dem ich Wohltaten erwiesen habe, ist schon bereit, diese Hände zu durchbohren ...»

Ein beklemmendes Schweigen erfüllt die schwere, stark duftende Luft. Maria, deren offenes Haar wie ein Mantel über ihre Schultern fällt und ihr Gesicht verschleiert, küßt die rechte Hand, die Jesus ihr reicht, und kann ihre Lippen nicht mehr von ihr lösen...

Martha ist gerührt. Sie kommt herbei, nimmt das offene Haar, flicht es unter Liebkosungen in Zöpfe und versucht, die Tränen auf den Wangen damit zu trocknen.

Niemand hat mehr Lust zu essen... Die Worte Jesu stimmen nachdenklich. Der erste, der sich erhebt, ist Judas des Alphäus. Er bittet um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Jakobus, sein Bruder, folgt ihm, und ebenso Andreas und Johannes. Die anderen bleiben, haben sich aber erhoben und waschen sich die Hände in den silbernen Becken, die ihnen die Diener reichen. Maria und Martha bedienen Jesus und Lazarus.

Ein Diener kommt herein und beugt sich zu Maximinus, um mit ihm zu sprechen. Dieser sagt, nachdem er ihn angehört hat: «Meister, es sind Leute da, die dich sehen möchten. Sie sagen, dass sie von weither kommen. Was sollen wir tun?»

Jesus ruft Philippus, Jakobus des Zebedäus und Thomas und ordnet an: «Geht, predigt und heilt in meinem Namen. Verkündet allen, dass ich morgen zum Tempel hinaufgehen werde.»

«Ist es gut, dies zu sagen, Herr?» fragt Simon der Zelote.

«Es verschweigen zu wollen, würde nichts nützen; denn die Feinde haben diese Nachricht in der heiligen Stadt schon mehr als die Freunde verbreitet. Geht.»

«Nun, solange es die Freunde wissen... Diese verraten nichts. Ich verstehe nicht, von wem es die anderen erfahren haben.»

«Unter vielen Freunden gibt es immer einen Feind, Simon des Jonas. Es sind nun schon zu viele... Freunde, und sie werden zu leicht als solche akzeptiert. Wenn ich daran denke, wieviel ich beten und warten musste...! Aber es war in der ersten Zeit, und da war man noch vorsichtig. Dann kamen die Siege und machten blind, und man wurde unvorsichtig. Das war ein Fehler. Aber so ergeht es allen Siegern. Die Siege trüben den Blick und verleiten zu weniger umsichtigem Handeln. Ich spreche natürlich von uns Jüngern. Nicht vom Meister. Er ist vollkommen. Wären wir zwölf allein geblieben, bräuchten wir keinen Verrat zu befürchten», lügt Judas von Kerioth schamlos.

Der Blick, den Jesus dem verräterischen Apostel zuwirft, ist unbeschreiblich. Ein mahnender Blick, voll unsäglichem Leid. Aber Judas achtet nicht darauf. Er geht an dem Tisch vorbei und will den Raum verlassen. Jesus folgt ihm mit den Augen, und als er sieht, dass er wirklich hinausgehen will, fragt er: «Wohin gehst du?»

«Hinaus», antwortet Judas ausweichend.

«Aus diesem Raum oder aus dem Haus?»

«Hinaus... Nur so... um mich ein wenig zu bewegen.»

«Geh nicht, Judas. Bleib bei mir, bei uns ...»

«Deine Brüder und auch Johannes und Andreas sind gegangen. Warum soll ich nicht gehen?»

«Du willst nicht gehen, um dich auszuruhen, wie sie...»

Judas antwortet nicht, sondern geht eigensinnig hinaus. Niemand spricht mehr im Saal. Die Gastgeber und die vier zurückgebliebenen Apostel, Petrus, Simon, Matthäus und Bartholomäus, schauen sich an.

Jesus schaut hinaus. Er ist aufgestanden und an ein Fenster gegangen, um die Bewegungen des Judas zu verfolgen. Als er sieht, dass Judas, den Mantel um die Schultern, dass Haus verläßt und sich zum Tor begibt, dass man von hier aus nicht sieht, ruft er ihn laut: «Judas, warte auf mich. Ich muss dir etwas sagen.» Dann wehrt er sanft Lazarus ab, der ihm einen Arm um die Taille gelegt hat, da er ahnt, dass Jesus leidet, verläßt den Saal und holt Judas ein, der zwar etwas langsamer gegangen, aber nicht stehengeblieben ist. Er erreicht ihn, als dieser gut ein Drittel der Entfernung zwischen dem Haus und der Umzäunung zurückgelegt hat und sich bei einem Gebüsch aus dichtbelaubten Gewächsen befindet; diese haben fette Blätter, die dunkelgrüner Keramik gleichen, und unzählige Büschel kleiner Blüten. Jede Blüte ist ein Kreuzchen aus dicken, wächsernen, leicht gelblichen und stark duftenden Blütenblättern. Ihren Namen kenne ich nicht.

Jesus zieht Judas hinter dieses Gebüsch und hält ihn am Arm fest. Er fragt noch einmal: «Wohin gehst du, Judas? Ich bitte dich, bleibe hier!»

«Warum fragst du, da du doch alles weißt? Wenn du in den Herzen der Menschen lesen kannst, dann brauchst du doch nicht zu fragen. Du weißt, dass ich zu meinen Freunden gehe. Du erlaubst mir nicht, zu ihnen zu gehen. Sie drängen mich zu kommen, und ich gehe.»

«Deine Freunde? Deine Verderber, musst du sagen! Du gehst ins Verderben. Du gehst zu deinen Mördern. Geh nicht, Judas! Geh nicht! Du gehst, um ein Verbrechen zu begehen... Du ...»

«Ah, du hast Angst?! Du hast endlich Angst?! Du fühlst dich endlich Mensch! Du bist ein Mensch! Nichts als ein Mensch! Denn nur der Mensch hat Angst vor dem Tod. Gott weiß, dass er nicht sterben kann. Wenn du Gott wärest, wüßtest du, dass du nicht sterben kannst und hättest keine Angst. Du aber hast jetzt, jetzt, da du den Tod nahen fühlst, diese Angst, die alle Menschen haben. Und du versuchst mit allen Mitteln, sie zu vertreiben und siehst in allem und überall nur Gefahr. Wo ist denn dein schöner Mut? Wo sind die überzeugenden Beteuerungen, dass du glücklich bist, dass du danach dürstest, dass Opfer zu vollbringen? Nicht einmal ein Echo davon ist dir im Herzen geblieben! Du hast geglaubt, diese Stunde würde niemals kommen, hast den Starken gespielt, den Großmütigen, und feierliche Worte gesprochen. Geh! Du bist nicht anders als die, die du scheinheilig nennst! Du hast uns geschmeichelt und uns verraten. Und wir, wir haben alles für dich verlassen! Wir, die wir jetzt deinetwegen gehaßt werden! Du bist die Ursache unseres Verderbens...»

«Genug. Geh! Geh! Es sind noch nicht viele Stunden vergangen, seit du mir gesagt hast: „Hilf mir zu bleiben! Verteidige mich!“ Ich habe es getan. Und was hat es genützt? Sage mir nur noch eines und überlege, bevor du mir antwortest. Ist es dein eigener freier Wille, dass du zu deinen Freunden gehst und sie mir vorziehst?»

«Ja, dass ist es. Ich brauche nicht erst nachzudenken, denn schon lange will ich nur dies.»

«Dann geh. Gott zwingt den Willen des Menschen nicht.»

Jesus kehrt ihm den Rücken und geht langsam zum Haus zurück. Als er schon fast angekommen ist, hebt er den Kopf, da er den auf ihn gerichteten Blick des Lazarus, der noch an derselben Stelle steht, fühlt. Es ist ein sehr blasses Gesicht, dass sich nun bemüht, dem treuen Freund zuzulächeln.

Jesus kehrt in den Saal zurück, in dem die vier Apostel mit Maximinus sprechen, während Maria und Martha die Arbeit der Diener überwachen, die den Saal wieder in Ordnung bringen und das Geschirr und die Tischwäsche abräumen, die man beim Mahl gebraucht hat.

Lazarus ist auf der Schwelle erschienen, hat Jesus wieder einen Arm um die Hüfte gelegt und im Vorbeigehen einem Diener befohlen: «Bringe mir die Schriftrolle, die auf dem Tisch in meinem Arbeitszimmer liegt.»

Lazarus geleitet Jesus zu einem der bequemen Sitze in den Fensternischen und bittet ihn, Platz zu nehmen. Doch Jesus bleibt stehen und gibt sich Mühe, Lazarus zuzuhören... Aber man sieht deutlich, dass seine Gedanken anderswo sind und dass sein Herz sehr betrübt ist; und als er merkt, dass seine Apostel ihn beobachten und nähergekommen sind, lächelt er, um den Verdacht der ihn Umgebenden zu zerstreuen, die mit ihren Nachbarn flüstern, einander vielsagende Blicke zuwerfen und auf den Meister zeigen.

Der Diener kehrt mit der Schriftrolle zurück, und Petrus, der sieht, dass der Inhalt dieses Pergaments seinen Verstand übersteigt, zieht sich zurück mit den Worten: «Die Fische beißen bei gewissen Ködern nicht an. Es ist besser, wenn ich mit Maximinus über Pflanzen und Kulturen rede.»

Martha setzt ihre Arbeit fort, während Maria schweigend Lazarus zuhört, der den Meister auf einige Stellen in den Pergamentrollen aufmerksam macht und sagt: «Hat dieser Heide nicht eine außergewöhnliche Fähigkeit, die Dinge vorauszusehen? Mehr als viele von uns. Vielleicht... wenn er hier gelebt hätte, jetzt, da du unser Meister bist, wäre er einer deiner Jünger geworden, und einer der besten. Er hätte dich verstanden wie wenige von uns. Und welches Epos hätte sein Genie aus der Bewunderung für dich gemacht! Deine Worte, gesammelt und bewahrt von einem trotz seines Heidentums erleuchteten Geist. Dein Leben, beschrieben von diesem offenen und klaren Geist! Wir haben keine Dichter und Schriftsteller mehr. Du bist zu spät auf die Welt gekommen. Wie haben doch der Egoismus des Lebens und der religiös-soziale Verfall alle Poesie und alle Genialität in uns zum Erlöschen gebracht! Was unsere Weisen und Propheten von dir geschrieben haben ohne dich zu kennen, hat in keiner der lebenden Stimmen deiner Jünger ein Echo gefunden. Deine Bevorzugten, deine Getreuen sind zum großen Teil ungebildete Leute. Und die anderen... Nein, wir haben keine Kohelet mehr, um den Menschen deine Weisheit und deine Gestalt zu überliefern. Wir haben sie nicht mehr, denn es fehlt mehr der Geist und der Wille als die Fähigkeit, es zu tun. Der aus menschlicher Sicht gehobenere Teil Israels ist taub und stumm wie ein Fisch und kann nicht mehr die Herrlichkeit und die Wunder Gottes besingen. Ich fürchte, dass man alles vergessen oder verfälschen wird, teils aus Unfähigkeit, teils aus bösem Willen ...»

«Das wird nicht geschehen. Wenn der Geist des Herrn sich in den Herzen niedergelassen hat, wird er meine Worte wiederholen und ihren Sinn erklären. Der Geist Gottes ist es, der durch den Mund des Christus spricht... Später wird er direkt zu den Seelen sprechen und sie an meine Worte erinnern.»

«Oh, wenn dies nur bald geschehen würde! Bald, denn nur wenige hören deine Worte an und noch wenigere verstehen sie. Ich glaube, dass das Brausen des Geistes Gottes mächtig, gleich dem Brausen lodernden Feuers, sein wird, um den Seelen mit Gewalt einzubrennen, was sie nicht annehmen wollten, als es süß und sanft war. Ich denke, dass der flammende Geist mit seinem Feuer die lauen und gleichgültigen Gewissen verbrennen und ihnen deine Worte einprägen wird. Die Welt wird dich lieben müssen. Der Allerhöchste will es! Aber wann wird dies geschehen?»

«Wenn ich mich im Opfer der Liebe verzehrt habe, wird die Liebe kommen. Sie wird wie eine schöne Flamme sein, die von dem dargebrachten Opfer aufsteigt. Und diese Flamme wird nicht erlöschen, denn das Opfer wird kein Ende haben. So wie es begonnen hat, wird es bestehen, solange die Welt besteht.»

«Aber dann... musst du wirklich geopfert werden, damit dies geschieht?»

«So ist es.» Jesus macht die übliche Bewegung, mit der er seine Ergebung in sein Schicksal ausdrückt. Er breitet die Arme aus, mit nach außen gekehrten Händen, und neigt das Haupt. Dann erhebt er es wieder, lächelt dem betrübten Lazarus zu und sagt: «Die unkörperliche Stimme des Geistes der Liebe wird nicht wie ein gewaltiges Brausen sein, sondern sanft wie die Liebe, die zart wie der Wind des Nisan und doch auch stark wie der Tod ist. Das unergründliche Wirken der Liebe! Die Ergänzung, die Vervollständigung meiner Sendung... Ich fürchte nicht, so wie du, dass etwas von dem, was ich gegeben habe, verlorengehen wird. Vielmehr sage ich dir, wahrlich, Lichtstrahlen werden auf meine Worte fallen, und ihr werdet ihren Geist erkennen. Ich gehe beruhigt, denn ich vertraue meine Lehre dem Heiligen Geist an und meinen Geist dem Vater.»

Jesus neigt nachdenklich das Haupt. Dann legt er die Schriftrolle, der Anlaß des Gespräches, auf eine Art Anrichte oder Truhe aus Ebenholz oder einem anderen dunklen Holz, die ganz mit gelblichem Elfenbein eingelegt ist und die vier Diener aus dem anliegenden Zimmer hereingetragen haben, um nach den Anweisungen Marthas das wertvolle Geschirr darin aufzubewahren. Er sagt zu Lazarus: «Komm mit mir hinaus. Ich muss mit dir sprechen.»

«Sofort, Herr.» Lazarus erhebt sich von dem Stuhl, auf den er sich gesetzt hat, und folgt Jesus in den Garten, der schon fast im Dunkeln liegt, da am Himmel das letzte Tageslicht erlischt und der erste schwache Schein des Mondes sich noch kaum bemerkbar macht.