28.05.2016

DIE FRAGE NACH DER VOLLMACHT JESU

nach Maria Valtorta

„Das Reich Gottes wird euch genommen und einem Volk gegeben werden, dass seine Früchte bringt. Und jeder, der gegen diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; auf wen er aber fällt, den wird er zermalmen.“»

Die Oberen der Priester, die Pharisäer und die Schriftgelehrten reagieren mit heroischer Selbstbeherrschung. Soviel bringt der Wille, einen Zweck zu erreichen, fertig! Um geringer Dinge willen haben sie ihn oft angefeindet, und heute, da ihnen der Herr Jesus offen sagt, dass ihnen die Macht genommen werden wird, schmähen sie ihn nicht, greifen ihn nicht an, bedrohen ihn nicht, sondern spielen die geduldigen Lämmer und verbergen ihr unverbesserliches Wolfsherz scheinheilig unter dem Pelz der Sanftmut.

Sie beschränken sich darauf, immer in seiner Nähe zu bleiben, denn er geht nun wieder auf und ab und hört diesen und jenen unter den vielen Pilgern an, die sich in dem großen Hof versammelt haben. Viele bitten ihn um Rat in Dingen der Seele, in familiären oder zwischenmenschlichen Angelegenheiten, und andere warten darauf, mit ihm sprechen zu können. Sie hören ihm zu, wie er in einer schwierigen Erbschaftsfrage urteilt, die Haß und Zwietracht unter den verschiedenen Erben stiftet. Denn der Vater hatte mit einer Magd des Hauses einen später adoptierten Sohn, aber die ehelichen Söhne wollen ihn weder bei sich haben noch als Miterben bei der Teilung der Häuser und Grundstücke. Vielmehr wollen sie mit dem Bastard nichts mehr zu tun haben und wissen nun nicht, wie das Problem zu lösen ist. Der Vater hat sie nämlich vor seinem Tod schwören lassen, dass sie, so wie er immer das Brot zwischen den ehelichen Söhnen und dem unehelichen geteilt hat, dass Erbe gleichmäßig mit ihm teilen werden.

Jesus sagt zu dem Mann, der ihn im Namen der anderen Brüder fragt: «Verzichtet alle auf ein Stück Land und verkauft es, so dass es den Geldwert eines Fünftels der ganzen Erbschaft ergibt. Gebt es dem Unehelichen mit den Worten: „Hier ist dein Teil. Du bist nicht um das deine gekommen, und wir haben den Willen unseres Vaters erfüllt. Geh, und Gott sei mit dir.“ Seid großzügig im Geben, gebt eher mehr als den genauen Wert seines Anteils. Und tut es vor gerechten Zeugen, dann wird niemand auf Erden und im Jenseits euch tadeln und Ärgernis nehmen können; dann werdet ihr Frieden in euch und untereinander haben, denn ihr werdet euch nicht vorwerfen müssen, dem Vater ungehorsam gewesen zu sein, und ihr werdet den nicht mehr unter euch haben, der, obwohl unschuldig, euch stärker beunruhigt als ein Dieb.»

Der Mann sagt: «Der Bastard hat wahrlich unserer Familie den Frieden und unserer Mutter die Gesundheit geraubt, so dass sie vor Leid gestorben ist. Er hat einen Platz eingenommen, der ihm nicht zusteht.»

«Nicht er ist der Schuldige, sondern der, der ihn gezeugt hat. Er hat nicht danach verlangt, geboren zu werden und das Mal eines Bastards zu tragen. Die Gier eures Vaters hat ihn gezeugt und ihm und euch Schmerz bereitet. Seid deshalb gerecht mit dem Unschuldigen, der schon schwer genug für eine Schuld bezahlt, die nicht die seine ist. Verflucht nicht die Seele eures Vaters. Gott hat ihn gerichtet. Die Blitze eurer Verwünschungen sind nicht nötig. Ehrt den Vater immer, auch wenn er schuldig ist. Nicht seinetwegen, sondern weil er auf Erden euren Gott vertritt. Er hat euch gezeugt nach der Weisung Gottes, und er ist der Herr eures Hauses. Die Eltern kommen gleich nach Gott. Denke an die Zehn Gebote. Und sündige nicht. Geh in Frieden.»

Die Priester und die Schriftgelehrten treten nun zu Jesus hin, um ihn zu befragen: «Wir haben dich gehört. Du hast recht gesprochen. Einen weiseren Rat hätte nicht einmal Salomon geben können. Aber nun sage uns, du, der du Wunder wirkst und Urteile fällst, wie nur der weise König es hätte tun können, mit welcher Vollmacht tust du dies? Woher kommt dir diese Macht?»

Jesus schaut sie fest an. Er ist weder aggressiv noch verächtlich, doch sehr hoheitsvoll. Er sagt: «Auch ich will euch eine Frage vorlegen, und wenn ihr sie mir beantwortet, werde ich euch sagen, wer mir – dem Menschen ohne die Vollmacht eines Amtes und ohne Reichtum, denn das wollt ihr doch andeuten – die Vollmacht gibt, solche Dinge zu tun. Sagt mir: Woher kam die Taufe des Johannes? Vom Himmel oder vom Menschen, der sie spendete? Antwortet mir. Mit welcher Vollmacht hat Johannes sie gespendet als reinigenden Ritus, um euch auf das Kommen des Messias vorzubereiten, da er doch noch ärmer und ungebildeter war als ich und kein entsprechendes Amt innehatte, denn er hatte seit seiner Kindheit in der Wüste gelebt?»

Die Schriftgelehrten und Priester beraten sich. Das Volk drängt sich heran mit weit offenen Augen und Ohren, um zu protestieren, sollten die Schriftgelehrten den Täufer herabsetzen und den Meister beleidigen, oder um Beifall zu spenden, falls sie durch die göttliche Weisheit in der Frage des Rabbi von Nazareth aus der Fassung gebracht würden. Das absolute Schweigen dieser Menge in Erwartung der Antwort ist beeindruckend. Es ist so tief, dass man den Atem und das Flüstern der Priester und Schriftgelehrten hört, die fast stimmlos miteinander sprechen und dabei auf das Volk schielen, dessen explosive Stimmung sie fühlen. Endlich entschließen sie sich zu einer Antwort. Sie wenden sich Christus zu, der mit über der Brust gekreuzten Armen an einer Säule lehnt und sie nicht aus den Augen läßt, und sagen: «Meister, wir wissen nicht, mit welcher Vollmacht Johannes dies getan hat und woher seine Taufe kam. Niemand hat daran gedacht, den Täufer zu fragen, solange er lebte, und er selbst hat es auch nie gesagt.»

«Dann sage auch ich euch nicht, mit welcher Vollmacht ich dies tue.»Er kehrt ihnen den Rücken, ruft die Zwölf zu sich, teilt die Beifall spendende Menge und verläßt den Tempel.

Als sie schon draußen, jenseits des Probatica-Teichs sind – denn auf dieser Seite sind sie hinausgegangen – sagt Bartholomäus: «Deine Gegner sind sehr vorsichtig geworden. Vielleicht sind sie im Begriff, sich zum Herrn zu bekehren, der dich gesandt hat, und werden dich bald als den heiligen Messias anerkennen.»

«Es ist wahr. Sie haben weder deine Frage noch deine Antwort angegriffen ...» sagt Matthäus.

«So ist es. Es ist schön, dass Jerusalem sich zum Herrn, seinem Gott, bekehrt», sagt Bartholomäus noch.

«Macht euch keine Illusionen. Dieser Teil Jerusalems wird sich niemals bekehren. Sie haben nur nicht anders geantwortet, weil sie das Volk fürchten. Ich habe zwar ihre geflüsterten Worte nicht verstanden, aber ich habe ihre Gedanken gelesen.»

«Und was haben sie gesagt?» fragt Petrus.

«Dies haben sie gesagt. Ich wünsche, dass ihr es wißt, damit ihr sie gründlich kennenlernt und den künftigen Menschen eine genaue Beschreibung der Herzen der Menschen meiner Zeit geben könnt. Sie haben nicht geantwortet, nicht weil sie sich zum Herrn bekehren, sondern weil sie entschieden hatten: Wenn wir sagen: „Die Taufe des Johannes kam vom Himmel“, wird der Rabbi uns antworten: „Warum habt ihr dann nicht an das geglaubt, was vom Himmel kam und die Vorbereitung auf die messianische Zeit bedeutete?“ Sagen wir aber: „Vom Menschen“, wird das Volk sich auflehnen und sagen: „Und warum glaubt ihr dann nicht, was Johannes, unser Prophet, über Jesus von Nazareth gesagt hat?“ Es ist deshalb besser zu antworten: „Wir wissen es nicht.“ Das ist es, was sie sagten. Nicht, weil sie sich zu Gott bekehrt haben, sondern aus niedriger Berechnung und um nicht bekennen zu müssen, dass ich der Christus bin und tue, was ich tue, weil ich das Lamm Gottes bin, von dem der Vorläufer gesprochen hat. Also wollte auch ich nicht sagen, mit welcher Vollmacht ich tue, was ich tue. Schon oft habe ich es in diesen Mauern und in ganz Palästina gesagt, und meine Wunder sprechen noch mehr als meine Worte. Nun werde ich es nicht mehr mit Worten sagen. Ich werde die Propheten und meinen Vater sprechen lassen und die Zeichen des Himmels. Denn die Zeit ist gekommen, in der alle Zeichen gegeben werden. Jene, von denen die Propheten gesprochen haben und die in den Symbolen unserer Geschichte ausgedrückt sind, und das Zeichen, dass ich genannt habe: das Zeichen des Jonas. Erinnert ihr euch des Tages in Kedes? Es ist das Zeichen, auf das Gamaliel wartet. Du, Stephanus, du, Hermas, und du, Barnabas, der du heute deine Gefährten verlassen hast, um mir zu folgen, ihr habt den Rabbi gewiss oft über dieses Zeichen reden gehört. Nun, dieses Zeichen wird bald gegeben werden.»

Jesus entfernt sich durch die Ölgärten auf dem Berg, gefolgt von den Seinen, vielen Jüngern (aus den zweiundsiebzig) und anderen, wie Joseph Barnabas, die ihn noch sprechen hören wollen.