01.08.2016

DIE ERSTE BROTVERMEHRUNG

nach Maria Valtorta

Am selben Ort wie tags zuvor. Nur dringt die Sonne nicht mehr von Osten her durch die Waldung, welche die Ufer des Jordan an dieser verwilderten Stelle beim Ausfluß des Seewassers in das Flußbett säumt, sondern sie sendet von Westen her ihre letzte roten Strahlen über den Himmel. Unter diesem dichten Blätterwerk ist das Licht stark gedämpft und neigt schon zu den friedlichen Tönungen des Abends. Die Vögel sind wie trunken von der Sonne, die sie im Lauf des Tages genossen, und der reichlichen Nahrung, die sie auf den umliegenden Feldern gefunden haben; sie zwitschern und singen aus voller Kehle auf den Wipfeln der Bäume. Der Abend sinkt hernieder, während der Tag sich mit seiner letzten Pracht schmückt. Die Apostel machen Jesus, der immer noch unterweist und die ihm gestellten Fragen beantwortet, darauf aufmerksam.

«Meister, der Abend nähert sich. Der Ort ist einsam, fern von Häusern und Dörfern, dunkel und feucht. Bald wird man sich hier nicht mehr sehen und nicht einmal mehr gehen können. Der Mond geht spät auf. Entlasse die Menschen, damit sie nach Tarichäa oder in die Dörfer am Jordan gehen und sich Nahrung kaufen und ein Obdach suchen können.»

«Es ist nicht nötig, dass sie weggehen. Gebt ihr ihnen zu essen. Sie können hier schlafen, wie sie hier geschlafen haben, als sie auf mich warteten.»

«Wir haben nur noch fünf Brote und zwei Fische, Meister. Du weißt es.»

«Bringt sie mir!»

«Andreas, geh und suche den Knaben. Er hat die Aufsicht über die Tasche. Soeben war er noch mit dem Sohn des Schriftgelehrten und zwei anderen Knaben zusammen; sie haben sich Blumenkränze gemacht, weil sie König spielen.»

Andreas geht rasch weg. Auch Johannes und Philippus suchen Margziam in der Menge, die ständig in Bewegung ist. Sie finden ihn fast gleichzeitig, mit dem Sack mit den Lebensmitteln auf dem Rücken, einem blühenden Zweig um den Kopf und einem Gürtel von Waldreben, von dem als Schwert ein Schilfrohr herabhängt. Bei ihm sind sieben weitere, ebenso aufgeputzte Kinder. Sie bilden das Gefolge des Sohnes des Schriftgelehrten, eines sehr zarten Knaben mit ernstem Blick, der viel gelitten haben muss. Er ist reichlicher geschmückt als die anderen und spielt den König.

«Komm, Margziam, der Meister will dich haben!»

Margziam läßt die Freunde stehen und eilt weg, ohne seine blumigen Ehrenzeichen abzulegen. Aber die anderen folgen ihm, und bald darauf ist Jesus von einer kleinen Gruppe blumengeschmückter Knaben umgeben. Er liebkost sie, während Philippus aus dem Sack ein Bündel mit dem Brot und zwei dicken Fischen holt; etwa zwei Kilo Fisch. Sie würden nicht einmal für die siebzehn, mit Margziam eigentlich achtzehn Personen des Gefolges Jesu reichen. Sie bringen Brot und Fisch zu Jesus.

«Gut! Bringt mir jetzt Körbe. Siebzehn, so viele ihr seid. Margziam soll an die Kinder Brot und Fisch austeilen...» Jesus blickt den Schriftgelehrten scharf an, der immer noch in seiner Nähe steht, und fragt ihn: «Willst auch du unter die Hungrigen Speisen verteilen?»

«Ich würde es gerne tun, doch ich habe selbst nichts.»

«Gib von dem Meinen, ich erlaube es dir.»

«Aber... hast du denn die Absicht, fünftausend Männer und dazu noch die Frauen und die Kinder mit diesen zwei Fischen und fünf Broten zu speisen?»

«Ohne Zweifel! Sei nicht ungläubig! Wer glaubt, sieht, wie das Wunder geschieht!»

«Oh, dann möchte ich auch helfen, die Speisen zu verteilen!»

«So laß dir einen Korb geben.»

Die Apostel kommen mit hohen, schmalen, niedrigen und breiten Körben zurück. Der Schriftgelehrte bringt einen ziemlich kleinen Brotkorb. Man sieht, dass sein Glaube oder sein Unglaube ihn diesen hat aussuchen lassen, da er meint, keinen größeren zu brauchen.

«Gut! Stellt sie alle vor mich hin. Die Leute sollen sich in Reihen hinsetzen, so gut es geht.»

Während dies geschieht, hebt Jesus das Brot mit den Fischen darauf zum Himmel, opfert beides auf, betet und segnet es. Der Schriftgelehrte läßt ihn keinen Moment aus den Augen. Dann bricht Jesus die fünf Brote in achtzehn Teile, macht auch aus den Fischen achtzehn Stücklein und legt davon je eines in jeden Korb. Aus den Brotstücken macht er je zwanzig Brocken, nicht mehr, und legt sie wieder in die Körbe.

«Nun nehmt die Körbe, verteilt, bis alle satt sind. Geh, Margziam, und teile an deine Spielgefährten aus.»

«Uh, wie schwer er ist!» sagt Margziam, als er seinen Korb nimmt und damit gleich zu seinen kleinen Freunden geht. Er geht gebeugt, als sei er schwer beladen.

Die Apostel, die Jünger, Manaen und der Schriftgelehrte sehen ihm, unsicher geworden, nach... Dann nehmen auch sie ihre Körbe, blicken sich kopfschüttelnd an und sagen: «Das Kind scherzt! Sie wiegen nicht mehr als zuvor.»

Der Schriftgelehrte schaut in seinen Korb und greift mit der Hand hinein; denn es ist bereits dunkel im Dickicht, in dem Jesus sich befindet, während es auf der Lichtung noch halbwegs hell ist. Trotz der Bestätigung ihrer Zweifel gehen sie auf das Volk zu und beginnen auszuteilen. Und sie verteilen, verteilen und verteilen. Ab und zu wenden sie sich erstaunt um, und blicken auf Jesus, der in immer größerer Entfernung und mit verschränkten Armen an einem Baum lehnt, während er über ihr Erstaunen fein lächelt.

Sie verteilen lange und reichlich... Margziam, der einzige, der nicht verblüfft ist, lacht fröhlich, während er den Schoß vieler armer Kinder mit Brot und Fischen anfüllt. Er ist auch der erste, der zu Jesus zurückkommt und sagt: «Ich habe viel, viel, sehr viel gegeben... denn ich weiß, was Hunger ist...!» Er hebt sein jetzt nicht mehr mageres Gesichtlein, erbleicht und reißt die Augen auf... Doch Jesus liebkost ihn, und das Lächeln kehrt wieder auf das Kindergesicht zurück, dass sich vertrauensvoll an Jesus, seinen Lehrer und Beschützer, schmiegt.

Langsam kommen auch die Apostel und Jünger zurück, stumm vor Staunen. Der letzte ist der Schriftgelehrte, der auch nichts sagt, aber eine Geste macht, die mehr ausdrückt als eine lange Rede. Er kniet nieder und küßt den Saum des Gewandes Jesu.

«Nehmt euren Teil und gebt auch mir ein wenig davon. Wir wollen die Speise Gottes essen.»

Sie essen Brot und Fisch, jeder entsprechend seinem Hunger... Indessen tauschen die gesättigten Menschen ihre Meinungen aus. Auch jene in der Nähe Jesu getrauen sich nun zu sprechen und betrachten dabei Margziam, der mit den Kindern lacht und seinen Fisch fertig ißt.

«Meister», fragt der Schriftgelehrte, «warum hat das Kind sofort das Gewicht gespürt und wir nicht? Ich habe auch hineingegriffen. Es waren nur ein paar Brotbrocken und ein einziges Stücklein Fisch darin. Ich habe die Schwere erst gespürt beim Gang zu den Leuten. Aber wenn es das Gewicht von dem gehabt hätte, was ich austeilte, wären zwei Maulesel nötig gewesen, um den Korb, nein, einen mit Nahrungsmitteln beladenen Wagen zu ziehen. Anfangs war ich sparsam... dann fing ich an zu geben, zu geben, und um nicht ungerecht zu sein, ging ich zu den ersten zurück und gab ihnen nochmals; denn sie hatten das erste Mal nur wenig bekommen. Und doch hat es gereicht.»

«Auch ich habe gespürt, wie der Korb schwerer wurde, während ich hinging; ich habe sofort viel gegeben, denn ich verstand, dass du ein Wunder gewirkt hattest», sagt Johannes.

«Ich hingegen habe mich zunächst hingesetzt und den Korb in den Schoß geleert, um zu sehen... Ich habe viele Brote gesehen. Da bin ich gegangen», sagt Manaen.

«Ich habe sie gezählt, denn ich wollte mich nicht blamieren. Es waren fünfzig Brotstückchen. Ich habe mir gesagt: „Ich will sie an fünfzig Personen austeilen und dann zurückkehren.“ Ich habe gezählt. Doch bei fünfzig angekommen, war das Gewicht immer noch das gleiche. Da habe ich nachgesehen. Es waren immer noch viele darin. So bin ich gegangen und habe an Hunderte verteilt. Doch es wurden nie weniger», sagt Bartholomäus.

«Ich, ich muss gestehen, dass ich nicht geglaubt habe. Ich habe die Brotbrocken und das Fischstück in die Hand genommen, sie angesehen und bei mir gesagt: „Was soll das? Jesus will einen Scherz machen...!“ Ich stand hinter einem Baum und schaute auf ihn und auf die Stücklein und hoffte, dass sie sich vermehren würden, und zweifelte zugleich daran. Aber es blieben immer dieselben. Ich wollte schon zurückkehren, als Matthäus vorbeikam und sagte: „Hast du gesehen, wie schön sie sind?“ „Was

denn?“ habe ich gefragt. „Nun die Brote und die Fischlein .. Bist du

denn verrückt? Ich sehe nur Brotbrocken.“ Geh und teile sie mit Vertrauen aus und du wirst sehen. „Ich habe die wenigen Brocken in den Korb zurückgelegt und bin zögernd weitergegangen... Und dann... Verzeih mir, Jesus, denn ich bin ein Sünder!» sagt Thomas.

«Nein, du bist ein Weltmensch. Du denkst weltlich.»

«Auch ich, Herr. So sehr, dass ich dachte, ihnen zum Brot noch ein Geldstück zu geben, damit sie anderswo essen könnten. Ich glaubte, dir helfen zu können, einen besseren Eindruck zu machen», sagt Iskariot. «Wie bin ich also – wie Thomas – oder noch schlimmer?»

«Noch viel mehr als Thomas, du bist „weltlich“.»

«Und doch wollte ich, um des Himmels willen, Almosen geben! Es war mein eigenes Geld...»

«Almosen für dich selbst und deinen Hochmut. Und Almosen für Gott. Doch er bedarf ihrer nicht. Almosen für deinen Hochmut sind Sünde, kein Verdienst.»

Judas neigt das Haupt und schweigt.

«Ich habe geglaubt, dass ich diesen Bissen Fisch und diese Bröcklein Brot noch kleiner machen müßte, damit sie genügen könnten. Aber ich habe nicht daran gezweifelt, dass sie ihrem Nährwert und ihrer Anzahl nach ausreichen könnten. Ein Tropfen Wasser, von dir gegeben, kann nahrhafter sein als eine volle Mahlzeit», sagt der Zelote.

«Und was habt ihr gedacht?» fragt Petrus die Vettern Jesu.

«Wir haben uns an Kana erinnert... und haben nicht gezweifelt», sagt Judas ernst.

«Und du, Jakobus, mein Bruder, dachtest du nur daran?»

«Nein! Ich dachte, es könnte eines der Sakramente sein, von denen du zu mir gesprochen hattest... Ist es so, oder irre ich mich?»

Jesus lächelt: «Es ist so, und ist doch nicht so. Mit der Wahrheit vom Nährwert eines Tropfen Wassers, von der Simon sprach, muss der Gedanke an eine spätere Gestalt verbunden werden. Doch jetzt ist es noch kein Sakrament.»

Der Schriftgelehrte betrachtet ein Brotstückchen in seiner Hand.

«Was machst du damit?»

«Ein... Andenken.»

«Auch ich behalte eines. Ich werde es in einem kleinen Säcklein Margziam an den Hals hängen», sagt Petrus.

«Ich will es meiner Mutter bringen», sagt Johannes.

«Wir, wir haben alles aufgegessen...» sagen die anderen beschämt.

«Steht auf! Geht noch einmal mit den Körben herum und sammelt die Reste ein. Sucht die Ärmsten aus dem Volk heraus und bringt sie, zusammen mit den Körben, zu mir. Dann geht ihr alle, ihr, meine Jünger, zu den Booten und fahrt auf den See hinaus, zur Ebene von Genesareth. Ich will die Leute entlassen, nachdem ich die Ärmsten beschenkt habe, und euch dann einholen.»

Die Apostel gehorchen... und kehren mit zwölf gefüllten Körben zurück. Es folgen ihnen etwa dreißig Bettler oder sehr elende Menschen.

«Gut so. Geht nun.»

Die Apostel und die Jünger des Johannes verabschieden sich von Manaen und gehen etwas widerstrebend weg, weil sie Jesus verlassen müssen.

Doch sie gehorchen. Manaen wartet noch mit Jesus, bis die Menge sich im letzten Tageslicht nach den Dörfern aufmacht oder eine Schlafstätte im hohen trockenen Schilf sucht. Dann nimmt er Abschied. Vor ihm, ja sogar als einer der ersten, ist der Schriftgelehrte weggegangen; denn er ist mit seinem Söhnchen den Aposteln gefolgt.

Nachdem alle gegangen oder schon in Schlaf gesunken sind, erhebt sich Jesus, segnet die Schlafenden, und langsamen Schrittes geht er zum See auf die Halbinsel von Tarichäa zu, die sich einige Meter über dem Wasserspiegel erhebt, als wäre sie ein Stück eines in den See geschobenen Hügels. Und an seinem Fuß angelangt, steigt er, ohne in die Stadt hineinzugehen, sondern sie umgehend, auf die kleine Erhebung, setzt sich auf einen spitzen Felsvorsprung nieder und betet im Angesicht des Himmels und im Schein der klaren Mondnacht.