21.09.2016 

«DIE STUNDE IST GEKOMMEN. KOMM, FOLGE MIR!»

nach Maria Valtorta

Sie sind auf dem Platz angekommen. Jesus geht geradewegs zur Zollbank, wo Matthäus rechnet und Münzen zählt, die wohlgeordnet nach Art und Größe vor ihm liegen und die er dann in Säckchen von verschiedenen Farben schüttet, und sie allesamt in einer eisernen Kassette verstaut, die dann von wartenden Dienern abtransportiert wird. Als der lange Schatten der Gestalt Jesu auf den Tisch fällt, hebt Matthäus den Kopf, um festzustellen, wer der verspätete Zahler sei. Petrus zieht Jesus am Ärmel und sagt: «Meister, was tust du hier, da nichts zu bezahlen ist?»

Doch Jesus hört nicht auf ihn. Er blickt auf Matthäus, der sich erhoben und eine ehrerbietige Haltung angenommen hat. Ein durchdringender Blick! Doch ist es nicht der Blick des strengen Richters vom letztenmal. Es ist ein werbender Blick voller Liebe. Er verwirrt und erfüllt mit Liebe. Matthäus wird rot. Er weiß nicht, was er tun oder sagen soll...

«Matthäus, Sohn des Alphäus, die Stunde ist gekommen. Komm, folge mir!» erklärt ihm Jesus, majestätisch.

«Ich, Meister, Herr? Weißt du denn, wer ich bin? Ich sage es deinetwegen, nicht meinetwegen.»

«Komm, folge mir, Matthäus, Sohn des Alphäus!», wiederholt Jesus sanft.

«Oh, wie könnte ich bei Gott Gnade gefunden haben? Ich, ich ...»

«Matthäus, Sohn des Alphäus, ich habe in deinem Herzen gelesen. Komm, folge mir nach.» Diese dritte Einladung ist eine Liebkosung.

«Oh, sofort, mein Herr!» und Matthäus kommt weinend hinter seinem Arbeitstisch hervor, ohne sich um die noch herumliegenden Münzen zu kümmern oder die Kassette zu schließen. Nichts von alledem. «Wohin gehen wir, Herr?» fragt er, als er vor Jesus steht. «Wohin führst du mich?»

«In dein Haus. Willst du den Menschensohn aufnehmen?»

«Oh, aber... was werden dann die sagen, die dich hassen?»

«Ich höre auf das, was man im Himmel sagt, und dort sagt man: „Gott sei gepriesen für einen Sünder, der gerettet wird!“ und der Vater sagt: „In Ewigkeit wird die Barmherzigkeit sich zum Himmel erheben und über der Erde schweben, und da ich dich liebe mit einer ewigen, vollkommenen Liebe, erweise ich auch dir Barmherzigkeit.“ Gehen wir! Mit meinem Kommen heilige ich nicht nur dein Herz, sondern auch das Haus.»

«Ich habe es schon gereinigt in der Hoffnung, die meine Seele erfüllte... obgleich der Verstand dagegen sprach. Oh, ich mit deinen Heiligen!»Matthäus betrachtet die Jünger.

«Ja, mit meinen Freunden. Kommt alle! Ich will euch zusammenführen, damit ihr Brüder werdet!»

Die Jünger sind derart erstaunt, dass sie noch sprachlos sind. Sie sind Jesus und Matthäus über den sonnigen Platz gefolgt, der nun ganz menschenleer ist, und zu einer kurzen Gasse gelangt, die in der glühenden Sonne liegt. Kein Lebewesen ist auf der Straße sichtbar, nur Sonne und Staub.

Sie betreten ein Haus. Ein schönes Haus mit einem breiten Portal, dass sich zur Gasse hin öffnet. Ein schattiger, kühler Säulengang, hinter dem ein Hof liegt, der als Garten dient. «Komm, mein Meister! Bringt Wasser und Getränke!»

Die Diener bringen das Gewünschte herbei.

Matthäus geht und erteilt Anweisungen, während Jesus und die Seinen sich erfrischen. Dann kehrt er zurück. «Komm, Meister, der Saal ist kühler... Es werden Freunde kommen. Ich möchte, dass ein großes Fest gefeiert wird und meine Bekehrung, meine wahre Beschneidung... Du hast mit deiner Liebe mein Herz beschnitten... Meister, es wird das letzte Fest sein; keine Feste mehr für den Zöllner Matthäus. Keine Feste dieser Welt... nur noch die innerliche Freude darüber, erlöst zu werden und dir dienen zu dürfen, von dir geliebt zu werden... Wieviel habe ich geweint in diesen Monaten. Seit beinahe drei Monaten weine ich. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Ich wollte kommen... doch wie kann ich mit meiner schmutzigen Seele zu dir, dem Heiligen, gelangen?»

«Du hast sie mit Reue und Liebe gewaschen. Für mich und für den Nächsten. Petrus? Komm hierher!»

Petrus, der noch nicht geredet hat, so sehr ist er überrascht, kommt nach vorne. Die beiden Männer, Petrus und Matthäus, die gleichen Alters, klein von Wuchs und grauhaarig sind, stehen sich gegenüber, Jesus in ihrer Mitte, lächelnd und schön.

«Petrus, du hast mich oft gefragt, wer der Unbekannte der Geldbörse ist, welche Jakob jede Woche bringt. Nun, hier steht er vor dir!»

«Was? Dieser Dieb? Oh, Verzeihung, Matthäus! Doch wer hätte annehmen können, dass du es warst? Gerade du, unsere Verzweiflung wegen deines Wuchers... dass du fähig sein könntest, dir jede Woche mit diesem reichen Almosen ein Stück deines Herzens herauszureißen...»

«Ich weiß es, ich habe euch ungerecht besteuert. Doch seht, ich knie vor euch nieder und bitte euch, jagt mich nicht fort! Er hat mich angenommen. Seid nicht strenger mit mir als er!»

Petrus, der neben ihm steht, hebt Matthäus mit einer etwas barschen, doch herzlichen Geste in die Höhe und sagt: «Steh auf! Nicht mich und die anderen, nur ihn hast du um Verzeihung zu bitten. Wir alle sind mehr oder weniger Diebe wie du! Oh... nun habe ich es wieder gesagt. Du verwünschte böse Zunge! Doch ich bin so gemacht: das, was ich denke, sage ich; was im Herzen ruht, gleitet mir auf die Zunge. Komm, laß uns einen Pakt des Friedens und der Liebe schließen!», und er küßt Matthäus auf die Wange.

Auch die anderen tun es mehr oder weniger liebevoll. Ich muss dies sagen, denn Andreas ist von Natur aus schüchtern, und Judas Iskariot kalt; es sieht so aus, als ob er ein Bündel Schlangen umarmen müßte, so kurz und abrupt ist seine Umarmung.

Matthäus geht hinaus, denn er hört Geräusche.

«Aber Meister», sagt Judas Iskariot, «mir scheint, dass dies unklug war. Die Pharisäer klagen dich schon an, und du... nun nimmst du auch noch einen Zöllner unter die Deinen auf! Nach einer Dirne noch einen Zöllner! ... Hast du denn beschlossen, dich zu ruinieren? Wenn es so ist, dann sage es, daß...»

«Daß wir unserer Wege gehen, nicht wahr?» beendet Petrus spöttisch.

«Wer spricht denn mit dir?»

«Ich weiß, dass du nicht mit mir sprichst. Doch erlaube mir, mit deiner herrschaftlichen Seele zu reden, mit deiner so reinen Seele, mit deiner klugen Seele. Ich weiß, dass du als Mitglied des Tempels den Geruch der Sünde in uns wahrnimmst; in uns Armen, die wir nicht zum Tempel gehören. Ich weiß, dass du, ganzer Judäer, Mischung aus einem Pharisäer, einem Sadduzäer und einem Herodianer, halber Schriftgelehrter und zu einem kleinen Teil Essener bist — willst du noch mehr solche vornehme Titel hören? Du fühlst dich unter uns nicht wohl, wie ein herrlicher Aal, der in ein Netz voller Krabben geraten ist. Aber was kann man da schon machen? Er hat uns angenommen, und wir bleiben bei ihm. Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja jederzeit gehen. So haben wir alle mehr Luft. Auch er, siehst du, ist betrübt meinet- und deinetwegen. Meinetwegen, weil ich gegen die Geduld und auch... ja, auch gegen die Liebe gefehlt habe; doch mehr noch deinetwegen, weil du nichts verstehst mit deinem Vorhang vornehmer Titel und keine Nächstenliebe, Demut und Achtung kennst. Nichts hast du, Bursche! Nur einen großen Dünkel! ... Gott gebe, dass es unschädlicher Rauch sei.»

Jesus wartet mit auf der Brust verschränkten Armen und einem strengen Blick, bis Petrus geendet hat und sagt dann: «Hast du nun alles gesagt, Petrus? Hast du auch deine Seele von der Hefe gereinigt, die darin war? Du hast gut daran getan. Heute ist für einen Sohn Abrahams das Ostern der ungesäuerten Brote, Der Ruf Christi ist für eure Seelen wie das Blut des Lammes, und wo es hingelangt, kommt die Sünde nicht mehr hin.

Sie wird nicht mehr über den kommen, der getreu ist. Von mir berufenzu sein, bedeutet Befreiung und wird ohne jegliche Hefe gefeiert.» Zu Judas kein Wort. Petrus schweigt beschämt.

«Der Gastgeber kehrt zurück», sagt Jesus. «Mit Freunden. Wir wollen ihnen nichts als Tugenden zeigen. Wer es nicht fertig bringt, soll hinausgehen. Seid nicht wie die Pharisäer, die durch Gesetze unterdrücken, die sie als erste nicht beachten.»

Matthäus kommt mit anderen Männern zurück, und das Mahl beginnt. Jesus sitzt in der Mitte zwischen Petrus und Matthäus. Sie sprechen über viele Dinge, und Jesus erklärt mit viel Geduld diesem und jenem, was sie wissen wollen. Es werden auch Klagen über die Pharisäer laut, von denen sie verachtet werden.

«Also, kommt zu dem, der euch nicht verachtet. Und dann benehmt euch so, dass euch wenigstens die Guten nicht verachten können», antwortet Jesus.

«Du bist gut, doch du bist allein.»

«Nein, sie hier sind wie ich, und dann... ist auch Gott Vater, der auch alle jene liebt, die wieder seine Freunde werden wollen. Wenn ein Mensch

nichts mehr als den Vater hätte, wäre seine Freude nicht schon vollkommen?»

Sie sind schon beim Nachtisch angelangt, als ein Diener dem Herrn des Hauses ein Zeichen gibt und ihm etwas mitteilt.

«Meister, Eli, Simon und Joachim möchten hereinkommen und mit dir sprechen. Willst du sie sehen?»

«Gewiß.»

«Aber meine Freunde sind Zöllner!»

«Sie wollen sehen, was hier geschieht. Sie sollen es tun. Es würde nichts

nützen, es zu verbergen. Es würde dem Guten nicht nützen, und das Böse würde den Anlaß noch steigern und sagen, dass hier auch Dirnen seien.

Laß sie hereinkommen!»

Die drei Pharisäer treten ein. Sie schauen sich mit einem bösen Lachen

um und reden miteinander. Doch Jesus ist aufgestanden und geht ihnen entgegen, zusammen mit Matthäus. Er legt diesem eine Hand auf die Schulter und sagt: «Oh, wahre Kinder Israels, ich grüße euch und teile euch eine große Neuigkeit mit, die bestimmt eure Herzen als vollkommene Israeliten, die sich nur um die Beobachtung des Gesetzes durch alle zur Verherrlichung Gottes bemühen, höher schlagen lassen wird. Matthäus, der Sohn des Alphäus, ist von heute an nicht mehr der Sünder, der Ärgernis von Kapharnaum. Ein räudiges Schaf Israels ist geheilt. Freut euch! Ihm folgend, werden andere sündige Schafe geheilt, und eure Stadt, auf deren Heiligkeit ihr so bedacht seid, wird Gott als heilige Stadt wohlgefällig sein. Er hat alles aufgegeben, um Gott allein zu dienen. Gebt dem verirrten Israeliten, der nun in den Schoß Abrahams zurückkehrt, den Friedenskuß!»

«Und er gibt sich mit Zöllnern ab? Während eines fröhlichen Gastmahls? Oh, dass ist wahrhaft eine erwünschte Bekehrung! Schau dort, Eli... das ist Josia, der Frauenjäger.»

«Und dort, Simon des Isaak, der Ehebrecher.»

«Und der andere? Das ist Azarias, der Wirt, in dessen Spelunke Römer und Juden spielen, betrügen, sich betrinken und sich mit Frauen vergnügen.»

«Aber Meister, weißt du wenigstens, wer diese Leute sind? Wußtest du es?»

«Ich wußte es.»

«Und ihr von Kapharnaum, ihr Jünger, warum habt ihr das erlaubt? Du verblüffst mich, Simon des Jonas!»

«Und du, Philippus, auch du bist hier und du, Nathanael! Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus! Du, ein wahrer Israelit! Wie konntest du zulassen, dass dein Meister mit Zöllnern und öffentlichen Sündern speist? Gibt es denn in Israel kein Ehrgefühl mehr?» Die drei sind wirklich über alles entsetzt.

Jesus sagt: «Laßt meine Jünger in Frieden! Ich habe es gewollt. Ich allein!»

«Natürlich, versteht sich. Wenn man den Heiligen spielen will und es nicht ist, verfällt man leicht unverzeihlichen Fehlern.»

«Und wenn man die Jünger zu Respektlosigkeit erzieht, kann man das Gesetz nicht achten. Noch brennt in mir, dem Pharisäer Eli, der verächtliche Spott von diesem Judäer, der zum Tempel gehört. Er kann das Gesetz nicht achten. Man lehrt, was man weiß!»

«Du irrst, Eli... Ihr irrt euch alle. Man lehrt das, was man weiß. Das ist wahr. Und ich, der ich das Gesetz kenne, lehre es auch jene, die es ]nicht kennen: die Sünder! Ihr... ihr seid schon Herren eurer Seelen. Die Sünder sind es nicht. Ich suche ihre Seele, ich will sie ihnen zurückgeben, damit sie ihrerseits sie mir wiedergeben, so wie sie ist: krank, verwundet, schmutzig... und ich will sie heilen und reinigen. Dazu bin ich gekommen. Die Sünder brauchen den Erlöser. Und ich komme, sie zu erlösen. Versteht mich recht! Haßt mich nicht ohne Grund.»

Jesus spricht überzeugend, voller Demut und Sanftmut. Doch die drei sind wie verdorrte, stachelige Disteln... und sie gehen mit angewidertem Gesichtsausdruck fort.

«Sie sind weg! Jetzt werden sie uns überall kritisieren», murrt Judas Iskariot.

«Laß sie es tun! Handle selbst so, dass der Vater im Himmel dich nicht zu kritisieren braucht! Sei nicht gekränkt, Matthäus, und auch ihr nicht, seine Freunde! Das Gewissen sagt uns: „Tue nichts Böses“, und das genügt.»

Jesus kehrt zu seinem Platz zurück, und alles ist zu Ende.