27.05.2016

DER VERDORRTE FEIGENBAUM; DIE TEMPELREINIGUNG

nach Maria Valtorta

Er geht allen voran durch die Ölgärten. Sie reichen vom Lager, das beinahe auf halbem Weg zwischen Bethanien und Jerusalem liegt, bis zum anderen Brückchen über den Kedron beim Herdentor.

Bauernhäuser liegen an den Hängen verstreut, und fast ganz unten am Fluß neigt sich ein zerzauster Feigenbaum über das Wasser. Jesus begibt sich zu diesem und schaut, ob unter den breiten, üppigen Blättern reife Feigen hängen. Doch der Baum hat nur viele unnütze Blätter an den Ästen, und keine einzige Frucht. «Du bist wie viele Herzen in Israel. Du hast keine Süßigkeit für den Menschensohn und kein Erbarmen. In Ewigkeit wirst du keine Frucht mehr tragen, und niemand wird mehr von dir essen», sagt Jesus.

Die Apostel sehen einander an. Der Zorn Jesu über den unfruchtbaren, vielleicht wilden Baum, verwundert alle. Aber sie sagen nichts.

Am nächsten Tag sind sie auf dem Weg in die Stadt. Es ist wieder die kleine Nebenstraße, die sie auch am Morgen zuvor genommen haben. Es scheint, als wolle Jesus nicht von wartenden Menschen umgeben sein, bevor er im Tempel angekommen ist, den man bald erreicht, wenn man die Stadt durch das Herdentor nahe dem Probatica-Teich betritt. Aber heute warten schon viele der zweiundsiebzig Jünger auf der anderen Seite des Kedron, vor der Brücke. Und kaum sehen sie ihn in seinem purpurroten Gewand zwischen den grüngrauen Ölbäumen kommen, gehen sie ihm entgegen.

Sie vereinigen sich mit der Gruppe der Apostel und gehen dann zusammen zur Stadt weiter. Petrus, der den Hang vor ihnen hinunterschaut und achtgibt, da er ständig den Verdacht hat, es könnte jemand in böser Absicht erscheinen, sieht zwischen dem frischen Grün ganz unten einen Busch welker, schlaffer Blätter, der über dem Wasser des Kedron hängt.

Die eingerollten, sterbenden, stellenweise wie rostfleckigen Blätter sehen aus, als wären sie von Feuer versengt. Ab und zu löst der Wind ein Blatt und weht es ins Wasser des Baches.

«Aber das ist ja der Feigenbaum von gestern! Der Feigenbaum, den du verflucht hast!» ruft Petrus, zeigt mit der Hand auf den dürren Baum und wendet den Kopf, um mit dem Meister zu reden.

Alle eilen herbei, außer Jesus, der in seinem üblichen Tempo weitergeht.

Die Apostel erzählen den Jüngern die Vorgeschichte dessen, was sie sehen, und alle zusammen machen sie ihre Bemerkungen und schauen Jesus verblüfft an. Sie haben Tausende von Wundern an Menschen und Elementen gesehen. Aber dieses berührt sie mehr als alle anderen.

Jesus, der sie eingeholt hat, lächelt, als er die erstaunten und furchtsamen Gesichter bemerkt und sagt: «Nun? Wundert ihr euch so sehr darüber, daß auf mein Wort hin ein Feigenbaum vertrocknet ist? Habt ihr mich nicht die Toten auferwecken, die Aussätzigen heilen, die Blinden sehend machen, das Brot vermehren, den Sturm beruhigen und das Feuer löschen sehen? Und ihr wundert euch, daß ein Feigenbaum vertrocknet?»

«Es ist nicht wegen des Feigenbaumes. Es ist nur, weil er gestern voller Leben war, als du ihn verflucht hast, und nun ist er verdorrt. Schau, er ist brüchig wie trockenes Stroh. Seine Zweige haben kein Mark mehr. Schau, sie werden zu Staub», und Bartholomäus zerreibt die Zweige zwischen den Fingern, die er mit Leichtigkeit abgebrochen hat.

«Sie haben kein Mark mehr. Du hast es gesagt. Und wenn kein Mark mehr da ist, dann bedeutet das den Tod, sei es nun bei einem Gewächs, einer Nation oder einer Religion; denn dann gibt es nur noch harte Rinde und unnütze Blätter: Härte und scheinheilige Äußerlichkeit. Das weiche innere Mark voller Lebenskraft gleicht der Heiligkeit, der Geistigkeit; die harte Rinde und das nutzlose Blattwerk ist die Menschheit ohne geistiges Leben und Gerechtigkeit. Wehe den Religionen, die weltlich werden, weil der Geist ihrer Priester und ihrer Gläubigen nicht mehr lebt. Wehe den Nationen, deren Häupter nur kalte, hochtönende Schwätzer sind ohne fruchtbare Ideen! Wehe den Menschen, denen das geistige Leben fehlt!»

«Wenn du dies den Großen von Israel sagen würdest, wärest du nicht klug, obgleich deine Worte der Wahrheit entsprechen. Laß dich nicht dadurch täuschen, daß sie dich bis jetzt haben reden lassen. Du selbst sagst ja, daß dies nicht eine Bekehrung der Herzen, sondern Berechnung ist. Also solltest auch du den Wert und die Folgen deiner Worte bedenken, denn es gibt eine Weisheit der Welt neben der Weisheit des Geistes. Und wir müssen sie zu unserem Vorteil gebrauchen, da wir noch auf der Welt und nicht im Reich des Himmels sind», sagt Iskariot zwar ohne Schärfe, aber in belehrendem Ton.

«Der wahrhaft Weise ist, wer die Dinge sieht, ohne daß die Schatten der eigenen Gefühle und der Widerschein der Berechnung sie verändern. Ich werde immer die Wahrheit sagen über das, was ich sehe.»

«Aber dieser Feigenbaum ist doch tot, weil du ihn verflucht hast... Oder ist es ein... Fall von... ein Zeichen... ich weiß es nicht?» fragt Philippus.

«Es ist all das, was du sagst. Aber was ich getan habe, könnt auch ihr tun, wenn ihr zum vollkommenen Glauben gelangt. Glaubt an den allerhöchsten Herrn. Wenn ihr diesen Glauben habt, wahrlich, das sage ich euch, könnt ihr dies und noch mehr tun. Wahrlich, ich sage euch, wenn einer vollkommen vertraut in die Kraft des Gebetes und in die Güte des Herrn, kann er zu diesem Berg sagen: "Hebe dich weg und stürze dich ins Meer" ' und wenn er, während er dies sagt, in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, daß was er gebietet möglich ist, so wird es geschehen.»

«Dann hält man uns für Zauberer, und wir werden gesteinigt, wie es den Zauberern ergeht. Es wäre ein gar törichtes Wunder und zu unserem Schaden!» sagt Iskariot und schüttelt den Kopf.

«Du bist töricht, weil du das Gleichnis nicht verstehst!» entgegnet ihm der andere Judas.

Jesus spricht nicht zu Judas, sondern zu allen: «Ich sage euch, und es ist eine alte Lehre, die ich in dieser Stunde wiederhole: Was immer ihr im Gebet erbittet, glaubt, daß ihr es erhalten werdet, und ihr werdet es erhalten. Wenn ihr aber, bevor ihr betet, etwas gegen jemanden habt, so verzeiht zuerst und schließt Frieden, damit ihr den Vater zum Freund habt, der im Himmel ist und euch vieles, so vieles verzeiht und euch von Morgen bis Abend, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nur Gutes tut.»

Sie sind nun am Tor der Tempelmauer angelangt. Jesus steigt vom Esel, den jemand aus Bethphage übernimmt.

Ich muß noch hinzufügen, daß Jesus nicht beim ersten Tor des Tempels abgestiegen, sondern an der Umfassungsmauer entlanggeritten ist und erst auf der Nordsseite, nahe der Antonia angehalten hat. Dort steigt er ab und geht in den Tempel, als wolle er zu erkennen geben, daß er sich nicht vor der herrschenden Macht versteckt, da er sich in allen seinen Handlungen unschuldig fühlt.

Im ersten Vorhof des Tempels herrscht der übliche Spektakel von Geldwechslern und Händlern mit ihren Tauben, Sperlingen und Lämmern. Nur haben die Händler jetzt nichts zu tun, da alle herbeigeeilt sind, um Jesus zu sehen.

Jesus geht hinein. Er wirkt sehr feierlich in seinem Purpurgewand und läßt den Blick über diesen Markt schweifen und über eine Gruppe von Pharisäern und Schriftgelehrten, die in einem Säulengang stehen und ihn beobachten. Sein Blick flammt vor Unwillen. Mit einem Sprung ist er in der Mitte des Hofes. Ein unvorhergesehener Sprung, der einem Flug gleicht; dem Flug einer Flamme, denn sein Gewand ist eine Flamme im Sonnenlicht, das den Hof überflutet. Er donnert mit mächtiger Stimme: «Hinaus aus dem Haus meines Vaters! Hier ist kein Ort des Wuchers und des Handels! Es steht geschrieben: "Mein Haus soll ein Bethaus sein." Warum habt ihr also dieses Haus, in dem der Name des Herrn angerufen wird, zu einer Räuberhöhle gemacht? Hinaus! Reinigt mein Haus. Damit ich euch nicht anstatt mit der Peitsche mit dem Blitz des himmlischen Zornes treffe. Hinaus! Weg von hier, ihr Diebe, Krämer, Schamlosen und Mörder, ihr Gotteslästerer und Götzendiener des schlimmsten Götzendienstes: des eigenen stolzen Ich, ihr Verderber und Lügner! Hinaus! Hinaus! Oh, ich sage euch, Gott der Allerhöchste wird diesen Ort für immer ausfegen und seine Rache an einem ganzen Volk nehmen!» Er gebraucht nicht die Peitsche wie beim ersten Mal, doch als er sieht, daß die Händler und Geldwechsler sich Zeit lassen zu gehorchen, geht er zum nächsten Tisch und stürzt ihn um, so daß Waagen und Münzen zu Boden fallen.

Die Händler und Wechsler beeilen sich nun, nach diesem ersten Beispiel, den Befehl Jesu zu befolgen. Und Jesus ruft ihnen nach: «Wie oft muß ich euch noch sagen, daß dies kein Ort der Unreinheit, sondern ein Ort des Gebetes ist?» und er schaut die vom Tempel an, die, entsprechend dem Befehl des Hohenpriesters, keinerlei Einwände erheben.

Nachdem der Hof nun gereinigt ist, geht Jesus zu den Säulengängen, wo Blinde, Lahme, Stumme, Krüppel und andere Kranke mit lauter Stimme nach ihm rufen.

«Was wollt ihr, daß ich euch tun soll?»

«Ich möchte sehen, Herr! Die Glieder! Daß mein Kind spricht. Daß meine Frau gesund wird. Wir glauben an dich, Sohn Gottes!»

«Gott möge euch erhören. Steht auf und preist den Herrn!»

Jesus heilt nicht einen nach dem anderen, sondern macht eine weite Bewegung mit der Hand, und Gnade und Heilung kommen auf die Unglücklichen herab.

Sie erheben sich mit Freudenschreien, die sich mit denen der vielen Kinder vermischen, die sich um Jesus scharen und immer wiederholen: «Ehre, Ehre dem Sohn Davids! Hosanna Jesus von Nazareth, dem König der Könige, dem Herrn der Herren!»

Einige Pharisäer rufen ihm mit scheinheiliger Ehrerbietung zu: «Meister, hörst du sie? Diese Kinder sagen Dinge, die man nicht sagen darf. Tadle sie. Sie sollen schweigen!»

«Warum? Hat der königliche Prophet, der König meines Geschlechtes, nicht gesagt: "Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge hast du dir vollkommenes Lob bereitet, zu beschämen die Feinde." Habt ihr diese Worte des Psalmisten nicht gelesen? Laßt die Kinder mein Lob singen. Ihre Engel haben es ihnen eingegeben, denn sie schauen allezeit meinen Vater, kennen seine Geheimnisse und teilen sie diesen Unschuldigen mit. Laßt mich nun alle gehen und den Herrn anbeten!» und Jesus begibt sich, vorbei an den Leuten, in den Vorhof der Israeliten, um zu beten...

Dann geht er zu einem anderen Tor hinaus, vorbei am Probatica-Teich, und verläßt die Stadt, um zu den Hügeln des Ölberges zurückzukehren.