26.03.2016

DER TAG DES KARSAMSTAGS

nach Maria Valtorta

Nur langsam, mühsam bricht der Tag an. Es ist ein eigenartig verspäteter Sonnenaufgang, trotz des wolkenlosen Himmels. Doch es scheint, dass die Himmelskörper all ihre Leuchtkraft verloren haben. Und ebenso blaß wie der nächtliche Mond ist nun auch die aufgehende Sonne. Trübe. Haben vielleicht auch sie geweint, dass sie trüb sind wie die Augen der Guten, die den Tod des Herrn beweint haben und noch beweinen?

Sobald Johannes bemerkt, dass die Tore geöffnet worden sind, geht er trotz der mütterlichen Bitten fort. Die Frauen schließen sich wieder im Haus ein und sind noch mehr verängstigt, nun, da der Apostel gegangen ist.

Maria, immer noch in ihrem Zimmer, die Hände im Schoß gefaltet, schaut durch das Fenster in den Garten, der zwar nicht sehr, aber doch ziemlich groß ist und voll blühender Rosen entlang den Mauern und auf den Beeten. Die Lilienbüschel hingegen haben noch nicht den Stengel der künftigen Blüte: Sie sind dicht und schön, bestehen aber nur aus Blättern. Maria schaut und schaut, doch ich glaube, dass sie nichts sieht. Sie sieht nur, worum sich ihre armen, müden Gedanken drehen: die Agonie ihres Sohnes.

Die Frauen kommen und gehen. Sie nähern sich Maria, liebkosen sie und bitten sie, eine Erfrischung anzunehmen... und jedesmal bringen sie eine Welle schwerer, mannigfaltiger, betäubender Düfte mit in den Raum.

Maria schaudert jedesmal. Sonst nichts. Kein Wort. Keine Bewegung. Nichts. Sie ist erschöpft. Sie wartet. Sie wartet nur. Sie wartet auf ihn.

Ein Klopfen an der Tür... Die Frauen eilen herbei, um zu öffnen. Maria dreht sich auf ihrem Sessel um, ohne aufzustehen, und schaut zur halb geöffneten Tür.

Magdalena tritt ein: «Manaen ist gekommen... Er möchte irgendwie dienlich sein ...»

«Wen hattest du erwartet, Mutter ...?»

«Später... später. Laß ihn hereinkommen.»

Manaen kommt herein. Er ist nicht wie sonst prunkvoll gekleidet, sondern trägt ein ganz gewöhnliches schwarzbraunes Gewand und einen passenden Mantel. Keinen Schmuck und kein Schwert. Er gleicht einem wohlhabenden Mann aus dem Volk.

Manaen verneigt sich zuerst mit über der Brust gekreuzten Armen zum Gruß; dann kniet er nieder, wie vor einem Altar.

«Steh auf. Und verzeih, wenn ich deine Verneigung nicht erwidere. Ich kann nicht...»

«Du sollst auch nicht. Ich würde es nicht zulassen. Du weißt, wer ich bin. Deshalb bitte ich dich, mich als deinen Diener zu betrachten. Brauchst du mich? Ich sehe, es ist kein Mann bei euch. Ich weiß von Nikodemus, dass alle geflohen sind. Es war nichts zu machen, dass ist wahr. Aber sie hätten sich wenigstens sehen lassen können, um ihn zu trösten. Ich ... ich habe ihn beim Xystos gegrüßt. Dann war es nicht mehr möglich, weil ... Aber es ist unnütz, darüber zu reden. Auch dies war von Satan gewollt. Nun bin ich frei und komme, um dir zu Diensten zu sein. Befiehl, Frau.»

«Ich möchte etwas über Lazarus erfahren und es auch den anderen sagen... Die Schwestern sind in Sorge, und meine Schwägerin und die andere Maria auch. Wir möchten wissen, ob Lazarus, Jakobus, Judas und der andere Jakobus in Sicherheit sind.»

«Judas? Iskariot? Aber er hat ihn doch verraten!»

«Judas, der Sohn des Bruders meines Bräutigams.»

«Ach so! Ich gehe.» Und er steht auf. Aber beim Aufstehen verzerrt er vor Schmerz das Gesicht.

«Bist du verletzt?»

«Nun ja... Nicht der Rede wert. Ein Arm tut mir ein wenig weh.»

«Vielleicht unseretwegen? Warst du deshalb nicht dort oben?»

«Ja, deshalb. Und nur dies schmerzt mich. Nicht die Wunde. Der Rest des Pharisäertums, des Hebräismus, des Satanismus – denn Satanskult ist der Kult Israels geworden – der noch in mir war, ist mit diesem Blut aus meinen Adern geflossen. Ich bin wie ein Kind, dass nach der Durchtrennung der Nabelschnur keine Verbindung mit dem Blut der Mutter mehr hat; die wenigen Tropfen, die noch in der abgetrennten Schnur sind, können nicht eindringen, da sie durch das Leinenband abgebunden sind. Sie fallen zu Boden, sind nun nutzlos. Das Neugeborene lebt mit seinem eigenen Herzen und seinem eigenen Blut. So ergeht es mir. Bisher war ich noch etwas unfertig. Nun bin ich am Ende meiner Entwicklung angelangt und dem Licht geschenkt und komme. Gestern wurde ich geboren. Meine Mutter ist Jesus von Nazareth. Er hat mich geboren, bei seinem letzten Schrei. Ich weiß es... denn ich bin heute nacht ins Haus des Nikodemus geflohen. Ich möchte ihn nur sehen ... Oh, wenn ihr zum Grab geht, dann sagt es mir. Ich werde mitkommen ... Ich kenne sein Antlitz als Erlöser noch nicht.»

«Er sieht dich an, Manaen. Dreh dich um.»

Der Mann, der gesenkten Hauptes eingetreten ist und dann nur Augen für Maria gehabt hat, wendet sich fast erschrocken um und sieht das Schweißtuch. Er wirft sich anbetend zu Boden...

Und weint. Dann steht er auf, verneigt sich vor Maria und sagt: «Ich gehe.»

«Aber es ist Sabbat. Du weißt es. Sie beschuldigen uns schon, durch ihn Gesetzesbrecher geworden zu sein.»

«Dann sind wir ihnen gleich, denn sie übertreten das Gebot der Liebe. Das erste und größte Gebot. Er hat es gesagt. Der Herr möge dich trösten.» Er geht hinaus.

Die Stunden vergehen. Wie langsam vergehen sie doch für jene, die warten...

Maria steht auf, hält sich an den Möbeln und geht zur Tür. Sie versucht, die große Eingangshalle zu durchqueren. Doch als sie sich nirgends mehr stützen kann, beginnt sie zu wanken. Martha, die es vom gegenüber dem Ausgang liegenden Hof aus bemerkt, eilt ihr zu Hilfe.

«Wo willst du hin?»

«Dort hinein. Ihr habt es mir versprochen.»

«Warte auf Johannes.»

«Ich habe genug gewartet. Ihr seht, dass ich ruhig bin. Geht, da ihr von innen habt abschließen lassen, und laßt öffnen. Ich warte hier.»

Susanna – denn alle sind herbeigekommen – holt den Hausherrn mit den Schlüsseln. Maria lehnt sich indessen an das Türchen, als wolle sie es durch die Kraft ihres Willens öffnen. Hier ist nun der Mann. Ängstlich, verzagt schließt er auf und zieht sich wieder zurück. Und Maria betritt, von Martha und Maria des Alphäus gestützt, den Abendmahlsaal.

Alles ist noch, wie es am Ende des Abendmahles war. Der Verlauf der Dinge und der von Jesus erteilte Befehl haben Veränderungen verhindert. Nur die Liegen hat man an ihren Platz zurückgebracht. Und Maria geht, obwohl sie nicht dabei war, doch direkt auf die Liege zu, auf der Jesus gelegen ist. Es scheint, als würde eine Hand sie führen. Und sie gleicht fast einer Mondsüchtigen, so steif ist ihr mühsamer Gang... Sie geht um die Liege herum und bleibt zwischen ihr und dem Tisch einen Augenblick stehen. Dann wirft sie sich in einem erneuten Aufschluchzen über den Tisch. Schließlich beruhigt sie sich und betet mit an den Rand des Tisches gelehntem Kopf. Sie streichelt das Tischtuch, die Liege, dass Geschirr, den Rand der großen Platte, auf der das Osterlamm gelegen ist, dass große Tranchiermesser und den an diesem Platz stehenden Krug. Sie weiß nicht, dass sie berührt, was auch Iskariot berührt hat. Dann legt sie wie betäubt den Kopf auf die auf dem Tisch liegenden Arme und bleibt so.

Alle schweigen, bis die Schwägerin sagt. «Komm, Maria. Wir fürchten die Juden. Möchtest du vielleicht, dass sie hier hereinkommen?»

«Nein, nein, dies ist ein heiliger Ort. Gehen wir. Helft mir... Es war gut, dass du mich daran erinnert hast. Ich hätte gerne eine schöne, große verschließbare Truhe, um darin alle meine Schätze aufzubewahren.»

«Morgen lasse ich dir eine aus dem Palast bringen. Die schönste Truhe des Hauses. Stark und sicher. Ich schenke sie dir mit Freuden», verspricht Magdalena.

Sie gehen hinaus. Maria ist völlig erschöpft. Sie wankt, als sie die wenigen Stufen hinaufsteigt. Und wenn ihr Schmerz jetzt weniger dramatisch zum Ausdruck kommt, so nur deshalb, weil sie weniger Kraft hat. Aber in ihrer Ruhe liegt noch mehr Tragik.

Sie kehren in den Raum von zuvor zurück. Und bevor Maria sich wieder an ihren Platz begibt, liebkost sie das Schweißtuch mit dem heiligen Antlitz, als ob es ein Gesicht aus Fleisch und Blut wäre.

Wieder klopft jemand an die Tür. Die Frauen eilen hinaus und öffnen die Tür einen Spalt. Mit ihrer müden Stimme sagt Maria: «Wenn es die Jünger sein sollten, besonders Simon Petrus und Judas, sollen sie sofort zu mir kommen.»

Aber es ist der Hirte Isaak. Er kommt nach einigen Minuten weinend herein und wirft sich sogleich vor dem Schweißtuch und dann vor Maria nieder. Er weiß nicht, was er sagen soll. So ist es Maria, die sagt: «Danke. Er hat dich gesehen, und auch ich habe dich gesehen. Er schaute euch an, solange er konnte.»

Isaak weint heftiger. Er kann erst sprechen, als er zu weinen aufhört. «Wir wollten nicht fortgehen. Aber Jonathan hat uns darum gebeten. Die Juden haben die Frauen bedroht... und danach konnten wir nicht zurückkehren. Alles... war zu Ende... Wo sollten wir also hingehen? Wir haben uns über die Felder zerstreut, und als die Nacht kam, trafen wir uns auf halbem Weg zwischen Jerusalem und Bethlehem. Wir glaubten, wir würden weniger an seinen Tod denken, wenn wir zu seiner Höhle gingen... Aber dann fühlten wir, dass es nicht recht wäre, dorthin zu gehen. Es wäre Egoismus gewesen, und so sind wir zur Stadt zurückgekehrt... Und ohne zu wissen wie, waren wir in Bethanien...»

«Und meine Söhne?»

«Und Lazarus?»

«Und Jakobus?»

«Sie sind alle dort. Die Felder des Lazarus waren bei Sonnenaufgang voll von weinenden Herumirrenden... Seinen unnützen Freunden und Jüngern! Ich... bin zu Lazarus gegangen in der Meinung, der erste zu sein. Es waren aber schon deine Söhne dort, Frau, und auch der deine, zusammen mit Andreas, Bartholomäus und Matthäus. Simon der Zelote hatte sie überredet, dorthin zu gehen. Und Maximinus, der am frühen Morgen auf die Felder gegangen ist, hat noch andere gefunden. Lazarus hat allen geholfen. Und er tut es noch. Er sagt, dass der Meister es ihm befohlen hat. Und auch der Zelote sagt es.»

«Aber wo sind meine anderen Söhne, Simon und Joseph?»

«Ich weiß es nicht, Frau. Wir waren bis zum Erdbeben alle zusammen. Danach... weiß ich nichts Genaueres. In der immer größeren Finsternis, bei den Blitzen und den aus den Gräbern auferstandenen Toten, bei dem Beben der Erde und dem wilden Sturm habe ich den Verstand verloren. Ich fand mich im Tempel wieder. Und ich frage mich immer noch, wie ich dort hineinkam, ins Innere der heiligen Abgrenzung. Stelle dir vor, zwischen mir und dem Rauchopferaltar war vielleicht eine Elle... Stelle dir vor, ich an dem Ort, den sonst nur die diensthabenden Priester betreten dürfen! Und ich habe das Allerheiligste gesehen! Ja... denn der Vorhang des Allerheiligsten ist von oben bis unten zerrissen, wie von der Hand eines Riesen... Hätten sie mich dort gesehen, wäre ich gesteinigt worden. Aber keiner schien mehr etwas zu sehen. Ich bin nur Geistern von Toten und Geistern von Lebenden begegnet. Denn wir glichen alle Gespenstern mit entsetzten Gesichtern im Flammen der Blitze und im Schein der Brände...»

«Oh, mein Simon, mein Joseph!»

«Und Simon Petrus? Und Judas Iskariot? Und Thomas und Philippus?»

«Ich weiß nicht, Mutter... Lazarus hat mich geschickt, damit ich nach euch sehe, denn jemand hatte ihm gesagt, daß... man euch getötet habe.»

«Dann geh sofort zurück und beruhige ihn. Ich habe schon Manaen gesandt. Aber geh auch du und sage... sage, dass nur er getötet wurde. Und ich mit ihm. Und wenn du andere Jünger triffst, dann nimm sie mit dorthin. Aber Iskariot und Simon Petrus, die schicke zu mir.»

«Mutter... Verzeih uns, dass wir nicht mehr getan haben.»

«Ich verzeihe alles... Geh.»

Isaak geht hinaus, und Martha, Maria, Salome und Maria des Alphäus überhäufen ihn mit Bitten, Empfehlungen und Aufträgen. Susanna weint leise, denn niemand spricht von ihrem Mann. Da erinnert sich Salome, dass auch sie einen Mann hat, und beginnt ebenfalls zu weinen.

Nun herrscht wieder Stille, bis erneut am Tor geklopft wird.

Da die Stadt ruhig ist, sind die Frauen nicht mehr so ängstlich. Aber als sie durch den Türspalt das bartlose Gesicht des Longinus erblicken, fliehen sie alle, als hätten sie einen Toten in seinem Leichentuch oder den Teufel in Person gesehen. Der Herr des Hauses, der neugierig in der Vorhalle auf- und abgegangen ist, läuft als erster davon.

Magdalena, die bei Maria war, eilt herbei. Longinus ist mit einem unwillkürlich amüsierten Lächeln auf den Lippen eingetreten und hat selbst das schwere Tor hinter sich geschlossen. Er ist nicht in Uniform, sondern trägt ein graues, kurzes Gewand unter einem dunklen Mantel.

Maria Magdalena schaut ihn an, und er schaut sie an. Dann fragt Longinus, immer noch an die Tür gelehnt: «Darf ich eintreten, ohne dass jemand verunreinigt wird? Und auch ohne jemanden zu erschrecken? Ich habe heute früh den Bürger Joseph gesehen, und er hat mir den Wunsch der Mutter mitgeteilt. Ich bitte um Verzeihung, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Hier ist die Lanze. Ich hatte sie behalten als Andenken... an... den Heiligen der Heiligen. O ja, dass ist er! Doch es ist nur recht und billig, dass die Mutter die Lanze bekommt. Was die Kleider betrifft... wird es schwieriger sein. Sage es ihr nicht ... aber wahrscheinlich sind sie schon für wenige Denare verkauft worden ... Das ist das Recht der Soldaten. Doch will ich versuchen, sie zu finden...»

«Komm, sie ist dort drüben.»

«Aber ich bin ein Heide!»

«Das macht nichts. Ich werde dich anmelden, wenn du es wünschst.»

«Oh! ... Ich dachte nur, dessen nicht würdig zu sein.»

Maria Magdalena geht zur Jungfrau. «Mutter, Longinus ist draußen. Er schenkt dir die Lanze.»

«Laß ihn eintreten.»

Der Hausherr, der am Tor steht, murrt: «Aber er ist doch ein Heide.»

«Ich bin die Mutter aller, Mann, so wie er der Erlöser aller ist.»

Longinus tritt ein, nachdem er auf der Schwelle auf römische Art mit ausgestrecktem Arm gegrüßt hat (er hat den Mantel abgelegt), und sagt: «Ave, Domina. Ein Römer grüßt dich, Mutter des Menschengeschlechtes. Du bist die wahre Mutter. Ich wollte nicht bei... bei dieser Sache... dabei sein. Aber es war ein Befehl. Und wenn es dazu gedient hat, dass ich dir nun bringen kann, was du wünschst, dann verzeihe ich dem Schicksal, dass mich für dieses furchtbare Geschehen bestimmt hat. Hier», und er überreicht ihr die in ein rotes Tuch gewickelte Lanze. Nur das Eisen, nicht den Schaft.

Maria nimmt sie und wird noch bleicher. Selbst die Lippen heben sich fast nicht mehr von der blassen Gesichtshaut ab. Die Lanze scheint ihr die Adern zu öffnen. Selbst ihre Lippen zittern, als sie sagt: «Er möge dich an sich ziehen. Deiner Güte wegen.»

«Er war der einzige Gerechte, dem ich im großen römischen Reich begegnet bin. Es tut mir leid, dass ich ihn nur durch die Worte der Kameraden kennengelernt habe. Nun... ist es zu spät!»

«Nein, Sohn. Er hat aufgehört zu predigen. Aber sein Evangelium bleibt. In seiner Kirche.»

«Wo ist seine Kirche?» fragt Longinus leicht ironisch.

«Hier ist sie. Heute ist sie verfolgt und zerstreut. Doch morgen wird sie sich vereinigen wie ein Baum, der seinen Wipfel nach einem Sturm wieder aufrichtet. Und wenn auch sonst niemand mehr da wäre, ich bin da. Und das Evangelium Jesu Christi, der der Sohn Gottes und mein Sohn ist, steht in meinem Herzen geschrieben. Ich brauche nur in mein Herz zu sehen, um es euch wiederholen zu können.»

«Ich werde kommen. Eine Religion, die als Oberhaupt einen solchen Helden hat, kann nur göttlich sein. Ave, Domina!»

Und auch Longinus geht wieder.

Maria küßt die Lanze, an der noch das Blut des Sohnes klebt... Sie will dieses Blut auch nicht entfernen, sondern läßt es als «Rubin Gottes auf der grausamen Lanze», wie sie sagt.

Der Tag vergeht, während der Himmel sich abwechselnd aufhellt und mit dunklen Gewitterwolken bedeckt.

Johannes kehrt erst zurück, als die im Zenith stehende Sonne anzeigt, dass es Mittag ist.

«Mutter, ich habe keinen gefunden, außer... Judas von Kerioth.»

«Wo ist er?»

«Oh, Mutter! Wie schrecklich! Er hängt an einem Ölbaum, schwarz und aufgedunsen, als ob er schon seit Wochen tot wäre. Verwest. Schrecklich... Über ihm fliegen mit schauerlichem Krächzen die Geier und Raben. Ihr Geschrei hat mich an die Stelle geführt. Ihr Geschrei hat meine Aufmerksamkeit erregt. Ich war auf dem Weg zum Ölberg; da sah ich auf einmal Schwärme von schwarzen Vögeln. Ich bin hingegangen... Warum? Ich weiß es nicht. Und so habe ich ihn gesehen. Wie schrecklich ...»

«Wie schrecklich! Du hast recht. Doch über der Güte stand die Gerechtigkeit. Wahrlich, die Güte ist jetzt abwesend... Aber Petrus... Petrus! ... Johannes, ich habe die Lanze. Aber die Kleider... Longinus hat nicht davon gesprochen.»

«Mutter, ich möchte nach Gethsemane gehen. Er ist ohne Mantel gefangengenommen worden. Vielleicht ist er noch dort. Dann werde ich nach Bethanien gehen.»

«Geh. Geh wegen des Mantels... Die anderen sind bei Lazarus. Du brauchst also nicht zu ihm zu gehen. Geh, und dann komm hierher zurück.»

Johannes eilt davon, ohne eine Stärkung zu sich zu nehmen. Auch Maria hat noch nichts gegessen. Die Frauen haben stehend Brot und Oliven gegessen und nebenbei weiter an den Salben gearbeitet.

Und dann kommen Jonathan und Johanna des Chuza. Vom vielen Weinen ist ihr Gesicht zur Maske geworden. Als sie Maria sieht, sagt sie: «Er hat mich gerettet. Mich hat er gerettet, und er ist tot. Nun wünsche ich, ich wäre nie gerettet worden.»

Und die Schmerzensmutter muss dieses geheilte Geschöpf trösten, dass von einer krankhaften Empfindsamkeit geblieben ist. Sie tröstet und stärkt sie und sagt: «Wenn du ihn nicht gekannt und geliebt hättest, könntest du ihm jetzt nicht dienen. Wieviel wird es in Zukunft zu tun geben! Und wir werden es tun müssen, denn du siehst... Wir sind geblieben, während die Männer geflohen sind. Die Frau ist immer die wahre Gebärerin, im Guten wie im Bösen. Wir werden den neuen Glauben gebären. Wir sind von ihm erfüllt. Er wurde vom göttlichen Bräutigam in uns gelegt. Und wir werden ihn der Erde gebären. Zum Heil der Welt. Sieh, wie schön er ist! Wie er lächelt und bittet um dieses unser heiliges Werk! Johanna, ich liebe dich, du weißt es. Weine nicht mehr.»

«Aber er ist tot! Ja, hier auf dem Tuch gleicht er noch einem Lebenden. Doch nun lebt er nicht mehr. Was ist die Welt ohne ihn?»

«Er wird zurückkommen. Geh. Bete und warte. Je mehr du glaubst, desto eher wird er auferstehen. Dieser Glaube ist meine Stärke... Und nur ich, Gott und Satan wissen, wie viele Angriffe auf diesen meinen Glauben an seine Auferstehung es gibt.»

Auch Johanna geht, zart und gebeugt wie eine verregnete Lilie. Aber als sie fort ist, überkommt Maria wieder eine große Trostlosigkeit.

«Allen, allen muss ich Kraft geben. Und wer gibt sie mir?» Und sie weint und liebkost das Antlitz auf dem Bild, denn sie hat sich jetzt neben die Truhe gesetzt, auf der das Schweißtuch ausgebreitet ist.

Joseph und Nikodemus kommen. Die Frauen müssen nun nicht mehr fortgehen, um Myrrhe und Aloe zu kaufen, denn sie bringen beides in kleinen Säckchen. Doch ihre Kräfte verlassen sie, als sie das Antlitz auf dem Linnen und das verzweifelte Gesicht der Mutter sehen.

Sie setzen sich in eine Ecke, nachdem sie gegrüßt haben, und schweigen, ernst und traurig... Dann gehen sie wieder. Auch Maria hat nicht mehr die Kraft zu sprechen. Je weiter die wegen der drückenden Wolken vorzeitige Abenddämmerung fortschreitet, desto mehr ist sie nur noch das arme, schmerzzerrissene Geschöpf. Die Schatten des Abends sind für sie, wie für alle Betrübten, Quelle noch größerer Schmerzen.

Auch die anderen werden trauriger. Besonders Salome, Maria des Alphäus und Susanna. Doch für sie kommt endlich ein Trost, denn in einer Gruppe erscheinen Zebedäus, der Mann der Susanna, Simon und Joseph des Alphäus. Die beiden ersteren bleiben in der Vorhalle und erzählen, dass Johannes sie gefunden hat, als er durch den Vorort Ophel gegangen ist. Die beiden anderen hingegen hat Isaak gefunden, während sie auf den Feldern umherirrten und nicht wußten, ob sie in die Stadt zurückkehren oder zu den Brüdern gehen sollten, von denen sie annahmen, dass sie in Bethanien seien.

Simon sagt: «Wo ist Maria? Ich will sie sehen», und er geht hinter seiner Mutter zu Maria hinein und küßt die schmerzerfüllte Verwandte.

«Bist du allein? Warum ist Joseph nicht bei dir? Warum habt ihr euch getrennt? Seid ihr immer noch miteinander im Streit? Das sollt ihr nicht. Ihr seht, die Ursache der Zwietracht ist tot.» Und sie zeigt auf das Antlitz des Schweißtuches.

Simon betrachtet es und weint. Er sagt: «Wir haben uns nicht mehr getrennt. Und wir werden uns nicht trennen. Ja, die Ursache der Zwietracht ist tot. Aber nicht so, wie du glaubst. Sie ist tot, weil Joseph nun begriffen hat... Joseph ist dort draußen... er getraut sich nicht hereinzukommen.»

«0 nein. Vor mir fürchtet sich niemand. Ich bin nur Erbarmen. Und ich hätte auch dem Verräter verziehen. Aber nun kann ich es nicht mehr. Er hat sich umgebracht.»

Maria steht auf. Sie geht gebeugt und ruft: «Joseph! Joseph!»

Aber Joseph ist ganz in Tränen aufgelöst und antwortet nicht.

Sie geht zur Tür, wie sie es getan hat, um mit Judas zu reden, hält sich am Türrahmen und legt die andere Hand auf den Kopf des ältesten und hartnäckigsten der Neffen. Sie liebkost ihn und sagt: «Ich möchte mich auf einen Joseph stützen. Alles war Frieden und Ruhe, solange ich diesen Namen als König in meinem Haus hatte. Dann ist mein Heiliger gestorben... Und all das menschliche Gut der armen Maria ist ebenfalls gestorben. Nur das übernatürliche Gut meines Gottes und Sohnes ist mir geblieben... Nun bin ich die Schmerzenreiche... Aber wenn ich in den Armen eines Joseph sein kann, den ich liebe, und du weißt, dass ich dich liebe, fühle ich mich weniger traurig. Dann glaube ich, die alte Zeit kehrt wieder. Dann kann ich sagen: „Jesus ist nicht da, aber er ist nicht tot. Er ist in Kana, in Naim bei der Arbeit, aber er kommt bald zurück...“ Komm, Joseph, wir wollen zusammen hineingehen, wo er auf dich wartet, um dir zuzulächeln. Er hat uns sein Lächeln hinterlassen, um uns zu sagen, dass er keinen Groll gegen uns hegt.»

Joseph geht hinein, und Maria hält ihn dabei an der Hand; und als er sieht, dass sie sich gesetzt hat, kniet er nieder, legt seinen Kopf in ihren Schoß und schluchzt: «Verzeihung! Verzeihung!»

«Nicht von mir, von ihm musst du sie erbitten.»

«Er kann sie mir nicht geben. Auf dem Kalvarienberg habe ich versucht, seinen Blick auf mich zu lenken. Alle hat er angesehen, nur mich nicht... Er hat recht... Ich habe ihn zu spät als Meister erkannt und geliebt. Nun ist es zu Ende...»

«Nun beginnt es erst. Du wirst nach Nazareth gehen und sagen: „Ich glaube.“ Dein Glaube wird einen unendlichen Wert haben. Du wirst ihn mit der Vollkommenheit der zukünftigen Apostel lieben, die das Verdienst haben werden, Jesus nur im Geist gekannt zu haben. Wirst du das tun?»

«Ja! Ja! Um wiedergutzumachen. Aber ich möchte ein Wort von ihm hören. Und ich werde nie wieder eines hören ...»

«Am dritten Tag wird er auferstehen und zu denen sprechen, die er liebt. Die ganze Welt wartet auf seine Stimme.»

«Du Gesegnete, die du glauben kannst ...»

«Joseph! Joseph! Mein Bräutigam war dein Onkel. Und er hat etwas geglaubt, was weit schwerer zu glauben war als dies. Er hat geglaubt, dass die arme Maria von Nazareth die Braut und Mutter Gottes war. Warum kannst du, der Neffe dieses Gerechten, der seinen Namen trägt, nicht glauben, dass Gott dem Tod gebieten kann: „Genug!“ und dem Leben: „Kehre zurück!?»

«Ich verdiene diesen Glauben nicht, weil ich schlecht gewesen bin. Ich bin ungerecht gegen ihn gewesen. Aber du... du bist die Mutter. Segne mich ... Verzeih mir... Gib mir Frieden ...»

«Ja ... Frieden... Verzeihung... Oh, Gott! Einmal habe ich gesagt: „Wie schwer ist es, der Erlöser zu sein.“ Nun sage ich: „Wie schwer ist es, die Mutter des Erlösers zu sein.“ Erbarmen, mein Gott! Erbarmen! ... Geh, Joseph. Deine Mutter hat in diesen Stunden so sehr gelitten. Tröste sie... Ich bleibe hier... mit allem, was ich von meinem Kind habe... Und meine einsamen Tränen werden dir den Glauben erlangen. Leb wohl, mein Neffe. Sage allen, dass ich schweigen... nachdenken... beten will. Ich bin eine arme Frau, die an einem Faden über einem Abgrund hängt... Der Faden ist mein Glaube... Und euer Unglaube – denn keiner versteht es, bedingungslos und heiligmäßig zu glauben – reißt unaufhörlich an diesem Faden. Ihr wißt nicht, welche Mühe ihr mich kostet... Ihr wißt nicht, dass ihr Satan helft, mich zu beunruhigen und zu quälen. Geh ...»

Und Maria bleibt allein...

Sie kniet vor dem Schweißtuch nieder. Sie küßt die Stirn, die Augen, den Mund des Sohnes und sagt: «So! So! Um Kraft zu erlangen... Ich muss glauben. Ich muss glauben. Für alle.»

Die Nacht ist hereingebrochen. Eine sternenlose Nacht. Es ist finster und schwül. Maria bleibt mit ihrem Schmerz im Dunkeln.

Der Tag des Karsamstags ist zu Ende.

DIE NACHT DES KARSAMSTAGS

Maria des Alphäus kommt vorsichtig herein und lauscht. Vielleicht glaubt sie, dass die Jungfrau eingeschlafen ist. Sie nähert sich und neigt sich vor. Und sieht sie auf den Knien, dass Gesicht auf dem Schweißtuch. Sie flüstert: «Oh, die Unglückliche! So ist sie geblieben...»

Sie muss der Meinung sein, dass sie in dieser Stellung eingeschlafen oder ohnmächtig geworden ist. Aber Maria beendet ihr Gebet und sagt: «Nein, ich habe gebetet.»

«Aber auf den Knien! Im Dunkeln! In dieser Kälte! Bei offenem Fenster! Merkst du nicht, dass du eiskalt bist?»

«Aber es geht mir so viel besser, Maria. Während ich betete – und nur der Ewige weiß, wie erschöpft ich war, nachdem ich so viele im Glauben Wankende stärken und so viele Seelen erleuchten musste, die nicht einmal sein Tod erleuchtet hatte – war mir, als umgebe mich der Duft der Engel und die Frische des Himmels, als fühlte ich die Liebkosung von Flügeln... Einen Augenblick... nicht länger. Aber mir schien, dass in das Meer der Bitterkeit, dass mich seit drei Tagen zornig überflutet, ein Tropfen friedvoller Süßigkeit gefallen sei. Das verschlossene Gewölbe des Himmels schien sich einen Spalt geöffnet zu haben, und ein Strahl leuchtender Liebe fiel auf die Verlassene. Ich glaubte, dass aus unendlichen Fernen eine unirdische Stimme flüsterte: „Es ist wirklich vollbracht.“ Und mein zuvor untröstliches Gebet wurde ruhig. Es wurde in den leuchtenden Frieden getaucht – oh, nur einen Widerschein des leuchtenden Friedens – der meine Berührung mit Gott im Gebet war... Meine Gebete! ... Maria, hast du deinen Alphäus sehr geliebt, als du die bräutliche Jungfrau warst?»

«Oh, Maria! ... Ich jubelte jeden Morgen und sagte: „Eine Nacht ist vorüber. Eine Nacht des Wartens weniger.“ Am Abend jubelte ich und sagte: „Ein weiterer Tag ist vergangen. Mein Einzug unter sein Dach ist nähergerückt.“ Und beim Sinken der Sonne sang ich wie eine Lerche und dachte: 'Bald wird er kommen.“ Und wenn ich ihn kommen sah, schön wie mein Judas – daher ist Judas auch mein Lieblingssohn – aber mit den Augen eines verliebten Rehes, wie mein Jakobus, oh, dann war ich wie von Sinnen. Und wenn er mich grüßte und sagte: „Süße Braut“, und ich antworten konnte: „Mein Herr“... Ich glaube, wenn ich im gleichen Augenblick von einem schweren Wagen überfahren oder von einem Pfeil getroffen worden wäre, ich hätte keinen Schmerz empfunden. Und später... als ich seine Frau geworden war... Ach...!» Maria verliert sich in der Ekstase der Erinnerung. Dann fragt sie: «Aber warum diese Frage?»

«Um dir zu erklären, was meine Gebete für mich waren. Verhundertfache deine Gefühle, vervielfache sie tausendmal und abertausendmal, dann wirst du verstehen, was das Gebet immer für mich war, die Erwartung jener Stunde. Ja, ich glaube, auch wenn ich nicht im Frieden der Grotte oder meines Zimmers gebetet, sondern die Arbeiten der Frauen verrichtet habe, hat meine Seele pausenlos gebetet. Aber wenn ich sagen konnte: „Nun kommt die Stunde, in der ich mich in Gottes Gegenwart versenke“, dann brannte mein Herz und klopfte rascher. Und wenn ich mich in Gott verloren hatte... dann... Nein, dass kann ich dir nicht erklären. Wenn du einst im Licht Gottes sein wirst, wirst du es verstehen... All dies war seit drei Tagen verloren. Und es war schmerzlicher, als keinen Sohn mehr zu haben. Und Satan wühlte in diesen beiden Wunden, die der Tod meines Kindes und die Gottverlassenheit mir geschlagen hatten, und schlug die dritte Wunde: die furchtbare Angst vor dem Unglauben. Maria, ich habe dich lieb, und du bist meine Verwandte. Du wirst es später deinen Söhnen, den Aposteln, sagen, damit sie in ihrem Apostolat ausharren und über Satan triumphieren können. Ich bin sicher, dass die ganze Erlösung hinfällig gewesen wäre, wenn ich dem Zweifel unterlegen wäre, wenn ich der Versuchung durch Satan nachgegeben, Gott geleugnet und gesagt hätte: „Es ist nicht möglich, dass er aufersteht“; denn dies zu sagen, wäre einer Leugnung Gottes mit seiner Macht und Wahrheit gleichgekommen. Ich, die neue Eva, hätte wieder in den Apfel des Stolzes und der geistigen Sinnlichkeit gebissen und das Werk meines Erlösers zerstört. Die Apostel werden unaufhörlich auf diese Weise versucht werden, von der Welt, dem Fleisch, der Macht und dem Satan. Sie müssen standhaft bleiben, trotz aller Qualen – und die körperlichen werden noch die geringsten sein – um nicht zu zerstören, was Jesus geschaffen hat.»

«Sage du es meinen Söhnen, Maria... Wie soll deine arme Schwägerin es ihnen sagen können?! Oh, wären sie doch gekommen! Die Flucht in der ersten Stunde, dass verstehe ich noch. Aber dann!»

«Du siehst, dass Lazarus und Simon den Befehl erhalten hatten, sie nach Bethanien zu führen. Jesus weiß alles ...»

«Ja... Aber... Oh! Wenn ich sie sehe, werde ich ihnen ordentlich die Meinung sagen. Sie sind feige gewesen. Alle anderen können feige sein, aber nicht sie: meine Söhne! Ich werde es ihnen nie verzeihen ...»

«Verzeih, verzeih... Es war nur ein Augenblick der Verwirrung... Sie glaubten nicht, dass er gefangengenommen werden könnte. Er hatte es gesagt...»

«Dann ist es also richtig, wenn ich ihnen nicht verzeihe. Sie haben es gewußt. Sie waren also vorbereitet. Wenn man etwas weiß und dem glaubt, der es sagt, darf man doch nicht mehr überrascht sein!»

«Maria, auch zu euch hat er gesagt: „Ich werde auferstehen.“ Und doch... Könnte ich in eure Brust und in euren Kopf schauen, würde ich in eurem Herzen und in eurem Gehirn lesen: „Es ist nicht möglich.“»

«Aber wenigstens... Ja... Es ist schwer, zu glauben... Aber wir sind auf dem Kalvarienberg geblieben.»

«Durch die von Gott geschenkte Gnade. Sonst wären auch wir geflohen.

Hast du gehört, was Longinus gesagt hat: „Ein furchtbares Geschehen“? Und er ist ein Krieger. Wir Frauen, allein mit einem Jüngling, haben nur dank der direkten Hilfe Gottes ausgeharrt. Rühme dich daher nicht. Es ist nicht unser Verdienst.»

«Und warum hat Gott ihnen diese Hilfe nicht gewährt?»

«Weil sie die Priester von morgen sind. Sie müssen daher wissen, aus eigener Erfahrung wissen, wie leicht ein Glaubender vom Glauben abfallen kann. Jesus will keine Priester, die es so wenig und so schlecht sind wie jene, die seine schlimmsten Feinde waren.»

«Du sprichst von Jesus, als ob er schon zurückgekehrt wäre.»

«Siehst du? Auch du gestehst damit ein, dass du nicht glaubst. Wie willst du also deine Söhne tadeln?»

Maria des Alphäus kann ihr nicht widersprechen. Sie neigt den Kopf und schiebt mechanisch Gegenstände umher. Dann findet sie die Lampe und trägt sie aus dem Zimmer, um bald darauf mit derselben, nun brennenden Lampe zurückzukehren und sie an den üblichen Platz zu stellen.

Maria hat sich wieder neben das ausgebreitete Schweißtuch gesetzt. Das Antlitz auf dem Schweißtuch scheint im gelben Schein der Öllampe mit dem flackernden Flämmchen lebendig zu werden und den Mund und die Augen zu bewegen.

«Möchtest du nichts essen?» fragt die Schwägerin beschämt.

«Nur ein wenig Wasser... Ich habe Durst.»

Maria geht und kommt mit Milch zurück.

«Bestehe nicht darauf. Ich kann nicht. Nur Wasser. Ich habe keine Flüssigkeit mehr in mir... Ich glaube, ich habe nicht einmal mehr Blut. Aber ...»

Man klopft ans Tor. Maria des Alphäus geht hinaus. Eine Unterredung in der Vorhalle, dann steckt Johannes den Kopf ins Zimmer.

«Johannes, du bist zurück? Immer noch nichts?»

«Doch... Simon Petrus... und der Mantel Jesu ... in Gethsemane. Der Mantel...» Johannes kniet nieder und sagt: «Hier ... Aber er ist ganz zerrissen und blutverschmiert. Die Handabdrücke sind von Jesus. Nur er hatte so lange und schlanke Hände. Aber die Risse stammen von Zähnen. Man sieht genau, dass es das Gebiß eines Menschen war. Ich vermute, dass es... Judas Iskariot gewesen ist, denn am gleichen Ort, an dem Petrus den Mantel gefunden hat, lag ein Fetzen des gelben Gewandes von Judas. Er ist dorthin zurückgekehrt... später, bevor er sich umgebracht hat. Schau, Mutter.»

Maria hat den schweren, roten Mantel des Sohnes nur gestreichelt und geküßt; doch auf Drängen des Johannes entfaltet sie ihn und sieht die dunklen Blutflecken auf dem Rot und die Spuren der Zähne. Sie zittert und flüstert: «Wieviel Blut!» Es scheint, dass sie nur dies sieht.

«Mutter... der Boden ist ganz rot. Simon, der in den ersten

Morgenstunden hinaufgeeilt ist, sagt, dass noch frisches Blut an den Grashalmen war... Jesus... Ich weiß nicht... Mir schien er nicht verletzt zu sein... Woher das viele Blut?»

«Von seinem Körper. In der Todesangst... Oh, Jesus... vollständiges Opfer! Oh, mein Jesus!» Maria weint so bitterlich und unter schwachen Klagen, dass die Frauen an die Tür kommen, um nach ihr zu sehen und sich dann wieder zurückzuziehen. «Dies, während alle dich verließen... Was habt ihr getan, während er seine erste Todesangst durchlitt?»

«Wir haben geschlafen, Mutter ...» Johannes weint.

«Und du hast Simon dort angetroffen? Erzähle.»

«Ich war gegangen, um den Mantel zu suchen. Ich wollte Jonas und Markus danach fragen... Aber sie sind geflohen. Das Haus ist jetzt verschlossen und verlassen. Also ging ich an der Mauer entlang den ganzen Weg, den wir am Donnerstag zurückgelegt haben... Ich war so erschöpft und so betrübt an jenem Abend, dass ich mich jetzt nicht mehr erinnern konnte, wo Jesus den Mantel abgelegt hatte. Mir schien, dass er ihn anhatte, und später dann nicht mehr... Auf dem Platz der Gefangennahme war nichts... Wo wir drei waren, auch nichts... Ich bin dem Pfad gefolgt, den der Meister eingeschlagen hatte... Und ich glaubte, vielleicht sei auch Simon Petrus tot, denn ich sah ihn dort ganz zusammengekauert an einem Felsen. Ich rief ihn, und er hob den Kopf... Er war so verändert, dass mir schien, er habe den Verstand verloren. Und mit einem Schrei versuchte er zu entfliehen. Aber er strauchelte, denn die Tränen trübten seine Augen, und ich hielt ihn fest. Er sagte mir: „Laß mich. Ich bin ein Dämon. Ich habe ihn verleugnet. So, wie er es vorhergesagt hatte... Der Hahn hat gekräht, und er hat mich angesehen. Ich bin geflohen... Ich bin auf den Feldern hin- und hergerannt, und dann war ich auf einmal hier. Und siehst du? Hier hat Jahwe mich sein Blut finden lassen, um mich anzuklagen. Überall Blut! Überall Blut! Auf dem Felsen, auf der Erde, auf dem Gras. Ich habe es ihn vergießen lassen. Wie du, wie alle. Aber ich habe dieses Blut verleugnet.“ Er schien mir von Sinnen zu sein. Ich habe alles versucht, um ihn zu beruhigen und fortzuführen. Aber er wollte nicht. Er sagte: „Hier, hier will ich bleiben, um dieses Blut und diesen Mantel zu bewachen. Mit meinen Tränen will ich ihn waschen. Wenn kein Blut mehr an dem Mantel ist, werde ich vielleicht zu den Lebenden zurückkehren, an meine Brust schlagen und sagen: „Ich habe den Herrn verleugnet.“ Ich habe ihm gesagt, dass du ihn sehen willst, dass du mich auf die Suche nach ihm geschickt hast. Aber er wollte mir nicht glauben. Also habe ich ihm gesagt, dass du auch Judas sehen wolltest, um ihm zu verzeihen, und dass du sehr leidest, weil du es durch seinen Selbstmord nicht mehr tun kannst. Erst dann hat sich sein Weinen etwas beruhigt. Und er wollte alles wissen und hat mir auch erzählt, dass noch frisches Blut im Gras war und dass Judas, von dessen Gewand er einen Fetzen gefunden hatte, den Mantel zerrissen hat. Ich habe ihn lange reden lassen und dann gesagt: „Komm mit zur Mutter.“ Oh, wie musste ich bitten und betteln, um ihn zu überzeugen. Und als ich glaubte, es sei mir gelungen, und aufstand um zu gehen, wollte er nicht mehr. Erst gegen Abend haben wir uns auf den Weg gemacht. Aber kurz vor der Tür hat er sich wieder in einem verlassenen Garten versteckt und gesagt: „Ich will nicht, dass die Leute mich sehen. Auf meiner Stirn steht geschrieben: Gottesleugner.“ Erst als es ganz dunkel wurde, ist es mir gelungen, ihn hierherzuschleppen.»

«Wo ist er?»

«Hinter der Tür.»

«Laß ihn hereinkommen.»

«Mutter...»

«Johannes ...»

«Tadle ihn nicht. Er bereut.»

«Kennst du mich immer noch so wenig? Laß ihn hereinkommen.»

Johannes geht hinaus. Doch er kommt allein zurück und sagt: «Er hat nicht den Mut... Versuche du, ihn zu rufen.»

Und Maria sagt sanft: «Simon des Jonas, komm.» Nichts. «Simon Petrus, komm.» Nichts. «Petrus von Jesus und Maria, komm.» Ein lautes, bitterliches Weinen. Aber er kommt nicht herein. Maria steht auf. Sie legt den Mantel auf den Tisch und geht zur Tür.

Petrus hat sich draußen zusammengekauert. Wie ein herrenloser Hund. Er weint so laut, dass er das Geräusch der sich öffnenden, quietschenden Tür nicht hört, und auch nicht das Knirschen der Sandalen Marias. Er bemerkt sie erst, als sie vor ihm steht, sich über ihn neigt, eine seiner auf die Augen gedrückten Hände ergreift und ihn auffordert, aufzustehen. Sie geht in das Zimmer und zieht Petrus hinter sich her wie ein Kind. Dann verriegelt sie die Tür und kehrt, gebeugt in ihrem Schmerz, wie Petrus in seiner Scham, an ihren Platz zurück.

Petrus geht zu ihr, kniet zu ihren Füßen nieder und weint hemmungslos. Maria streichelt das ergraute und vor Schmerz schweißnasse Haar. Sonst nichts, nur diese Liebkosung, bis er ruhiger geworden ist. Dann, als Petrus schließlich sagt: «Du kannst mir nicht verzeihen. Streichle mich also nicht. Denn ich habe ihn verleugnet», entgegnet Maria: «Petrus, du hast ihn verleugnet. Das ist wahr. Du hast den Mut gehabt, ihn öffentlich zu verleugnen, den feigen Mut, es zu tun. Die anderen... Alle, außer den Hirten, Manaen, Nikodemus, Joseph und Johannes, sind nur feige gewesen. Alle haben sie ihn verleugnet, die Männer und die Frauen Israels, mit Ausnahme einiger Frauen... Ich spreche nicht von den Neffen und Alphäus der Sara. Sie waren Verwandte und Freunde. Aber die anderen! ... Sie hatten nicht einmal den satanischen Mut, zu lügen, um sich zu retten; und sie hatten weder den geistigen Mut, zu bereuen und zu weinen, noch den noch größeren Mut, öffentlich ihren Fehler einzugestehen. Du bist ein armer Mensch. Du bist es vielmehr gewesen, solange du auf dich selbst vertraut hast. Nun bist du ein Mensch. Und morgen wirst du ein Heiliger sein. Aber selbst, wenn du nicht so wärest, wie du bist, ich hätte dir trotzdem verziehen. Ich hätte Judas verziehen, um seine Seele zu retten; denn um eine Seele zu retten, selbst eine einzige Seele, sollte man keine Mühe scheuen und jeden Ekel und allen Widerwillen und allen Groll überwinden, auch wenn es einem das Herz zerreißt. Denke daran, Petrus. Ich wiederhole dir: „Der Wert einer Seele ist so groß, dass man sie – selbst auf die Gefahr hin, ihre Nähe nicht zu ertragen und daran zu sterben – mit den Armen umfassen und festhalten muss, so wie ich jetzt dein ergrautes Haupt halte, wenn man verstanden hat, dass man sie durch dieses Festhalten retten kann.“ So wie eine Mutter, die nach der väterlichen Züchtigung das Haupt ihres schuldigen Sohnes an ihr Herz zieht und mit den Worten ihres gequälten, in Liebe und Schmerz schlagenden Herzens mehr gutmacht und erreicht als der Vater mit seiner Strenge. Petrus meines Sohnes, armer Petrus, der du wie alle in dieser Stunde der Finsternis in die Hand Satans geraten und dir dessen nicht bewusst gewesen bist, der du glaubst, alles allein getan zu haben, komm, komm an das Herz der Mutter der Söhne meines Sohnes. Hier kann Satan dir nichts anhaben. Hier beruhigen sich die Gewitter in Erwartung der Sonne, meines Jesus, der auferstehen und dir sagen wird: „Friede, mein Petrus.“ Der Morgenstern erscheint, rein und schön, und sein Kuß verleiht Reinheit und Schönheit, wie es auf dem klaren Wasser unseres Meeres an den kühlen Frühlingsmorgen geschieht. Deshalb habe ich so sehr nach dir verlangt. Am Fuß des Kreuzes wurde ich seinetwegen und euretwegen gemartert, und – wie konntest du mich nicht hören? – ich habe eure Seelen so laut gerufen, dass ich glaube, sie sind wahrhaftig zu mir gekommen. Und, verschlossen in meinem Herzen, nein, vielmehr auf meinem Herzen, wie die Schaubrote, habe ich sie emporgehoben, damit sie in seinem Blut und seinen Tränen gewaschen werden. Ich durfte es tun, denn er hat mich in Johannes zur Mutter seiner ganzen Nachkommenschaft gemacht... Wie sehr habe ich nach dir verlangt! ... An jenem Morgen, am Nachmittag, in der Nacht und am nächsten Tag ... Warum hast du eine Mutter so lange warten lassen, armer, von Satan verwundeter und getretener Petrus? Weißt du nicht, dass es die Aufgabe der Mütter ist, wiedergutzumachen, zu heilen, zu verzeihen, zu führen? Ich führe dich zu ihm. Möchtest du ihn sehen? Möchtest du sein Lächeln sehen, um dich zu überzeugen, dass er dich immer noch liebt? Ja? Oh, dann löse dich aus den Armen der armen Frau und lege deine Stirn an die gekrönte Stirn, deinen Mund auf die wunden Lippen, und küsse deinen Herrn.»

«Er ist tot... Ich werde es nie mehr tun können.»

«Petrus, antworte mir. Welches, glaubst du, ist das letzte Wunder deines Herrn?»

«Das der Eucharistie. Nein, vielmehr das des geheilten Soldaten... Oh, ich erinnere mich nicht daran...!»

«Eine treue, liebevolle und starke Frau ist auf dem Kalvarienberg zu ihm gekommen und hat sein Antlitz abgetrocknet. Und er, um zu zeigen, was die Liebe vermag, hat dem Linnen sein Antlitz aufgeprägt. Hier, Petrus. Das hat eine Frau erreicht, in der Stunde der höllischen Finsternis und des göttlichen Zornes. Nur weil sie geliebt hat. Denke immer daran, Petrus! In den Stunden, da du meinst, Satan sei stärker als Gott. Gott war der Gefangene der Menschen. Er war unterdrückt, verurteilt und gegeißelt worden und dem Tod schon nahe... Und doch, selbst in den schwersten Verfolgungen ist Gott immer Gott. Und wenn auch die Idee getroffen wird, Gott, der sie erweckt hat, ist unangreifbar und antwortet daher ohne Worte, mit diesem Tuch, den Gottesleugnern, den Ungläubigen, den Menschen mit dem törichten „Warum“, dem sündhaften „Es ist nicht möglich“ und dem gotteslästerlichen „Was ich nicht verstehe, dass kann nicht wahr sein“. Schau es an, dass Linnen. Einmal, du selbst hast es mir erzählt, hast du zu Andreas gesagt: „Der Messias soll sich dir geoffenbart haben? Das kann nicht wahr sein.“ Und dann musste sich dein menschlicher Verstand der Kraft des Geistes beugen, der den Messias dort sah, wo der Verstand ihn nicht gesehen hatte. Ein anderes Mal hast du im Sturm auf dem Meer gefragt: „Soll ich kommen, Meister?“, und dann hast du auf halbem Weg, auf den tobenden Wellen zu zweifeln begonnen und gesagt: „Das Wasser kann mich nicht tragen“, und mit dem Zweifel als Ballast wärest du beinahe ertrunken. Erst als der Glaube des Geistes, entgegen dem menschlichen Verstand, die Oberhand gewann, hast du Hilfe bei Gott gefunden. Ein anderes Mal hast du gesagt: „Wenn Lazarus schon seit vier Tagen tot ist, warum sind wir dann gekommen? Um sinnlos zu sterben?“ Denn du konntest mit deinem menschlichen Verstand zu keinem anderen Ergebnis kommen. Und dein Verstand wurde vom Geist beschämt, der dir in dem Auferweckten die Herrlichkeit des Erweckers bewies und dir zeigte, dass ihr nicht umsonst dorthin gegangen wart. Ein andermal, ja, sogar mehrmals hast du gesagt, wenn du deinen Herrn vom Tod, vom schrecklichen Tod sprechen hörtest: „Das wird dir niemals zustoßen.“ Und du siehst, wie dein Verstand Lügen gestraft wurde. Ich erwarte nun das Wort deines Geistes zu diesem letzten Geschehnis ...»

«Verzeihung.»«Nicht dieses. Ein anderes Wort.»«Ich glaube.»«Ein anderes.»«Ich weiß nicht ...»

«Ich liebe. Petrus, liebe! Es wird dir verziehen werden. Du wirst glauben. Du wirst stark sein. Du wirst der Priester sein und nicht der Pharisäer, der unterdrückt und statt des lebendigen Glaubens nur Äußerlichkeiten kennt. Sieh ihn an. Finde den Mut, ihn anzusehen... Alle haben ihn angeschaut und verehrt. Auch Longinus... Und du solltest es nicht können? Du hast ihn doch verleugnen können! Wenn du ihn jetzt nicht ansiehst, durch das Feuer meines mütterlich-liebenden Schmerzes, der euch vereint, der euch versöhnt, dann wirst du es nie wieder tun können. Er wird auferstehen. Wie wirst du ihn in seiner neuen Herrlichkeit ansehen können, wenn du nicht sein Antlitz kennst im Übergang vom Meister, den du kennst, zum Sieger, den du nicht kennst? Denn der Schmerz, aller Schmerz der Jahrhunderte und der Welt, hat ihn mit Meißel und Hammer bearbeitet in den Stunden von der Vesper des Donnerstags bis zur neunten Stunde des Freitags. Und er hat sein Antlitz verändert. Zuerst war er nur der Meister und Freund. Nun ist er der Richter und König. Er hat seinen Thron bestiegen, um zu richten. Und er hat seine Krone aufgesetzt. So wird er bleiben. Nur wird er nach seiner glorreichen Auferstehung nicht mehr der menschliche Richter und König, sondern der göttliche Richter und König sein. Sieh ihn an. Schau ihn an, solange noch die Menschheit und der Schmerz ihn verschleiern, um ihn betrachten zu können, wenn er in seiner Gottheit triumphieren wird.»

Petrus hebt endlich das Haupt vom Schoß der Mutter und betrachtet sie mit vom Weinen geröteten Augen und dem Gesicht eines alten Kindes, dass über das angerichtete Übel verzweifelt und über die ihm entgegengebrachte Güte verwundert ist.

Maria zwingt ihn, seinen Herrn anzusehen. Und nun stöhnt Petrus wie vor einem lebendigen Antlitz: «Verzeihung! Verzeihung! Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte... was es war. Ich bin es nicht gewesen. Etwas hat mich verändert, und ich war nicht mehr ich selbst. Aber ich liebe dich, Jesus! Ich liebe dich, mein Meister! Komm zurück. Komm zurück! Geh nicht fort, ohne mir zu sagen, dass du mich verstanden hast!»

Maria wiederholt die Geste, die sie schon in der Grabkammer gemacht hat. Mit ausgestreckten Armen und aufrecht stehend gleicht sie der Priesterin im Augenblick der Opferung. Und wie sie dort die unbefleckte Hostie geopfert hat, so opfert sie hier den reuigen Sünder. Sie ist wahrlich die Mutter der Heiligen und der Sünder. Dann hilft sie Petrus beim Aufstehen und tröstet ihn wiederum. Sie sagt zu ihm: «Nun, da du hier bist, geht es mir besser. Geh jetzt hinüber zu den Frauen und Johannes. Ihr braucht Ruhe und Nahrung. Geh, sei gut...» Sie spricht wie zu einem Kind.

Und während das Haus, dass nun in dieser zweiten Nacht nach seinem Tod ruhiger geworden ist, zu den menschlichen Gewohnheiten des Schlafens und Essens zurückkehrt und das müde und ergebene Aussehen von Räumen hat, in denen die Hinterbliebenen nach dem Schock dieses Todes langsam wieder zu sich kommen, will nur Maria allein wachen. An ihrem Platz. In der Erwartung. Im Gebet. Immer. Immer. Immer. Für die Lebenden und die Toten. Für die Gerechten und die Schuldigen. Für die Wiederkehr. Die Wiederkehr. Die Wiederkehr des Sohnes.

Die Schwägerin wollte bei ihr bleiben. Aber nun schläft sie tief, sitzt in einer Ecke und lehnt den Kopf an die Wand. Martha und Maria kommen zweimal nachsehen; doch dann ziehen sie sich müde in ein nahes Zimmer zurück, und nach einigen Worten fallen auch sie in einen bleiernen Schlaf... Etwas abseits schlafen Salome und Susanna in einer winzigen Kammer, während auf zwei auf den Boden geworfenen Matten Petrus und Johannes schnarchen. Ersterer schluchzt ab und zu immer noch unwillkürlich. Johannes lächelt wie ein Kind, dass irgend etwas Erfreuliches träumt.

Das Leben kehrt wieder, und das Fleisch macht seine Rechte geltend.. Nur der Morgenstern leuchtet schlaflos mit seiner Liebe, die bei dem Bildnis des Sohnes wacht.

So vergeht die Nacht des Karsamstags, bis im ersten schwachen Schein des Morgens ein Hahn kräht und Petrus mit einem Schrei auf die Füße springt. Sein angstvoller Schrei weckt auch die anderen Schlafenden.

Die Nachtruhe ist zu Ende. Das Leid beginnt wieder, während für Maria die Qual des Wartens nur noch größer wird.