DIE EHESCHEIDUNG

Es ist Morgen. Ein Märzmorgen. In dieser Jahreszeit wechseln Wolken und Aufhellungen einander ab, und die Wolken verdichten sich und versuchen, den ganzen Himmel zu bedecken. Warme Windstöße bewegen fortwährend die Luft und erfüllen sie mit Staub, der wahrscheinlich von den höher gelegenen Ebenen kommt.

«Wenn der Wind seine Richtung nicht ändert, werden wir Regen bekommen», meint Petrus, als er mit den anderen das Haus verläßt.

Als letzter kommt Jesus, der sich von der Hausfrau verabschiedet, während der Hausherr sich ihm anschließt. Sie begeben sich zu einem Platz, und nach einigen Schritten werden sie von einem höheren Offizier, der von Soldaten begleitet wird, angehalten.

«Bist du Jesus von Nazareth?»

«Ich bin es.»

«Was tust du?»

«Ich spreche zum Volk.»

«Wo?»

«Auf dem Marktplatz.»

«Aufrührerische Reden?»

«Nein, Gebote der Tugend.»

«Nimm dich in acht! Lüge nicht! Rom hat die falschen Götter satt.»

«Komm auch du. Du wirst sehen, dass ich nicht lüge.»

Der Mann, der Jesus beherbergt hat, fühlt sich verpflichtet, einzugreifen: «Seit wann so viele Fragen an einen Rabbi?»

«Anzeige gegen einen aufrührerischen Mann.»

«Er ein Aufrührer? Du irrst dich, Marius Severus! Dies ist der sanfteste Mensch der Erde. Das kann ich dir versichern.»

Der Offizier zuckt die Achseln und antwortet: «Umso besser für ihn. Aber der Centurio hat diese Anzeige gegen ihn erhalten. Geht nur. Er ist gewarnt.»

Dann dreht er sich steif um und geht mit seinen Untergebenen weg.

«Wer kann das gewesen sein? Ich verstehe es nicht», sagen mehrere.

Jesus antwortet: «Bemüht euch nicht, es zu verstehen. Es hat keinen Sinn. Gehen wir, solange noch viele Menschen auf dem Platz sind, und dann werden wir auch von hier aufbrechen.»

Der Platz muss eine Art Handelsstätte sein, kein eigentlicher Marktplatz, aber doch so etwas ähnliches, denn er ist umgeben von Lagern mit allerhand Waren, und die Menschen drängen sich hier. Es sind viele Leute auf dem Platz. Manch einer winkt Jesus zu, und bald ist er von einer Gruppe von Menschen aller Klassen und Nationen umgeben. Der eine kommt aus Verehrung, der andere aus Neugierde.

Jesus gibt ein Zeichen, dass er sprechen möchte.

«Hören wir ihm zu!» sagt ein Römer, der aus einem Warenlager kommt.

«Wir werden doch hoffentlich nicht die üblichen Klagen zu hören bekommen», entgegnet ein anderer.

«Glaub das nicht, Konstantius. Er ist weniger unverdaulich als einer unserer üblichen Redner.»

«Friede denen, die mich anhören wollen. Im Buche Esdras, im Gebet des Esdras, heißt es: „Und was werden wir jetzt sagen, o unser Gott, nach den Dingen, die sich ereignet haben? Denn wir haben deine Gebote, die du uns durch deine Diener gegeben hast, übertreten...“»

«Höre auf, der du da sprichst. Das Thema werden wir dir geben», schreit eine Gruppe Pharisäer, die sich einen Weg durch die Menge bahnt. Fast gleichzeitig erscheint wieder der Trupp bewaffneter Soldaten und nimmt an der nächsten Ecke Stellung. Die Pharisäer stehen jetzt Jesus gegenüber:

«Bist du der Galiläer? Bist du Jesus von Nazareth!»

«Ich bin es!»

«Gott sei Dank, dass wir dich gefunden haben!» In Wirklichkeit ist in ihren haßerfüllten Gesichtern keine Spur von Freude zu sehen...

Der Älteste sagt: «Wir folgen dir seit vielen Tagen und erreichen die Dörfer und Städte immer erst, wenn du fortgegangen bist.»

«Warum folgt ihr mir?»

«Weil du der Meister bist und wir über eine unklare Stelle des Gesetzes belehrt werden wollen.»

«Es gibt keine unklare Stellen im Gesetz Gottes!»

«In ihm nicht. Aber, ja, ja... zum Gesetz sind viele „Ergänzungen“ hinzugefügt worden, wie du sagst... und diese haben es unverständlich werden lassen.»

«Unklar, höchstens! Es genügt, seinen Verstand Gott zuzuwenden, damit sich auch diese Unklarheiten verflüchtigen.»

«Nicht alle sind dazu fähig. Uns zum Beispiel sind viele Dinge unklar. Du bist der Rabbi, ja, hilf uns also.»

«Was wollt ihr wissen?»

«Wir möchten wissen, ob es dem Mann erlaubt ist, seine Frau aus jedem beliebigen Grund zu verstoßen. Es ist etwas, was oft vorkommt und, wo immer es geschieht, große Aufregung hervorruft. Die Leute wenden sich dann jeweils an uns, um zu erfahren, ob es erlaubt ist. Wir entscheiden je nach dem einzelnen Fall.»

«Indem ihr in neunzig von hundert Fällen die Erlaubnis erteilt, und in den restlichen zehn Fällen, in denen ihr nicht nachgebt, handelt es sich um Arme oder um eure Feinde.»

«Woher weißt du das?»

«Weil es bei allen menschlichen Dingen so zugeht. Und ich füge dieser letzten Kategorie von Leuten noch eine dritte Gruppe hinzu: diejenige, die das größte Recht auf Ehescheidung hätte, wenn sie erlaubt wäre: die Gruppe jener Menschen, die an unheilbarem Aussatz leiden, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden sind oder von einer der unnennbaren Krankheiten befallen sind ...»

«Dann wäre die Ehescheidung nach deiner Lehre nie erlaubt?»

«Weder nach der meinen noch nach der des Allerhöchsten, noch nach der eines rechtschaffenen Menschen. Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer im Anfang der Tage Mann und Frau erschuf? Und als Mann und Frau erschuf er sie, obwohl er es nicht nötig gehabt hätte; denn wenn er gewollt hätte, hätte er für den nach seinem Ebenbild erschaffenen König, der Schöpfung eine andere Fortpflanzungsweise wählen können, die ebenso gut gewesen wäre, wenn auch ganz verschieden von jeder anderen in der Natur bestehenden. Alsdann sprach er: „Und darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und beide werden ein Fleisch sein.“ Gott also verband sie zu einer Einheit. Sie sind daher nicht mehr „zwei“, sondern „ein“ einziges Fleisch. Was Gott verbunden hat, weil er sah, dass „es gut so war“, soll der Mensch nicht trennen; denn wenn das geschähe, wäre es nicht gut.»

«Aber warum hat Moses dann gesagt: „Wenn ein Mann eine Frau zur Ehe nimmt, und sie in seinen Augen wegen irgendetwas Widerwärtigem nicht Gnade gefunden hat, so soll er ihr einen Scheidebrief schreiben, ihr diesen aushändigen und sie aus seinem Hause entlassen.“»

«Er sagte dies wegen der Härte eurer Herzen. Um durch diese Anordnung eine zu große Unordnung zu verhindern, erlaubte er euch, die Frauen zu entlassen. Aber im Anfang war es nicht so. Die Frau ist mehr als ein Tier, dass sich je nach Laune des Besitzers oder den gegebenen natürlichen Umständen diesem oder jenem männlichen Wesen zu unterwerfen hat, Fleisch ohne Seele, dass sich paart, um sich zu vermehren. Eure Frauen haben eine Seele, wie ihr sie habt, und es ist nicht recht, dass ihr sie erbarmungslos mit Füßen tretet. Wenn es in der Verurteilung heißt: „Du sollst dem Manne untertan sein, er aber wird herrschen über dich“, so muss dies mit Gerechtigkeit geschehen und nicht mit Gewalttätigkeit, welche die Rechte der freien und achtenswerten Seele verletzt.

Wenn ihr eure Gefährtin entlaßt, was euch nicht erlaubt ist, beleidigt ihr deren Seele, dass euch verwandte Fleisch, dass sich mit euch vereinigt hat, und alles, was die Frau ist, mit der ihr euch vermählt habt und von der ihr Ehrbarkeit fordert, während ihr, o ihr Meineidigen, in eurer Unehrbarkeit, Fehlerhaftigkeit und manchmal Verdorbenheit zu ihr geht; und ihr fahrt so fort und nützt jede Gelegenheit, um sie zu schlagen und eurer unersättlichen Begierlichkeit größere Freiheit zu gewähren. Ihr Prostituierer eurer Frauen! Aus keinem Grunde dürft ihr euch von der Frau trennen, die nach Gesetz und mit den Segen Gottes mit euch verbunden ist. Nur wenn die Gnade euch berührt und ihr begreift, dass die Frau nicht ein Besitz, sondern eine Seele ist, und daher dieselben Rechte hat wie ihr ' und als Teil des Mannes nicht nur als ein Gegenstand seiner Lust ist; nur in dem Fall, dass euer Herz so verhärtet ist, dass ihr nicht imstand seid, sie zur Ehefrau zu erwählen, nachdem ihr euch ihrer wie einer Prostituierten bedient habt, nur in diesem Fall, wo ihr die Schande beseitigen wollt von zweien, die ohne den Segen Gottes über ihrer Vereinigung zusammenleben, könnt ihr sie entlassen; denn dann handelt es sich nicht um eine Vereinigung, sondern um Unzucht; und oft habt ihr auch keine Kinder, da ihr euch ihrer gegen die Natur oder aus Scham entledigt habt.

In keinem anderen Falle! In keinem anderen! Denn wenn ihr uneheliche Kinder von eurer Konkubine habt, dann seid ihr verpflichtet, dem Skandal ein Ende zu machen und diese Frau zu heiraten, wenn ihr ledig seid. Ich spreche nicht vom Fall des Ehebruchs zum Schaden der unwissenden Frau. Dafür gibt es die Steinigung und die Flammen der Scheol. Aber für den, der seine eigene legitime Frau entläßt, weil er ihrer überdrüssig ist, und sich eine andere nimmt, gibt es nur ein Urteil: dieser ist ein Ehebrecher, und Ehebrecher ist, wer eine entlassene Frau zu sich nimmt. Denn wenn der Mensch sich auch das Recht anmaßt, dass zu trennen, was Gott verbunden hat, so besteht die eheliche Vereinigung vor den Augen Gottes doch weiter, und wer eine zweite Frau nimmt, ohne Witwer zu sein, ist verflucht. Und verflucht ist auch, wer seine Frau fortschickt und den Nöten des Lebens aussetzt, so dass sie um des Brotes willen eine neue Ehe eingehen muss, und sie dann wieder zu sich nimmt, wenn sie Witwe des zweiten Ehemannes wird; denn auch wenn sie Witwe ist, wurde sie doch durch seine Schuld zur Ehebrecherin, und er verdoppelt also auf diese Weise ihren Ehebruch. Habt ihr verstanden, ihr Pharisäer, die ihr mich versuchen wollt?»

Aber sie gehen entwaffnet weg, ohne zu antworten.

«Streng ist dieser Mann. Wenn er in Rom wäre, würde er noch einen viel größeren Dreck und Gestank kennenlernen», bemerkt ein Römer.

Auch einige aus Gadara murren: «Es ist schwer, Mann zu sein, wenn man so keusch sein soll! ...»

Andere gehen noch weiter und sagen: «Wenn das Verhältnis des Mannes zur Frau so sein soll, dann ist es besser, gar nicht zu heiraten.»

Dieser Meinung sind auch die Apostel, während sie den Weg in die Felder aufnehmen, nachdem sie sich von den Leuten aus Gadara verabschiedet haben. Judas sagt es voll Verachtung, Jakobus des Zebedäus nachdenklich und ehrfurchtsvoll, und Jesus antwortet dem einen wie dem andern: «Nicht alle begreifen es, und die wenigsten verstehen es gut. Einige ziehen nämlich die Ehelosigkeit vor, um frei ihren Lastern nachgehen zu können. Andere, um zu vermeiden, als schlechte Ehemänner Sünden zu begehen. Aber nur wenige, denen es verliehen ist, verstehen, was es bedeutet, frei von Sinnlichkeit und ehrbarem Verlangen nach der Frau zu sein. Es sind die heiligsten, freiesten und engelgleichsten Menschen auf Erden. Ich spreche von denen, die sich zu Eunuchen machen um des Himmelsreiches willen. Es gibt unter den Menschen solche, die so zur Welt kommen. Andere, die dazu gemacht werden. Im ersten Falle sind es Mißgeburten, die Mitleid erregen sollten, im zweiten Fall sind es Mißbräuche, die abgeschafft werden müssen. Aber es gibt noch eine dritte Kategorie: die der freiwilligen Eunuchen, die, ohne sich zu verstümmeln und daher doppelt verdienstvoll, dem Verlangen Gottes zu entsprechen wissen und wie Engel leben, auf dass der verlassene Altar der Erde noch Blumen und Weihrauch berge für den Herrn. Sie verweigern dem niedrigen Teil die Befriedigung, um den höheren Teil wachsen zu lassen, auf dass er auf den himmlischen Blumenbeeten in nächster Nähe des Königs blühe. Wahrlich, ich sage euch: es sind keine Verstümmelten, sondern Menschen, welche das besitzen, was den meisten unter den Menschen fehlt. Sie dürfen also nicht Gegenstand törichter Verachtung sein, sondern verdienen große Verehrung. Das verstehe, wer dazu berufen ist, und er achte es, soweit er dazu fähig ist.»

Die Verheirateten unter den Apostel flüstern miteinander.

«Was habt ihr?» fragt Jesus.

«Und wir? Wir wußten es nicht und haben eine Frau genommen. Aber wir möchten gerne so sein, wie du sagst...», erklärt Bartholomäus für alle.

«Es ist euch nicht untersagt, von jetzt an so zu sein. Lebt in der Enthaltsamkeit, und seht in eurer Gefährtin eine Schwester; und ihr werdet dadurch ein großes Verdienst in den Augen Gottes erwerben. Beeilt euch, damit wir noch vor dem Regen in Pella sind.»