25.07.2016

DRITTE ANKÜNDIGUNG DES LEIDENS; DIE MUTTER DER SÖHNE DES ZEBEDÄUS

nach Maria Valtorta

Das Morgengrauen erhellt kaum den Himmel und macht das Gehen noch schwierig, als Jesus das stille Doko verläßt. gewiss hört niemand das Geräusch der Schritte, denn sie gehen vorsichtig, und die Leute schlafen noch in den verschlossenen Häusern. Keiner spricht, bis sie außerhalb der Stadt auf den Feldern sind, die langsam im spärlichen Licht in ihrem taufrischen Glanz erwachen.

Dann sagt Iskariot: «Den Weg haben wir umsonst gemacht. Man hat uns um die Nachtruhe gebracht. Es wäre besser gewesen, nicht hierher zu kommen.»

«Die wenigen, die wir angetroffen haben, haben uns nicht schlecht behandelt. Sie haben die Nacht geopfert, um uns anzuhören und um in die benachbarten Ortschaften zu gehen und die Kranken zu holen. Es war sogar sehr gut, dass wir gekommen sind. Denn die, die aus Krankheits- oder anderen Gründen nicht hoffen konnten, den Herrn in Jerusalem zu sehen, haben ihn hier gesehen und sind mit der Heilung oder mit anderen Gnaden getröstet worden. Die übrigen, dass wissen wir, sind schon nach Jerusalem aufgebrochen. Es ist ja Sitte bei uns, dass alle, die nur irgendwie können, bereits einige Tage vor dem Fest dort eintreffen», sagt Jakobus des Alphäus sanft; er ist immer sanft, ganz im Gegensatz zu Judas von Kerioth, der auch in guten Stunden heftig und herrisch ist.

«Eben weil auch wir nach Jerusalem gehen, war es unnötig, hierher zu kommen. Sie hätten uns dort gehört und gesehen ...»

«Die Frauen und die Kranken aber nicht...» unterbricht ihn Bartholomäus und kommt damit Jakobus zu Hilfe.

Judas tut, als hätte er nichts gehört, und fährt fort: «Wenigstens glaube ich, dass wir nach Jerusalem gehen, denn nach dem Gespräch mit dem Hirten bin ich nicht mehr sicher...»

«Und wohin sollen wir denn gehen, wenn nicht dorthin?» fragt Petrus.

«Bah! Ich weiß es nicht. Es ist alles so unwirklich, was wir seit einigen Monaten tun, alles so unvorhergesehen, so unvernünftig, sogar so ungerecht, dass ...»

«He du! Ich habe dich in Doko Milch trinken sehen, aber jetzt redest du wie ein Betrunkener! Wo siehst du denn die Ungerechtigkeiten?» fragt Jakobus des Zebedäus mit nichts Gutes verheißenden Augen. Und er fügt hinzu: «Genug des Tadels an dem Gerechten! Hast du verstanden? Es reicht. Du hast nicht das Recht, ihn zu tadeln. Niemand hat das Recht dazu, denn der Meister ist vollkommen, und wir... Keiner von uns ist es, und du am allerwenigsten.»

«Aber ja! Wenn du krank bist, dann laß dich heilen, aber ärgere uns nicht mit deinem Genörgel. Wenn du Launen hast, dort ist der Meister. Laß dich heilen und sei still!» sagt Thomas, der die Geduld verliert.

Jesus ist mit Judas des Alphäus und Johannes zurückgeblieben, um den Frauen behilflich zu sein, für die es ungewohnt und mühevoll ist, im Halbdunkel auf einem schlechten Weg zu gehen, der noch finsterer ist als die Felder, da er durch einen dichten Olivenhain führt. Jesus spricht eifrig mit den Frauen, ohne auf das zu achten, was vorne geschieht und was alle, die ihn umgeben, hören können. Denn wenn man die Worte auch nicht versteht, so merkt man doch am Tonfall, dass es keine sanften Worte sind, sondern dass es sich eher um einen Streit handelt. Die beiden Apostel Thaddäus und Johannes schauen sich an, sagen jedoch nichts. Sie schauen Jesus und Maria an. Aber Maria hat sich so in ihren Mantel gehüllt, dass man kaum ihr Gesicht sieht, und Jesus hört anscheinend nichts. Doch

als ihre Unterhaltung beendet ist – sie haben von Benjamin und seiner Zukunft gesprochen und von der Witwe Sara von Apheca, die sich in Kapharnaum niedergelassen hat und eine liebevolle Mutter geworden ist, nicht nur für das Kind aus Gischala, sondern auch für die kleinen Söhne der Frau aus Kapharnaum, die nach ihrer Wiederverheiratung die Kinder aus ihrer ersten Ehe nicht mehr liebte und dann starb, «so elendiglich ' dass man wahrhaft die Hand Gottes bei ihrem Tod erkennen konnte», wie Salome sagt – geht Jesus mit Judas Thaddäus schneller weiter, um die Apostel einzuholen, nachdem er noch gesagt hat: «Bleib nur, Johannes, wenn du willst. Ich gehe und antworte dem Unruhigen und stifte Frieden.»

Doch da der Weg nun offener und heller wird, eilt auch Johannes, der noch ein kleines Stück mit den Frauen gegangen ist, nach vorn und erreicht die anderen gerade in dem Augenblick, als Jesus sagt: «Sei also beruhigt, Judas. Wir werden nichts Unvernünftiges tun, wie wir es auch bisher nicht getan haben. Und auch jetzt tun wir nichts Unvorhersehbares. Denn zum jetzigen Zeitpunkt ist vorhersehbar, dass jeder wahre Israelit, der nicht durch Krankheit oder andere schwerwiegende Gründe verhindert ist, zum Tempel hinaufgeht. Und auch wir gehen zum Tempel.»

«Aber nicht alle. Wie ich gehört habe, wird Margziam nicht dabei sein. Ist er vielleicht krank? Warum kommt er nicht mit? Glaubst du etwa, dass ihn der Samariter ersetzen kann?» Der Ton des Judas ist unerträglich...

Petrus knurrt: «0 Klugheit, feßle meine Zunge, denn ich bin nur ein Mensch!» Und er preßt die Lippen fest aufeinander, um nichts mehr zu sagen. Seine großen Augen haben einen rührenden Ausdruck und lassen die Anstrengung erkennen, die es den Mann kostet, seine Verachtung und seine Betrübnis darüber zu verbergen, Judas so sprechen zu hören.

Die Gegenwart Jesu gebietet allen Schweigen. Er allein spricht und sagt mit wahrhaft göttlicher Ruhe: «Kommt etwas näher, damit die Frauen uns nicht hören. Seit einigen Tagen schon habe ich euch etwas zu sagen. Ich habe es euch in den Feldern bei Thersa versprochen. Aber ich wollte, dass ihr alle da seid und es hört. Ihr alle. Die Frauen nicht. Lassen wir sie in ihrem einfachen Frieden... Aus dem, was ich euch zu sagen habe, geht auch hervor, weshalb weder Margziam bei uns sein wird, noch deine Mutter, Judas von Kerioth, und auch nicht deine Töchter, Philippus, und die Jüngerinnen von Bethlehem in Galiläa mit dem Mädchen. Es gibt Dinge, die nicht alle ertragen können. Ich, der Meister, weiß wohl, was für meine Jünger gut ist und wieviel sie ertragen oder nicht ertragen können. Nicht einmal ihr seid stark genug, um die Prüfung ertragen zu können. Und es wäre eine Gnade für euch, wenn ihr nicht dabei sein müßtet. Aber ihr müßt ja mein Werk fortsetzen und wissen, wie schwach ihr seid, um in Zukunft barmherzig mit den Schwachen zu sein. Daher könnt ihr nicht ausgeschlossen werden von dieser schrecklichen Prüfung, die euch zeigen wird, was ihr seid, was ihr geblieben seid nach drei Jahren des Zusammenseins mit mir, und was ihr nach diesen drei Jahren bei mir geworden seid. Ihr seid zwölf. Und ihr seid fast gleichzeitig zu mir gekommen. Die wenigen Tage, die zwischen meiner Begegnung mit Jakobus, Johannes und Andreas und dem Tag liegen, an dem auch du, Judas von Kerioth, als einer der Unseren angenommen wurdest; die Tage, die vergangen sind, bis ihr, Jakobus, mein Bruder, und du, Matthäus, mir gefolgt seid, können einen so großen Unterschied in eurer Formation nicht rechtfertigen. Ihr wart alle, auch du, gelehrter Bartholomäus, auch ihr, meine Brüder, sehr unwissend, absolut unwissend, was euer Wissen über meine Lehre betrifft. Vielmehr erschwerte es euch eure Bildung in den Lehren des alten Israel, die besser war als die anderer euresgleichen, euch auf meine Art zu bilden. Und keiner von euch hat die ausreichende Wegstrecke zurückgelegt, die euch alle an ein einziges Ziel gebracht hätte. Einer hat es fast erreicht, andere haben sich ihm genähert, andere sind weiter entfernt, wieder andere sind noch weit zurück, und einige... ja, ich muss auch dies sagen, einige sind rückwärts anstatt vorwärts gegangen. Seht einander nicht so an. Sucht nicht zu wissen, wer von euch der Erste und wer der Letzte ist. Wer vielleicht glaubt, der Erste zu sein, und auch von den anderen dafür gehalten wird, hat noch viel zu lernen. Und wer glaubt, der Letzte zu sein, ist im Begriff, wie ein Stern am Himmel zu erstrahlen. Daher sage ich euch noch einmal: Urteilt nicht. Die Tatsachen werden für sich selbst sprechen. Jetzt versteht ihr noch nicht. Aber bald, sehr bald werdet ihr an meine Worte denken und sie verstehen.»

«Wann wird dies sein? Du hast versprochen, uns zu sagen und auch zu erklären, warum die Reinigung am Passahfest dieses Jahr anders sein wird. Doch du sagst es uns nie ...» beklagt sich Andreas.

«Gerade darüber wollte ich mit euch sprechen. Sowohl über das eine, wie über das andere, denn es ist dasselbe, und nur eines liegt beidem zugrunde. Wir gehen nun zum Passahfest nach Jerusalem. Und dort wird sich alles erfüllen, was durch die Propheten vom Menschensohn geschrieben steht. Wahrlich, genauso wie es die Propheten gesehen haben, wie es im Befehl an die Hebräer in Ägypten zum Ausdruck kam, wie es Moses in der Wüste geboten wurde, so wird das Lamm Gottes nun geopfert werden. Und bald wird sein Blut die Schwellen der Herzen benetzen, und der Engel Gottes wird vorüberziehen und die nicht schlagen, die voll Liebe das Blut des geopferten Lammes an sich tragen; des Lammes, dass nun wie die Schlange aus kostbarem Erz am Kreuz erhöht werden wird, zum Zeichen für die von der höllischen Schlange Verwundeten, zum Heil derer, die es mit Liebe betrachten. Der Menschensohn, euer Meister Jesus, wird nun bald in die Hände der Oberhäupter der Priesterschaft, der Schriftgelehrten und der Ältesten gegeben werden, die ihn zum Tod verurteilen und den Heiden überliefern werden, damit sie ihn verhöhnen. Und er wird Backenstreiche und Stockschläge erhalten und angespien und in verächtlichster Weise durch die Straßen geschleift werden, und die Heiden werden ihn, nachdem er gegeißelt und mit Dornen gekrönt wurde, wie einen Verbrecher zum Tod am Kreuz verurteilen, nachdem das in Jerusalem versammelte hebräische Volk seinen Tod dem Tod eines Räubers vorgezogen hat. Er wird also getötet werden. Aber wie es bei den Propheten heißt, wird er nach drei Tagen wieder auferstehen. Dies ist die Prüfung, die euch erwartet. Und bei dieser Prüfung wird sich zeigen, wie weit ihr auf dem Weg zur Vollkommenheit vorangeschritten seid. Wahrlich, ich sage euch ' euch allen, die ihr euch so vollkommen glaubt, dass ihr jene verachtet, die nicht aus Israel sind, und sogar viele aus unserem eigenen Volk... wahrlich, ich sage euch, ihr, der auserwählte Teil meiner Herde, werdet, sobald euch euer Hirte genommen ist, von Angst gejagt fliehen und euch zerstreuen, wie wenn die Wölfe, die mich von allen Seiten hetzen, auch hinter euch her wären. Doch ich sage euch, fürchtet euch nicht. Kein Haar wird euch gekrümmt werden. Ich werde genügen, um die wütenden Wölfe zu sättigen...»

Je länger Jesus spricht, desto mehr gleichen die Apostel Geschöpfen, die in einen Steinhagel geraten sind. Sie sinken immer tiefer in sich zusammen während der Rede Jesu, und als er schließlich sagt: «Und was ich euch sage, steht nun unmittelbar bevor. Es ist nicht wie bisher, da noch Zeit blieb bis zu meiner Stunde. Jetzt ist die Stunde gekommen. Ich gehe, um meinen Feinden überliefert und zum Heil aller geopfert zu werden. Und diese Knospe wird, nachdem sie geblüht hat, noch nicht alle ihre Blütenblätter verloren haben, da werde ich schon tot sein», da bedecken die einen ihr Gesicht mit den Händen, und die anderen stöhnen, als wären sie verwundet. Iskariot ist totenblaß, fast blau im Gesicht...

Der erste, der sich faßt, ist Thomas, und er erklärt: «Das wird dir nicht geschehen, denn wir werden dich verteidigen oder zusammen mit dir sterben. Damit werden wir beweisen, dass wir dir ähnlich geworden sind an Vollkommenheit und dass unsere Liebe zu dir vollkommen ist.»

Jesus sieht ihn wortlos an.

Bartholomäus sagt nach einem langen, nachdenklichen Schweigen: «Du hast gesagt, dass man dich überliefern wird... Aber wer ...? Wer kann dich den Händen deiner Feinde überliefern? Das steht nicht in den Prophezeiungen... Nein... Das steht nicht darin. Es wäre zu schrecklich, wenn einer deiner Freunde, einer deiner Jünger, einer deiner Anhänger, selbst der Geringste von allen, dich jenen überliefern würde, die dich hassen. Nein! Wer dich mit Liebe angehört hat, und sei es auch nur ein einziges Mal, der kann dieses Verbrechen nicht begehen. Es sind doch Menschen und keine Raubtiere oder Dämonen... Nein, mein Herr. Und nicht einmal die, die dich hassen, können es... Sie fürchten das Volk, und das ganze Volk wird sich um dich scharen!»

Jesus sieht auch Nathanael an und sagt nichts.

Petrus und der Zelote reden sehr hitzig miteinander. Jakobus des Zebedäus fährt seinen Bruder an, da er ihn so ruhig sieht, und Johannes antwortet: «Weil ich es schon seit drei Monaten weiß ...» und dabei rinnen Tränen über sein Gesicht.

Die Söhne des Alphäus reden mit Matthäus, der betrübt sein Haupt schüttelt.

Andreas wendet sich an Iskariot: «Du hast doch so viele Freunde im Tempel...»

«Johannes kennt Annas ebenfalls», entgegnet Judas und fügt hinzu: «Was kann man da machen? Was glaubst du, was ein Menschenwort vermag, wenn es so bestimmt ist?»

«Glaubst du das wirklich?» fragen Thomas und Andreas gleichzeitig.

«Nein. Ich glaube gar nichts. Es ist blinder Alarm. Bartholomäus hat recht. Das ganze Volk wird sich um Jesus scharen. Man sieht das doch schon an denen, denen wir begegnen. Es wird ein Triumph werden. Ihr werdet schon sehen, dass es so sein wird», sagt Judas von Kerioth.

«Aber warum sagt er dann ...» meint Andreas und deutet auf Jesus, der stehengeblieben ist, um auf die Frauen zu warten.

«Warum er es sagt? Weil er unruhig ist... und weil er uns prüfen will. Aber es wird nichts geschehen. Im übrigen will ich gehen...»

«O ja! Geh, vielleicht hörst du etwas!» bettelt Andreas.

Alle schweigen, denn Jesus folgt ihnen wieder, seine Mutter und Maria des Alphäus zur Seite.

Maria lächelt schwach, als ihre Schwägerin ihr Samen zeigt, die sie, ich weiß nicht wo, gefunden hat und die sie nach dem Passahfest in Nazareth säen will, gleich bei der Grotte, die Maria so sehr liebt: «Als du noch ein kleines Mädchen warst, hattest du, ich erinnere mich, immer diese Blumen in den Händchen. Du nanntest sie die Blumen deiner Ankunft. Tatsächlich war der Garten, als du geboren wurdest, voll von diesen Blüten; und an jenem Abend, als ganz Nazareth herbeieilte, um die Tochter des Joachim zu sehen, ließen die Tropfen vom Himmel und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die Büschel dieser Sterne wie Diamanten aufleuchten. Und da du „Stern“ genannt wurdest, sagten alle, die die vielen kleinen strahlenden Blütensterne sahen: „Die Blumen haben sich geschmückt, um die Blume des Joachim zu feiern, und die Sterne haben den Himmel verlassen, um zum Stern zu kommen.“ Und alle lächelten und waren glücklich und freuten sich über dieses Zeichen und über die Freude deines Vaters. Und Joseph, der Bruder meines Mannes, sagte: „Sterne und Tropfen. Es ist wirklich Maria!“ Wer hätte ihm damals gesagt, dass du einmal sein Stern werden würdest. Als er aus Jerusalem als dein erwählter Bräutigam zurückkehrte, wollte ganz Nazareth ihn feiern. Denn die ihm vom Himmel zuteil gewordene Ehre war groß, und groß die Ehre der Hochzeit mit dir, der Tochter des Joachim und der Anna. Alle wollten ihn feiern. Doch er lehnte sanft, aber entschieden jegliches Fest ab und überraschte alle damit; denn welcher Mann, dem eine ehrenvolle Hochzeit bevorsteht ist und der noch dazu ein solches Zeichen des Allerhöchsten erhalten hat, feiert nicht die Freude der Seele, des Fleisches und des Blutes? Aber er sagte nur: „Eine große Berufung braucht eine große Vorbereitung.“ Und mit großer Enthaltsamkeit selbst im Sprechen und Essen – denn jede andere Enthaltsamkeit hatte er schon immer geübt – verbrachte er betend und arbeitend die Zeit. Denn ich glaube, jeder Schlag seines Hammers und jeder Stoß seines Meißels wurde zum Gebet, wenn man Arbeit als Gebet ansehen kann. Sein Gesicht war wie verklärt. Ich ging öfters hin, um das Haus in Ordnung zu bringen und die Leintücher und andere von deiner Mutter hinterlassene Wäschestücke zu bleichen, die mit der Zeit gelb geworden waren, und ich betrachtete ihn, während er im Garten und im Haus arbeitete, um beide wieder so schön herzurichten, als ob sie nie vernachlässigt worden wären. Ich habe auch mit ihm gesprochen. Doch er war immer wie geistesabwesend. Er lächelte. Aber das Lächeln galt nicht mir oder anderen, sondern einem Gedanken, der nicht der Gedanke eines Mannes vor der Hochzeit war; denn dies ist ein Lächeln spitzbübischer, sinnlicher Freude... Er, Joseph, schien unsichtbaren Engeln Gottes zuzulächeln, mit ihnen zu reden und sich mit ihnen zu beraten... Oh, ich bin sicher, dass die Engel Joseph unterwiesen haben, wie er dich zu behandeln hätte. Denn danach, eine weitere Überraschung für Nazareth und beinahe ein Ärgernis für meinen Alphäus, schob er die Hochzeit so lange als möglich auf, und niemand verstand, warum er sich dann so plötzlich vor der festgesetzten Zeit entschloß. Auch als man erfuhr, dass du Mutter geworden warst, wie staunte da ganz Nazareth über seine selbstvergessene Freude...! Aber auch mein Jakobus gleicht ihm ein wenig. Und er gleicht ihm immer mehr. Nun, da ich ihn genau betrachte... Ich weiß nicht weshalb, aber seit wir nach Ephraim gegangen sind, scheint er mir ganz verändert zu sein. Ich erkenne in ihm... Joseph wieder. Schau ihn dir an, Maria, nun, da er sich wieder umdreht und uns ansieht. Hat er nicht denselben gesammelten Ausdruck, den Joseph, dein Mann, immer hatte? Und das Lächeln, von dem ich nicht weiß, ob ich es traurig oder abwesend nennen soll. Schau nur, er blickt in die Ferne, über uns hinweg, so wie es Joseph oft getan hat. Erinnerst du dich, wie Alphäus ihn geneckt hat, wie er zu ihm sagte: „Bruder, siehst du immer noch die Pyramiden?“ und wie Joseph wortlos das Haupt schüttelte, geduldig und geheimnisvoll in seine Gedanken vertieft. Er hat immer nur sehr wenig gesprochen. Aber nachdem du von Hebron zurückgekehrt bist! Da kam er nicht einmal mehr wie früher und wie alle anderen zum Brunnen. Er war immer bei dir oder bei der Arbeit. Außer am Sabbat, wenn er in die Synagoge ging, oder wenn er auswärts geschäftlich zu tun hatte, kann niemand sagen, Joseph in diesen Monaten unterwegs gesehen zu haben. Dann musstet ihr abreisen... Welche Angst haben wir ausgestanden, als wir nach dem Kindermord nichts über euch in Erfahrung bringen konnten! Alphäus ging bis nach Bethlehem. „Sie sind abgereist“, sagte man ihm. Aber wie konnte man den Leuten glauben, da man euch in dieser Stadt so sehr haßte, wo das unschuldige Blut noch alles rötete und die Ruinen noch rauchten, und wo man euch die Schuld für dieses Blutvergießen gab? Er ging nach Hebron, und dann in den Tempel, denn Zacharias war an der Reihe. Elisabeth konnte ihm nur Tränen geben, und Zacharias hatte nur Worte des Trostes. Beide hatten sie Angst um Johannes. Sie fürchteten neue Gewalttaten, hielten ihn deshalb versteckt und zitterten um ihn. Von euch wußten sie überhaupt nichts, und Zacharias sagte zu Alphäus: „Wenn sie tot sind, dann ist ihr Blut über mir, denn ich habe sie veranlaßt, in Bethlehem zu bleiben.“ Meine Maria! Mein Jesus, der so schön war am Passahfest nach seiner Geburt! Und man wußte nichts... so lange Zeit! Warum habt ihr uns niemals eine Nachricht zukommen lassen?»

«Weil es besser war zu schweigen. Dort, wo wir uns aufhielten, gab es viele, die Maria und Joseph hießen, und es war besser, für irgendein Ehepaar unter vielen gehalten zu werden», antwortet Maria ruhig, und sie seufzt: «Es waren trotz ihrer Traurigkeit noch glückliche Tage. Das Böse war noch so fern! Wenn wir als Menschen auch viel entbehren mussten, der Geist nährte sich von der Freude, dich zu besitzen, mein Sohn!»

«Auch jetzt hast du ihn, deinen Sohn, Maria. Joseph fehlt, dass ist wahr. Aber Jesus ist hier mit seiner ganzen Liebe als Erwachsener», bemerkt Maria des Alphäus.

Maria erhebt das Haupt, um ihren Sohn zu betrachten. Und großer Schmerz liegt in ihrem Blick, obgleich der Mund etwas lächelt. Doch sie sagt kein Wort.

Die Apostel sind stehengeblieben, um auf sie zu warten, und sind nun wieder alle beisammen; auch Jakobus und Johannes, die mit ihrer Mutter weit zurückgeblieben waren. Während sie sich vom langen Gehen ausruhen und einige etwas Brot essen, nähert sich die Mutter des Jakobus und des Johannes Jesus und wirft sich vor ihm nieder. Jesus hat sich nicht einmal gesetzt und hat es eilig, sich wieder auf den Weg zu machen.

Da sie ihn offensichtlich um etwas bitten will, fragt Jesus sie: «Was willst du, Frau? Sprich.»

«Gewähre mir eine Gnade, bevor du fortgehst, wie du sagst.»

«Und welche?»

«Sage, dass diese meine Söhne, die alles für dich verlassen haben, einer zu deiner Rechten und der andere zu deiner Linken sitzen sollen, wenn du in deiner Herrlichkeit in deinem Reich auf dem Thron sitzen wirst.»

Jesus schaut die Frau und dann die beiden Apostel an und sagt: «Ihr

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habt eure Mutter auf diesen Gedanken gebracht und also meine Verheißungen von gestern völlig falsch verstanden. Das Hundertfache dessen, was ihr verlassen habt, werdet ihr nicht in einem Reich auf dieser Welt erhalten. Seid nun auch ihr gierig und töricht geworden? Nein, es ist nicht eure Schuld. Die trübe Dämmerung der Finsternis breitet sich schon aus, und die verpestete Luft des nahen Jerusalem verdirbt und blendet euch... Ich sage euch, ihr wißt nicht, um was ihr mich bittet! Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?»

«Wir können es, Herr.»

«Wie könnt ihr dies sagen, da ihr nicht einmal verstanden habt, wie bitter mein Kelch sein wird? Es wird nicht nur die Bitterkeit sein, die ich euch gestern geschildert habe, meine Bitterkeit als Mann aller Schmerzen. Es werden auch Qualen sein, die ihr nicht begreifen könntet, selbst wenn ich sie euch beschreiben würde... Und doch, obwohl ihr noch zwei Kindern gleicht, die nicht wissen, worum sie bitten, so seid ihr doch auch zwei ehrliche und mich liebende Seelen und werdet von meinem Kelch trinken. Aber das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken, dass habe nicht ich zu vergeben, sondern es wird denen zuteil werden, denen mein Vater es vorbehalten hat.»

Während Jesus noch redet, empören sich die anderen Apostel über die Bitte der Söhne des Zebedäus und ihrer Mutter. Petrus sagt zu Johannes: «Auch du! Ich erkenne dich nicht wieder als den, der du immer gewesen bist!»

Und Iskariot sagt mit seinem hämischen Lächeln: «Wahrlich, die Ersten werden die Letzten sein! Welch eine Zeit der Erkenntnisse und der Überraschungen ...» Und er wird ganz grün vor Hohn.

«Sind wir etwa der Ehren wegen dem Meister gefolgt?» rügt Philippus.

Thomas wendet sich an Maria Salome anstatt an die beiden und sagt: «Warum beschämst du deine Söhne? Wenn sie nicht nachgedacht haben, dann hättest du es tun sollen, um dies zu vermeiden.»

«Das ist wahr. Unsere Mutter hätte nicht so gehandelt», sagt Thaddäus.

Bartholomäus spricht nicht, aber sein Gesicht drückt seine ganze Mißbilligung aus.

Simon der Zelote sagt, um die Entrüsteten zu beruhigen: «Alle können wir Fehler machen...»

Matthäus, Andreas und Jakobus des Alphäus schweigen und leiden sichtlich unter dem Vorfall, der auf die schöne Vollkommenheit des Johannes einen Schatten wirft.

Jesus gebietet Schweigen durch eine Geste und sagt: «Sollen nun aus einem Fehler viele werden? Ihr, die ihr entrüstet tadelt, merkt ihr denn nicht, dass ihr selbst sündigt? Laßt eure Brüder in Ruhe. Mein Tadel genügt. Ihre Beschämung ist offensichtlich, und ihre Reue demütig und aufrichtig. Ihr müßt euch gegenseitig lieben und helfen. Denn wahrlich, keiner von euch ist schon vollkommen. Ihr dürft die Welt und die Menschen in ihr nicht nachahmen. Ihr wißt, dass in der Welt die Herrscher der Völker sie unterjochen und die Großen in ihrem Namen Gewalt an ihnen verüben. Aber bei euch soll es nicht so sein. Ihr sollt nicht danach trachten, die Menschen oder eure Gefährten zu beherrschen. Wer unter euch der Größte sein will, soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, soll euer Knecht sein. So wie es euch euer Meister gezeigt hat. Bin ich etwa gekommen, um euch zu unterdrücken und zu beherrschen? Oder um mich bedienen zu lassen? Nein. Wahrlich, nein. Ich bin gekommen, um zu dienen. Und so, wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zur Rettung vieler hinzugeben, so sollt auch ihr handeln, wenn ihr sein wollt, wie ich bin und wo ich bin. Nun geht. Und bleibt in Frieden untereinander, wie ich es mit euch bin.»

Jesus sagt mir:

«Ich weise ausdrücklich darauf hin: ihr werdet von meinem Kelch trinken.“ In den Übersetzungen steht: „meinen Kelch“. Ich habe gesagt: „von meinem“, nicht „meinen“. Kein Mensch hätte meinen Kelch trinken können. Nur ich, der Erlöser, musste meinen ganzen Kelch austrinken. gewiss, meinen Jüngern, denen, die mich nachahmen und lieben, ist es gewährt, von dem Kelch zu trinken, den ich getrunken habe, den Tropfen, den Schluck oder die Schlücke, den die Auserwählung durch Gott ihnen zu trinken gewährt. Aber niemals wird irgend jemand den ganzen Kelch trinken, wie ich ihn getrunken habe. Daher ist es richtig zu sagen: „von meinem Kelch“ und nicht „meinen Kelch“.»