04.07.2016 

DIE BLUTFLÜSSIGE FRAU UND DIE TOCHTER DES JAIRUS

nach Maria Valtorta

Jesus befindet sich auf einer sonnenbeschienenen, staubigen Straße, die am Ufer des Sees entlang führt. Er geht auf eine Ortschaft zu, in der ihn eine große Menschenmenge erwartet, die ihn sofort umringt, obgleich die Apostel mit Armen und Schultern arbeiten, um ihm Raum zu schaffen und mit lauter Stimme das Volk auffordern, Platz zu machen.

Doch Jesus ist keineswegs wegen dieses großen Durcheinanders beunruhigt. Einen Kopf größer als die Menge, die ihn umgibt, schaut er mit sanftem Lächeln auf die ihn Umdrängenden, erwidert ihre Grüße, liebkost das eine oder andere Kind, dem es gelingt, sich durch die Menge der Erwachsenen zu nähern, und legt seine Hand auf die Köpfchen der Säuglinge, welche die Mütter ihm über die Köpfe der Umstehenden entgegenhalten, damit er sie berühre. Inzwischen geht er weiter, langsam und geduldig inmitten des Geschreies und des ständigen Gedränges, dass jeder andere als lästig empfinden würde.

Eine Männerstimme ruft: «Macht Platz, macht Platz!» Es ist eine kummervolle Stimme, die jedoch von vielen erkannt und als die einer einflußreichen Person geachtet wird; denn die Menge weicht auseinander, nur mit Mühe, weil sie so dicht gedrängt steht, und läßt einen Mann um die Fünfzig durch, der mit einem langen, wallenden Gewand und einem weißen Kopftuch, dessen Zipfel längs des Gesichtes und den Rücken hinunterfallen, daherkommt.

Bei Jesus angelangt, wirft er sich ihm zu Füßen und sagt: «Oh, Meister, weshalb bist du so lange weggewesen? Mein Töchterlein ist sehr krank. Keinem gelingt es zu helfen. Du allein bist meine und seiner Mutter Hoffnung. Komm, Meister! Ich habe dich mit unendlicher Sehnsucht erwartet. Komm, komm schnell! Mein einziges Kind liegt im Sterben ...» und er weint.

Jesus legt seine Hände auf das Haupt des Weinenden, auf das gebeugte und vom Schluchzen geschüttelte Haupt, und antwortet: «Weine nicht! Habe Vertrauen! Dein Töchterlein wird leben. Wir wollen zu ihm gehen. Steh auf! Gehen wir!» Diese beiden letzten Worte klingen wie ein Befehl. Zuvor war er der Tröster. Jetzt ist es der Herrscher, der spricht.

Sie setzen sich in Bewegung. Jesus hat den weinenden Vater an der Seite und hält ihn an der Hand. Als ein lautes Schluchzen den starken Mann schüttelt, sehe ich, wie Jesus ihn anblickt und ihm die Hand drückt. Er tut nichts anderes, aber wieviel Kraft muss in eine Seele einfließen, wenn sie sich von Jesus betreut fühlt! Vorher war Jakobus an der Stelle des Vaters gewesen. Aber Jesus hat ihn aufgefordert, dem armen Vater seinen Platz zu überlassen. Petrus ist auf der anderen Seite. Johannes geht neben Petrus und sucht mit ihm einen Damm gegen den Andrang der Menge zu bilden. Dasselbe tun Jakobus und Iskariot auf der anderen Seite, auf der sich der weinende Vater befindet. Die übrigen Apostel sind teils vor, teils hinter Jesus. Doch mit geringem Erfolg. Besonders den dreien hinter ihnen, unter welchen ich Matthäus erkenne, gelingt es kaum, die lebende Mauer zurückzudrängen. Aber als sie zu murren und die aufgeregte Menge zu beschimpfen anfangen, wendet Jesus das Haupt und sagt sanft: «Laßt diese meine Kleinen nur gewähren! ...»

In einem gewissen Augenblick jedoch dreht er sich plötzlich um, läßt sogar die Hand des Vaters los und bleibt stehen. Er wendet nicht nur das Haupt, sondern macht mit dem ganzen Körper kehrt. Er scheint auch viel größer, denn er hat eine königliche Haltung angenommen. Mit strengem und forschendem Blick prüft er die Menge. Seine Augen haben ein nicht hartes, sondern majestätisches Leuchten. «Wer hat mich berührt?» fragt er.

Niemand gibt Antwort.

«Wer hat mich berührt, wiederhole ich?» besteht Jesus auf seiner Frage.

«Meister», antworten die Jünger, «siehst du nicht, wie die Menge dich von allen Seiten umdrängt? Alle berühren dich, trotz all unserer Anstrengungen.»

«Wer hat mich berührt, um ein Wunder zu erhalten, will ich wissen. Ich habe gespürt, dass Wunderkraft von mir ausgegangen ist; denn ein gläubiges Herz hat danach verlangt. Wer ist es?»

Die Augen Jesu blicken, während er redet, zwei- oder dreimal auf eine kleine Frau von etwa vierzig Jahren, die ärmlich gekleidet ist und sehr abgehärmt aussieht. Sie versucht in der Menge zu verschwinden und zu entkommen. Aber diese Augen müssen auf ihr brennen. Sie begreift, dass ein Entkommen unmöglich ist, kehrt zurück und wirft sich Jesus zu Füßen, dass Gesicht beinah im Staub und die Hände emporstreckend, ohne jedoch Jesus zu berühren.

«Verzeihung! Ich bin es. Ich war krank. Zwölf Jahre war ich krank! Alles ist vor mir geflohen. Mein Mann hat mich verlassen. Ich habe mein ganzes Hab und Gut aufgewandt, um nicht der Abscheu meiner Mitmenschen zu sein; um leben zu können wie alle anderen. Aber niemand hat mich heilen können. Siehst du, Meister? Ich bin vor der Zeit gealtert. Die Kraft ist von mir gewichen mit meinem unheilbaren Blutfluß und auch der Friede. Man hat mir gesagt, dass du gut bist. Ein Aussätziger, der durch dich geheilt worden ist, hat es mir gesagt; die Menschen haben ihn viele Jahre hindurch gemieden; er hatte keinen Abscheu vor mir. Ich habe nicht gewagt, es dir vorher zu sagen. Darum bitte ich dich um Verzeihung. Ich habe mir gedacht, dass ich dich nur zu berühren brauche, um geheilt zu werden. Ich habe dich aber nicht unrein gemacht. Ich habe kaum den Saum deines Gewandes angefaßt, dort, wo er die Erde berührt, den Schmutz am Boden... Ich bin auch nur Schmutz... Aber ich bin geheilt, und du sollst gepriesen sein! In dem Augenblick, da ich dein Kleid berührte, ist das Übel von mir gewichen. Ich bin wieder wie alle! Nun werde ich nicht mehr von allen verabscheut werden. Mein Mann, meine Kinder, meine Verwandten können jetzt bei mir sein, und ich werde sie liebkosen dürfen. Ich werde wieder im Haus nützlich sein. Danke Jesus, guter Meister! Du sollst in Ewigkeit gepriesen sein!»

Jesus betrachtet sie mit unendlicher Güte. Er lächelt ihr zu und sagt zu ihr: «Geh in Frieden, Tochter! Dein Glaube hat dir geholfen! Sei für immer geheilt. Sei gut und glücklich. Geh!»

Während er noch spricht, kommt ein Mann herbei, anscheinend ein Knecht, der sich an den Vater wendet. Dieser ist die ganze Zeit in einer ehrfürchtigen Erwartung neben Jesus gewandelt, obgleich er ein gequältes Gesicht hat als stände er auf heißen Kohlen. «Deine Tochter ist tot! Es ist zwecklos, weiterhin den Meister zu belästigen. Sie hat den Geist aufgegeben, und die Frauen halten schon die Totenklage. Die Mutter läßt dir dies sagen und dich bitten, sofort zu kommen.»

Der arme Vater schluchzt laut. Er führt seine Hände zur Stirne, drückt sich die Augen zu und krümmt sich, wie von einem Hieb getroffen.

Jesus, der aufmerksam mit der Frau gesprochen hat und anderes zu sehen und zu hören scheint, dreht sich jetzt um, legt seine Hand auf die gebeugten Schultern des armen Vaters und sagt: «Mann, ich habe es dir doch gesagt, habe Glauben! Ich wiederhole, habe Glauben! Hab keine Angst, dein Kind wird leben. Gehen wir zu ihm.» Und er geht weiter und drückt den vernichteten Mann an sich. Die Menge bleibt vor diesem Schmerz und der bereits erfolgten Heilung erschrocken stehen, teilt sich, läßt Jesus und die Seinen ungehindert durch und folgt wie Kielwasser der Gnade, die vorausgeht.

Sie gehen etwa hundert Meter, vielleicht auch mehr – ich kann es nicht gut schätzen – und kommen immer näher zur Stadtmitte. Eine große Menge hat sich vor einem bürgerlichen Haus versammelt. Mit lauten Stimmen wird der Todesfall im Haus beklagt und auf die lauten Rufe geantwortet, die aus der weitgeöffneten Tür kommen. Es sind schrille, auf einer Höhe bleibende Töne, und sie scheinen von einer beherrschenden Stimme vorgetragen und von einer Gruppe schwacher und einer Gruppe stärkerer Stimmen beantwortet zu werden. Ein Lärm, der auch Gesunde umzubringen imstande ist.

Jesus gibt den Seinen die Weisung, vor dem Ausgang stehenzubleiben, und ruft Petrus, Jakobus und Johannes zu sich. Mit ihnen geht er in das Haus, den weinenden Vater immer noch am Arm festhaltend.

Es scheint, dass er ihm die gewissheit geben will, dass er da ist, und ihn glücklich machen möchte mit dieser Umklammerung. Die Klagenden (ich würde sie eher die Heulenden nennen) verdoppeln ihr Geschrei beim Anblick des Hausvaters und des Meisters. Sie klatschen in die Hände, hauen auf die Pauken, schlagen an die Triangeln und auf diese... Musik stützen sie ihr Gejammer.

«Schweigt!» sagt Jesus. «Hier ist kein Grund zum Weinen. Das Mädchen ist nicht gestorben, es schläft nur!»

Die Frauen stoßen noch stärkere Schreie aus, und einige wälzen sich auf der Erde, zerkratzen sich, reißen sich die Haare aus (oder besser gesagt, tun so als ob ...), um zu beweisen, dass die Tochter wirklich tot ist. Die Musikanten und die Freunde schütteln den Kopf über die Illusion Jesu. Aber er wiederholt: «Schweigt», und zwar in einem so energischen Ton, dass der Lärm zwar nicht aufhört, doch sehr abnimmt. Dann schreitet er weiter vorwärts.

Er betritt eine kleine Kammer. Auf dem Lager liegt ein totes Mädchen ausgestreckt. Mager und totenbleich liegt es mit sorgfältig geordneten Haaren, bekleidet da. Die Mutter steht weinend auf der rechten Seite des Bettes und hält die wächserne Hand der Toten. Jesus! ... Oh, wie schön ist er jetzt! So habe ich ihn selten gesehen! Jesus nähert sich eilig. Es scheint, als schwebe er über dem Boden, so schnell eilt er auf das Bettlein zu.

Die drei Apostel stehen an der Türe und schließen sie vor den Augen der Neugierigen. Der Vater bleibt am Fußende des Bettes stehen.

Jesus geht auf die linke Seite des Lagers, streckt seine linke Hand aus und erfaßt damit das leblose Händchen des Kindes. Die linke Hand. Ich habe es gut gesehen. Es ist sowohl die linke Hand Jesu als auch die linke Hand des Kindes. Er hebt den rechten Arm und bringt die geöffnete Hand bis zur Schulterhöhe. Schließlich senkt er sie, mit einer Geste, die einem Schwur oder einem Befehl entsprechen könnte. Er sagt: «Mädchen, ich sage dir, steh auf!»

Für einen Augenblick sind alle, mit Ausnahme Jesu und des Mädchens, überrascht. Die Apostel recken die Hälse, um besser sehen zu können. Der Vater und die Mutter schauen mit traurigen Augen auf ihr Kind. Nur einen Augenblick. Dann hebt ein Atemzug die Brust der kleinen Toten. Eine leichte Röte breitet sich über das wachsbleiche Gesicht; die Totenblässe schwindet. Ein schwaches Lächeln spielt auf den noch bleichen Lippen, bevor die Augen sich öffnen, als ob das Kind etwas Schönes träumte. Jesus hält seine Hand immer noch in der seinen. Das Kind öffnet langsam die Augen und schaut umher, als ob es soeben erwacht wäre. Zuerst sieht es das Antlitz Jesu, der es mit seinen strahlenden Augen anblickt und ihm ermutigend zulächelt, worauf das Kind ebenfalls lächelt.

«Steh auf!» wiederholt Jesus, und er schiebt mit seiner Hand die auf dem Bett ausgebreiteten Leichengeschenke zur Seite (Blumen, Schleier usw.) und hilft dem Mädchen beim Herabsteigen und bei den ersten Schritten; er hält es weiterhin an der Hand.

«Gebt ihm jetzt zu essen!» befiehlt er. «Es ist geheilt. Gott hat es euch zurückgegeben. Dankt ihm dafür! Und sagt niemandem, was vorgefallen ist. Ihr wißt, was mit ihr geschehen war. Ihr habt geglaubt und damit das Wunder verdient. Die anderen hatten keinen Glauben; es ist zwecklos, sie überzeugen zu wollen. Dem, der das Wunder leugnet, zeigt sich Gott nicht. Und du, Mädchen, sei brav! Lebt wohl! Der Friede sei mit diesem Haus!» Und er geht hinaus, die Tür hinter sich schließend.

Die Vision ist zu Ende.

Ich will Ihnen sagen, welche beiden Stellen mich besonders erfreut haben: die eine, wo Jesus in der Menge die Frau sucht, die ihn berührt hat, und besonders die andere, wo er die Hand des Mädchens nimmt und diesem befiehlt, aufzustehen. Friede und Sicherheit haben mich erfüllt. Es ist nicht möglich, dass ein Barmherziger und ein Mächtiger wie er nicht Mitleid mit uns hat und das Übel, dass uns sterben läßt, nicht besiegt.

Jesus sagt im Augenblick nichts dazu, so wie er über viele Dinge nichts sagt. Er sieht, dass ich fast am Ende bin, und findet es nicht angebracht, dass es mir heute abend besser gehe. Sein Wille geschehe! Ich bin schon froh genug, dass ich seine Vision in mir habe.