03.08.2016

DIE KANANÄISCHE MUTTER

nach Maria Valtorta

»Ist der Meister bei dir?«, fragt der alte Bauer Jona Thaddäus, der eben durch die Küche kommt, wo schon das Feuer brennt, um die Milch und auch den Raum zu erwärmen, denn es ist ziemlich kalt in den ersten Stunden dieses sehr schönen Morgens um Ende Januar oder Anfang Februar. »Er wird hinausgegangen sein, um zu beten, denn er geht oft im Morgengrauen hinaus, da er weiß, dass er um diese Stunde niemandem begegnet und allein sein kann. Er wird bald zurückkommen. Warum fragst du?« »Ich habe auch die anderen nach ihm gefragt, die ihn nun suchen, denn es ist eine Frau dort bei meiner Gattin. Sie ist aus dem Dorf jenseits der Grenze, und ich kann wirklich nicht sagen, wie sie erfahren hat, dass der Meister hier ist. Aber sie weiß es und möchte ihn sprechen.« »Gut! Er wird mit ihr reden. Vielleicht ist es die mit dem kranken Töchterchen, die er erwartet. Sein Geist wird sie hierher geleitet haben.« »Nein, sie ist allein und hat keine Kinder bei sich. Ich kenne sie,denn die Ortschaften liegen nahe beieinander . . . und das Tal ist Niemandsland. Ich bin der Meinung, dass man Nachbarn gegenüber nicht hart sein soll, selbst wenn es Phönizier sind. Vielleicht ist es ein Fehler, aber . . . « »Auch der Herr sagt immer, dass man mit allen barmherzig sein soll.«»Er ist es, nicht wahr?« »Ja, er ist es.« »Hannas hat mir gesagt, dass er auch diesmal wieder schlecht behandelt worden ist. Schlecht, immer schlecht! . . . In Judäa wie in Galiläa, überall. Warum ist Israel wohl so böse zu seinem Messias? Ich meine die Großen unter uns Israeliten, denn das Volk liebt ihn.«  »Woher weißt du das?« »Oh, ich lebe hier, fern von allem. Aber ich bin ein treuer Israelit, und man braucht nur zu den gebotenen Festen zum Tempel zu gehen, um alles Gute und alles Böse zu erfahren! Das Gute ist weniger bekannt als das Böse, denn das Gute ist bescheiden und lobt sich nicht selbst. Wer Wohltaten empfängt, müßte es verkünden, doch nur wenige sind dankbar für die Gnaden, die sie erhalten haben. Der Mensch nimmt die Wohltaten an, und sogleich vergißt er sie . . . Das Böse hingegen macht Lärm, stößt in die Trompete und lässt auch jene seine Worte vernehmen, die nichts davon wissen wollen. Ihr, die ihr seine Jünger seid, wißt ihr denn nicht, wie schlecht man im Tempel über den Messias spricht und wie man ihn beschuldigt? Die Schriftgelehrten unterrichten über nichts anderes mehr; nur noch von ihm wird gesprochen. Ich glaube, sie haben ein Lehrbuch darüber verfaßt, wie man den Meister anklagen könnte, denn darin sind auch alle Geschehnisse , die sie als glaubwürdige Punkte für eine Anklage auszulegen versuchen. Man muss ein rechtschaffener, freier und starker Mensch mit gutem Gewissen sein, um widerstehen und weise urteilen zu können. Weiß er denn von all diesen Machenschaften?«»Er weiß alles, auch wir wissen es mehr oder weniger. Aber er läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er fährt fort mit seinem Werk, und die Jünger oder Gläubigen nehmen von Tag zu Tag zu.« »Gebe Gott, dass sie ausharren mögen bis ans Ende. Aber der Mensch ist unstet in seinen Gedanken, er ist schwach . . . Sieh doch, der Meister kommt mit drei Jüngern zum Haus.« Der Alte geht hinaus, gefolgt von Judas Thaddäus, um Jesus, der würdevoll auf das Haus zugeht, verehrend zu begrüßen.»Der Friede sei am heutigen Tag und immer mit dir, Jona!« »Ehre und Friede dir, Meister, in alle Ewigkeit!« »Der Friede sei mit dir, Judas. Sind Andreas und Johannes noch nicht zurückgekehrt?«

»Nein. Ich habe sie nicht fortgehen gehört. Niemanden. Ich war müde und habe tief geschlafen.«

»Tritt ein, Meister! Tretet ein. Die Luft ist heute morgen frisch, und im Wald muss es sehr kalt gewesen sein. Drinnen gibt es heiße Milch

für alle.«

Sie sind dabei, ihre Milch zu trinken, und außer Jesus tauchen alle große Brotstücke ein, als Andreas und Johannes zusammen mit Hannas, dem Hirten, eintreffen.»Ah, du bist hier? Wir sind zurückgekehrt, um den anderen mitzuteilen, dass wir dich nicht gefunden haben«, ruft Andreas aus.

Jesus gibt den dreien seinen Friedenskuß und fügt hinzu: »Beeilt euch und nehmt euren Anteil; dann wollen wir aufbrechen, ichmöchte heute wenigstens die Hänge des Berges von Achsib erreichen,

denn heute abend beginnt der Sabbat.«

»Aber meine Schafe?«

Jesus lächelt und antwortet: »Sie werden geheilt sein, nachdem siegesegnet worden sind.«

»Aber ich habe sie auf der Ostseite des Berges, und du gehst nachWesten, um die Frau aufzusuchen . . .«

»Laß nur Gott walten, er wird für alles sorgen.«

Das Frühstück ist beendet, und die Apostel gehen hinauf, um die Reisesäcke zu holen und sich auf den Aufbruch vorzubereiten.

»Meister, die Frau, die dort ist . . . Willst du sie nicht anhören?«»Ich habe keine Zeit, Jona. Der Weg ist lang, und außerdem binich für die Schäflein von Israel gekommen. Leb wohl, Jona, Gott vergelte dir deine Liebe. Mein Segen ruhe auf dir und allen deinen Verwandten. Laßt uns gehen!«

Doch der Alte beginnt aus vollem Hals zu schreien: »Kinder, Frauen,der Meister reist ab! Eilt herbei!«

Wie Küken, die sich in einem Strohschober tummeln und auf den Ruf der Glucke herbeieilen, so kommen nun aus allen Teilen des Hauses Frauen und Männer, von denen einige bereits an der Arbeit waren, während andere noch ganz verschlafen sind; es kommen auch halbnackte Kinder, auf deren eben aus dem Schlafe erwachten Gesichtern ein Lächeln ist . . . Sie drängen sich um Jesus, der mitten

auf der Tenne steht, und die Frauen hüllen die Kinder in ihre weiten Röcke ein, um sie vor der kalten Luft zu schützen, oder halten sie in den Armen, bis eine Dienerin ein Kleidchen bringt, dass bald angezogen ist. Auch eine Frau, die nicht vom Hause ist, eilt herbei. Eine arme, weinende, schüchterne Frau . . .

Sie geht gekrümmt, fast kriechend, und als sie die Gruppe erreicht, in der sich Jesus befindet, fängt sie an zu schreien:

»Hab Erbarmen mit mir, o Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird dermaßen vom Dämon gequält, dass sie schamlose Dinge tut. Hab Erbarmen, denn ich leide sehr deswegen und werde von allen verachtet. Als ob mein Kind Schuld hätte für das, was es tut . . . Habe Erbarmen, Herr, du, der du alles vermagst. Erhebe deine Stimme und deine Hand und gebiete dem unreinen Geist aus Palma auszufahren. Ich bin Witwe und habe nur dieses eine Kind . . . Oh, geh nicht fort! Hab Erbarmen!. . . «

Nachdem Jesus die einzelnen Familienmitglieder gesegnet und die Erwachsenen getadelt hat, weil sie sein Kommen bekannt gemacht haben – sie entschuldigen sich und behaupten: »Wir haben nichts gesagt, glaube uns, Herr!« – geht er mit einer unbegreiflichen Härte gegenüber der armen Frau von dannen. Diese folgt ihm auf den Knien und fleht mit ausgestreckten Armen und verzweifelter Stimme:

»Ich habe dich gestern gesehen, als du den Bach überschritten hast, und habe dich „Meister“ nennen hören. So bin ich euch zwischen den Sträuchern nachgelaufen, ich habe die Gespräche deiner Gefährten vernommen und verstanden, wer du bist . . . Und heute morgen binich gekommen, als es noch dunkel war, um wie ein Hündlein hier an der Schwelle zu warten, bis Sara aufstand und mich eintreten ließ. O Herr, Erbarmen! Erbarme dich der Mutter, erbarme dich des Kindes!«

Aber Jesus entfernt sich rasch, taub gegenüber allen Anrufen. Die Hausbewohner sagen zu der Frau: »Finde dich mit deinem Schicksal ab. Er will dich nicht anhören. Er hat gesagt, dass er nur für die Kinder Israels gekommen ist . . . «

Aber sie erhebt sich verzweifelt und doch vertrauensvoll und antwortet:

»Nein! Ich werde so lange bitten, bis er mich erhört.« Sie beginnt, dem Meister zu folgen und wiederholt andauernd ihre Bitten, die alle im Dorf, die wach geworden sind, an die Türen ihrer Häuser kommen lassen. Sie machen sich wie die aus dem Hause des Jona daran, ihr zu folgen, um zu sehen, wie die Sache wohl enden wird.

Die Apostel jedoch schauen einander erstaunt an und flüstern: »Warum benimmt er sich so? Das hat er noch nie getan!« . . . Und Johannes sagt: »In Alexandroskene hat er doch auch jene zwei geheilt.«

»Es waren aber Proselyten«, entgegnet Thaddäus.

»Und die, die er jetzt heilen geht?« »Auch sie ist eine Proselytin«, sagt der Hirte Hannas.

»Oh, wie oft hat er auch Heiden und Römer geheilt! Das römische Mädchen damals . . . «, sagt Andreas betrübt, dem die Härte Jesu dieser kananäischen Frau gegenüber unbegreiflich ist.

»Ich sage euch, was los ist«, ruft Jakobus des Zebedäus aus. »Der Meister ist erzürnt. Seine Geduld ist zu Ende nach so vielen Angriffen menschlicher Bosheit. Seht ihr nicht, wie er sich verändert hat? Er hat recht! Von jetzt an wird er sich nur nach denen widmen, die er gut kennt, und er tut gut daran!«

»Ja, aber diese Frau läuft uns schreiend nach, und eine ganze Menschenmenge folgt ihr. Er, der unbeachtet nach Achsib gelangen wollte, hat ein Mittel gefunden, um selbst die Aufmerksamkeit der Pflanzen auf sich zu lenken . . . « brummt Matthäus.

»Wollen wir zu ihm gehen und ihm sagen, dass er sie fortschicken soll . . .? Schaut, welch schönes Geleit wir hinter uns haben. Wenn wir so auf die Konsularstraße kommen, dann haben wir die Bescherung, denn wenn er sie nicht wegjagt, gibt sie nicht nach . . . «, sagt Thaddäus verärgert, während er sich umdreht und der Frau befiehlt:

»Schweig und verschwinde!« Dasselbe tut Jakobus des Zebedäus. Aber die Frau läßt sich durch Drohungen und Befehle nicht einschüchtern und fährt fort zu flehen.

»Wir müssen dem Meister sagen, dass er sie fortjagen soll, wenn er sie doch nicht anhören will, denn so kann es nicht weitergehen!« sagt Matthäus, während Andreas flüstert: »Die Arme«, und Johannes fortwährend wiederholt: »Ich verstehe ihn nicht . . . Ich verstehe ihn nicht . . . « Er ist bestürzt über die Handlungsweise Jesu.

Aber jetzt haben sie, ihre Schritte beschleunigend, den Meister erreicht, der schnell wie ein Verfolgter geht: »Meister! So schick die Frau doch fort! Das gibt Ärgernis! Sie schreit hinter uns her! Sie macht alle Leute auf uns aufmerksam! Die Straße füllt sich immer mehr mit Menschen . . . und viele laufen hinter ihr her. Sage ihr, dass sie verschwinden soll.«

»Sagt ihr es ihr! Ich habe ihr schon geantwortet.«

»Auf uns hört sie nicht. Bitte, sag du es ihr, und sei streng.«

Jesus bleibt stehen und wendet sich um. Die Frau betrachtet dies als ein Zeichen der Gnade, beschleunigt ihre Schritte, schreit noch

lauter und erbleicht vor wachsender Hoffnung.

»Schweig Frau und geh nach Hause zurück! Ich habe es dir schon gesagt, ich bin für die Schafe Israels gekommen, um ihre Kranken zu heilen und die Verlorenen unter ihnen zu suchen. Du bist nicht

von Israel.«

Aber die Frau kniet schon zu seinen Füßen, küßt sie, betet ihn an, hält sich an seinen Fußgelenken fest wie eine Ertrinkende, die einen Felsen der Rettung gefunden hat, und seufzt: »Herr, hilf mir! Du

kannst es, Herr! Befiehl dem Dämon, du, der du heilig bist . . . Herr, Herr, du bist Herr über alles, über die Gnade wie über die Welt. Alles ist dir untertan, Herr. Ich weiß es. Ich glaube es. Gebrauche daher deine Macht und heile durch sie mein Kind!«

»Es ist nicht recht, den Kindern des Hauses das Brot wegzunehmen und es den Hunden auf der Straße vorzuwerfen.«

»Ich glaube an dich. Im Glauben bin ich aus einem Hund der Straße zu einem Hund des Hauses geworden. Ich habe es dir gesagt, ich bin vor Sonnenaufgang gekommen und habe mich auf die

Schwelle des Hauses gekauert, in dem du warst; wenn du von dort weggegangen wärest, wärest du über mich gestolpert. Aber du bist an einer anderen Seite hinausgegangen und hast mich nicht gesehen. Du hast diesen armen, elenden Hund nicht gesehen, der nach deiner Gnade hungerte und darauf wartete, eintreten zu dürfen, um zu dir zu kriechen, dir die Füße zu küssen und dich zu bitten, ihn nicht

fortzujagen . . . «

»Es ist nicht recht, dass Brot der Kinder den Hunden vorzuwerfen«, wiederholt Jesus.

»Aber die Hunde betreten den Raum, in dem der Hausherr mit seinen Kindern ist, und fressen das, was vom Tische fällt oder übrigbleibt und nicht mehr gebraucht wird. Ich bitte dich nicht, mich als

Tochter zu behandeln und mich an deinen Tische zu laden, aber gib mir wenigstens die Krümel . . . «

Jesus lächelt. Oh! Wie verändert sich sein Antlitz in diesem Lächeln der Freude! . . .

Die Menschen, die Apostel, die Frau, alle schauen ihn verwundert an . . . sie spüren, dass etwas geschehen wird.

Jesus sagt: »O Frau! Groß ist dein Glaube! und mit ihm tröstest du meinen Geist. Gehe hin, es geschehe dir nach deinem Wunsche. In diesem Augenblick ist der Dämon von deiner Tochter gewichen. Geh

in Frieden! Wie du es als verirrter Hund verstanden hast, Hündlein des Hauses zu sein, so wisse in Zukunft Tochter zu sein, die am Tisch des himmlischen Vaters sitzt. Gott sei mit dir!«

»O Herr! Herr! Herr! . . . Ich möchte forteilen, um meine geliebte Palma zu sehen . . . und ich möchte auch bei dir bleiben, um dir zufolgen. Gesegneter! Heiliger!«

»Geh, geh, Frau. Gehe hin in Frieden!«

Jesus setzt seinen Weg fort, während die kananäische Frau flinker als ein Mädchen zurückläuft, gefolgt von der neugierigen Menge,

die das Wunder sehen will.

»Aber warum hast du dich so sehr bitten lassen, Meister, wenn du sie dann doch erhört hast?« fragt Jakobus des Zebedäus.

»Deinetwegen und euer aller wegen. Das ist keine Niederlage, Jakobus, hier bin ich nicht verjagt, verlacht und verwünscht worden . . .Das möge euren niedergeschlagenen Geist wieder aufrichten. Ich habe heute schon meine süßeste Speise genossen und preise Gott dafür. Nun gehen wir zu jener anderen Frau, die zu glauben und mit sicherem Glauben abzuwarten versteht.«

»Und meine Schafe, Herr? Bald werde ich einen Weg nehmen müssen, der nicht der deine ist, um zu meiner Herde zu gelangen . . . «

Jesus lächelt, ohne zu antworten.

Es ist jetzt schön zu wandern, da die Sonne die Luft erwärmt und die jungen Blätter der Bäume und die Gräser der Wiesen wie Smaragde erstrahlen läßt. Jeder Blütenkelch verwandelt sich in ein Gefäß für die Tautropfen, die in den vielfarbigen Strahlenkränzen der Feldblumen erglänzen. Jesus geht lächelnd einher, und auch die Apostel, die schon wieder Mut gefaßt haben, folgen ihm lächelnd . . .

Sie kommen zum Scheideweg. Der Hirte Hannas sagt beschämt:

»Hier sollte ich euch verlassen . . . Kommst du nicht, um meine Schafe zu heilen? Auch ich habe Glauben; und bin ein Proselyt . . . Versprichst du mir, wenigstens nach dem Sabbat zu kommen?«

»O Hannas! Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass deine Schafe gesund sind, seit ich die Hand gegen Leschem-Dan erhoben

habe? Geh also auch du, dass Wunder zu schauen und den Herrn zu preisen.«

Ich glaube, dass die Frau Lots nach ihrer Verwandlung in eine Salzsäule nicht viel anders ausgesehen hat als dieser Hirte, der unbeweglich, ein wenig nach vorn gebeugt, mit erhobenem Haupt stehengeblieben ist, um Jesus anzuschauen, einen Arm halb ausgestreckt . . .

Er scheint eine Statue zu sein, und man könnte darunter schreiben:“Der Flehende.“ Doch schließlich kommt er zu sich und wirft sich nieder

mit den Worten: »O du Gesegneter! Du Guter! Du Heiliger! . . .

Aber ich habe dir viel Geld versprochen und habe nur wenige Drachmen

bei mir . . . Komm, komm nach dem Sabbat zu mir . . . «

»Ich werde kommen. Nicht wegen des Geldes, sondern um dich noch einmal zu segnen um deines einfachen Glaubens willen. Leb wohl, Hannas. Der Friede sei mit dir!« Sie trennen sich.

»Auch das ist keine Niederlage, Freunde, auch hier bin ich nicht verlacht, verjagt und verflucht worden . . . Auf, beeilt euch! Da ist eine Mutter, die uns seit Tagen erwartet . . . «

Der Marsch geht weiter und wird nur kurz unterbrochen, um Brot und Käse zu essen und an einer Quelle zu trinken . . .

Die Sonne steht bereits im Zenit, als die Wegkreuzung erscheint.

»Schau, dort hinten, der Anfang der Treppe von Tyrus«, sagt Matthäus, und er freut sich bei dem Gedanken, dass mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt ist. An den römischen Wegweiser gelehnt, steht eine Frau. Zu ihren Füßen, auf einer kleinen Matte, liegt ein Mädchen von etwa sieben

oder acht Jahren. Die Frau schaut nach allen Richtungen, zur Felsentreppe, zur Straße von Ptolemaïs und nach Westen, wo Jesus

herkommt, und immer wieder bückt sie sich, um das Mädchen zu liebkosen, um seinen Kopf mit einem Tuch vor der Sonne zu schützen und mit einem Schal die Hände und Füße zu bedecken . . .

»Da ist die Frau! Aber wo wird sie wohl in diesen Tagen geschlafen haben?« fragt Andreas.

»Wahrscheinlich in dem Hause in der Nähe der Kreuzung, denn es gibt in der Umgebung keine anderen Häuser«, antwortet Matthäus.

»Oder im Freien«, sagt Jakobus des Alphäus.

»Nein, wegen des Mädchens sicher nicht«, entgegnet sein Bruder.

»Oh, um die Gnade zu erlangen! . . . « sagt Johannes.

Jesus sagt nichts. Er lächelt nur. Alle in einer Reihe, er in der Mitte und drei Apostel rechts und drei links, nehmen sie die ganze Straße ein in dieser Stunde, in der die Fußgänger anhalten, um dort zu essen, wo sie die Mittagszeit angetroffen hat.

Jesus lächelt, hochgewachsen und schön, in der Mitte der Reihe. Es ist, als ob alles Licht der Sonne sich auf sein Antlitz ergossen hätte, dass so sehr leuchtet, dass er Strahlen auszusenden scheint.

Die Frau erhebt ihre Augen . . . Sie befinden sich jetzt in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern von ihr. Vielleicht wurde ihre Aufmerksamkeit durch den Blick, den Jesus auf sie gerichtet hatte,

geweckt. Sie schaut auf . . . und legt die Hände in einer unwillkürlichen Gebärde der Angst und des Jubels auf ihre Brust.

Jesus lächelt noch liebevoller, und dieses strahlende, unbeschreiblich gütige Lächeln Jesu muss der Frau so viel bedeuten, dass sie ihre

Angst vergißt und ebenfalls lächelt, als ob sie schon glücklich wäre. Dann beugt sie sich nieder, um ihr Kind aufzunehmen, und hält esmit ausgestreckten Armen vor sich hin, als ob sie es Gott darbringen

wollte. So geht sie vorwärts, und zu Jesu Füßen angelangt, kniet sie nieder und hebt das liegende Mädchen, dass entzückt auf das wunderschöne Antlitz Jesu blickt, so hoch empor als sie kann.

Die Frau sagt kein Wort, und was könnte sie tiefgründigeres sagen, als das, was ihr Gesicht schon ausdrückt? . . .

Jesus sagt nur ein Wort, ein kurzes, aber machtvolles, erfreuendes Wort, wie das „Fiat“ Gottes bei der Schöpfung der Welt: „Ja“, und legt dabei die Hand auf die kleine Brust des liegenden Mädchens.

Da trillert das Kind wie eine aus dem Käfig befreite Lerche: »Mutter!« setzt sich plötzlich auf, gleitet auf die Füße und umarmt seine Mutter, die vor Müdigkeit erschöpft wankt und beinahe zu Boden fällt; die

schwindende Angst, die plötzlich über sie gekommene Freude, und das durchgestandene Leid haben ihr Herz alle Kraft gekostet.

Jesus ist auch schon bereit, sie zu stützen. Er ist eine größere Hilfe als das Mädchen, dass durch sein Gewicht die mütterlichen Arme belastet. Jesus läßt sie niedersitzen und flößt ihr Kraft ein . . . Er

betrachtet sie, während stumme Tränen über das Antlitz der Frau rinnen, dass zugleich Müdigkeit und Seligkeit ausdrückt. Dann kommen die Worte: »Danke, mein Herr! Dank und Segen! Meine Hoffnung wurdegekrönt . . . Ich habe so sehnlichst auf dich gewartet . . . doch jetzt bin ich glücklich . . .«

Die Frau, die einer Ohnmacht nahe war, hat nun ihre Schwächeüberwunden und kniet wieder nieder, um Jesus zu verehren. Sie hat das geheilte Mädchen vor sich, dass Jesus nun liebkost, und berichtet:

»Seit zwei Jahren verzehrte sich ein Knochen in ihrem Rücken, so dass sie gelähmt war und langsam und unter großen Schmerzen dem Tode entgegenging. Wir haben sie zu Ärzten in Antiochia, Tyrus und Sidon gebracht, und auch nach Cäsarea und Paneas, und haben so viel ausgegeben für Ärzte und Medikamente, dass wir das Haus in der Stadt verkaufen und uns aufs Land zurückziehen mussten.

Wir mussten die Diener des Hauses entlassen und konnten nur die Landarbeiter behalten, und die Produkte, die wir früher selbst verbrauchten, haben wir verkauft . . . Doch alles war umsonst! Dann

habe ich dich gesehen und von dem erfahren, was du schon anderswo gewirkt hast. So habe ich auch für mich auf Gnade gehofft . . . und nun habe ich sie erhalten! Jetzt kehre ich nach Hause zurück, erleichtert und fröhlich . . . und werde meinem Gatten eine große Freude bereiten. Er hat mir die Hoffnung ins Herz gelegt, indem er mir von dem

berichtete, was durch deine Macht in Galiläa und Judäa geschehen war.

Oh, wenn wir nicht hätten fürchten müssen, dich nicht zu finden, wären wir mit dem Mädchen gekommen. Aber du bist immer unterwegs! . . . «

»Wandernd bin ich zu dir gekommen . . . Aber wo hast du dennin diesen Tagen Unterkunft gefunden?«

»In dem Haus dort . . . Und in der Nacht schaute eine gute Fraunach dem Kind; ich selbst blieb immer hier, aus Angst, du könntest während der Nacht vorübergehen.«

Jesus legt ihr die Hand aufs Haupt: »Du bist eine gute Mutter, und Gott liebt dich dafür. Du siehst ja, wie er dir in allem geholfen hat.«

»O ja! Ich habe es förmlich gespürt, als ich kam. Ich bin von zu Hause in die Stadt gegangen im Glauben, dich dort zu finden; mit wenig Geld bei mir und allein. Dann bin ich, dem Rat des Mannes

folgend, nach hier aufgebrochen. Ich habe jemanden nach Hausegeschickt, um es mitzuteilen, und bin gekommen . . . und nie hat mir etwas gefehlt, weder Brot, noch Unterkunft, noch Kraft.«

»Immer mit dieser Last auf den Armen? Konntest du keinen Wagenbenützen? . . . « fragt Jakobus des Alphäus mitleidig.

»Nein, dass Kind hätte zu sehr gelitten und wäre daran gestorben.

Auf den Armen ihrer Mutter ist meine Johanna zur Gnade gelangt.«

Jesus streichelt beiden liebkosend das Haar: »Geht nun und bleibt stets dem Herrn treu! Der Herr und mein Friede seien mit euch!«

Jesus geht auf der Straße nach Ptolemaïs weiter.

»Auch das ist keine Niederlage, Freunde, und auch hier wurde ich nicht verjagt, verlacht und verflucht.«

Auf der ebenen Straße ist bald die Hufschmiede bei der Brücke erreicht. Der römische Hufschmied ruht sich in der Sonne, den Rücken ans Haus gelehnt, aus. Er erkennt Jesus wieder und grüßt ihn. Jesus

erwidert den Gruß und fügt hinzu: »Läßt du mich eine Weile hier bleiben, damit ich mich etwas ausruhen und ein wenig Brot verzehren

kann?«

»Ja, Rabbi! Meine Frau wollte dich sehen; denn ich habe ihr auch das gesagt, was sie von deiner letzten Predigt nicht gehört hat. Esterist Jüdin. Aber ich, als Römer, habe es dir nicht zu sagen gewagt. Ich

hätte dich zu ihr geschickt . . . «

»Rufe sie also!«

Jesus setzt sich auf eine Bank an der Wand, während Jakobus des Zebedäus Brot und Käse austeilt . . .Es kommt eine etwa vierzig Jahre alte Frau heraus, verwirrt undschamrot.

»Der Friede sei mit dir, Ester! Du hast dich danach gesehnt, michkennenzulernen? Warum?«

»Wegen dem, was du gesagt hast . . . Die Rabbis verachten jene, die mit Römern verheiratet sind . . . Aber ich habe alle meine Kinder zum Tempel gebracht, und alle männlichen sind beschnitten. Ich

habe es Titus schon gesagt, als er um mich warb. Er ist gut! Er läßt mir mit den Kindern freie Hand. Gebräuche, Riten, alles ist hier hebräisch, aber die Rabbis und die Synagogenvorsteher verfluchen uns.

Du nicht! . . . Du hast Worte des Erbarmens für uns . . . Oh, weißt du, was das für uns bedeutet? Es ist, als ob man sich von den Armen des

Vaters und der Mutter, die uns verstoßen und verflucht hatten oder streng zu uns waren, umarmt fühlte . . . Es ist, als ob man seinen Fuß

in das verlassene Elternhaus setzen und sich dort nicht mehr fremd fühlen würde: Titus ist gut! An unseren Festen schließt er die Hufschmiede, trotz der großen Einbuße an Geld, und begleitet mich mit

den Kindern zum Tempel. Er sagt, dass man ohne Religion nicht leben kann und dass die seine die Familie und die Arbeit ist, während es früher die Soldatenpflicht war. Aber ich . . . Herr, ich wollte mit dir über etwas sprechen . . . Du hast gesagt, dass die Nachfolger des wahren Gottes etwas von ihrem heiligen Sauerteig nehmen und ihn mit gutem Mehl vermischen müssen, um dieses heiligmäßig gären zu lassen.Ich habe es so mit meinem Manne gemacht. Während der zwanzig Jahre, die wir zusammen leben, habe ich versucht, mit dem Sauerteig Israels an seiner Seele zu arbeiten, die edel ist. Aber er kann sich nicht entscheiden . . .

und er wird alt. Ich möchte ihn doch auch im

anderen Leben bei mir haben, vereint im Glauben, wie wir in der Liebe vereint sind. Ich bitte dich nicht um Schätze, Wohlstand oder Gesundheit, all das haben wir zur Genüge. Gott sei dafür gepriesen!

Aber um dies möchte ich dich bitten: bete für meinen Gatten, damit er zum wahren Gott gelangen möge . . . «

»Er wird zu ihm gelangen, sei dessen gewiss. Du bittest um etwas

Heiliges und wirst erhört werden. Du hast deine Pflichten als Frau Gott und dem Gatten gegenüber verstanden. Wären doch alle Ehefrauen so! Wahrlich, ich sage dir, dass viele dich nachahmen sollten. Bleibe so, und du wirst die Freude erleben, deinen Titus im Gebet und im Himmel an deiner Seite zu haben. Zeige mir deine Kinder!«

Die Frau ruft die zahlreiche Kinderschar herbei: »Jakob, Judas, Levi, Maria, Johannes, Hanna, Elisa und Markus.« Dann geht sie ins Haus und kommt zurück mit einem, dass noch kaum gehen kann,

und einem, dass höchstens drei Monate alt ist.

»Das ist Isaak, und diese Kleine heißt Judit«, sagt sie, die Vorstellung beendend. »Welch ein Überfluß«, sagt Jakobus des Zebedäus lachend. Judas ruft aus: »Sechs Knaben! und alle beschnitten und mit reinen

Namen. Brav ist sie!«

Die Frau ist glücklich und beginnt, Jakob, Judas und Levi zu loben, die bereits dem Vater helfen. »Alle Tage mit Ausnahme des Sabbat, dem Tage, an dem Titus allein arbeitet, um die schon vorbereiteten

Hufeisen anzubringen«, sagt sie. Sie lobt Maria und Hanna, »weil sie ihrer Mama eine große Hilfe sind.« Aber auch die vier Kleinsten läßt sie nicht ohne Lob. »Gut und ohne Launen sind sie. Titus hilft mir, sie zu erziehen; er, der ein disziplinierter Soldat gewesen ist«, sagt sie und wirft ihrem Mann einen liebevollen Blick zu, der sich, einen Arm in die Seite gestemmt, an einen Pfosten gelehnt und allem zugehört hat, was die Frau gesagt hat. Er hat ein Lächeln auf seinem freundlichen Gesicht und brüstet sich ein wenig, nachdem seine militärischen Verdienste erwähnt worden sind.

»Sehr gut! Die Disziplin der Waffen ist nicht verwerflich in den Augen Gottes, wenn die Soldatenpflicht mit Menschlichkeit erfüllt wird. Die Hauptsache ist, dass man jede Arbeit mit Rechtschaffenheit tut, um immer tugendhaft zu sein. Diese deine frühere Disziplin, die du auf deine Kinder überträgst, möge dir helfen, dich auf einen höheren

Dienst vorzubereiten: den Dienst Gottes. Jetzt müssen wir uns trennen. Ich werde es gerade noch schaffen, vor Sonnenuntergang in Achsib zu

sein. Der Friede sei mit dir, Ester, und mit deinem Hause. Mögt ihr alle in Bälde dem Herrn angehören.«

Die Mutter und die Kinder knien nieder, während Jesus die Hände zum Segen erhebt. Der Mann steht stramm, als wäre er wieder der römische Soldat vor seinem Kaiser, und grüßt nach römischer Art.

Dann gehen sie . . . Nach einigen Metern legt Jesus die Hand auf die Schulter des Jakobus: »Und noch einmal, dass vierte Mal an diesem Tage, mache ich dich darauf aufmerksam, dass dies keine Niederlage war; dass ich nicht verjagt, ausgelacht und verflucht worden bin . . . Was sagst du nun?«

»Daß ich ein Dummkopf bin, Herr!« sagt Jakobus des Zebedäus stürmisch.

»Nein, du bist wie alle übrigen immer noch zu menschlich eingestellt, ihr denkt wie Menschen, die stärker von ihrer Menschlichkeit als von ihrem Geiste beherrscht sind. Wenn der Geist einmal die

Oberhand gewonnen hat, erregt er sich nicht mehr bei jedem Windstoß, der nicht immer eine duftende Brise sein kann . . .

Er wird vielleicht zu leiden haben, aber er wird sich nicht mehr erregen. Ich bete immer, dass ihr zu dieser Vorherrschaft des Geistes gelangen mögt. Aber ihr müßt mich mit eurer Anstrengung unterstützen

. . . Nun gut! Die Reise ist beendet. Auf ihr habe ich gesät, was notwendig war, um euch den Weg zu bereiten für die Zeit, da ihr die Verkünder der

Frohen Botschaft sein werdet. Nun können wir die Sabbatruhe antreten in dem bewusstsein, unsere Pflicht getan zu haben. Wir werden auf die anderen warten und dann weitergehen . . . immer weiter . . . bis alles erfüllt ist . . . «