17.03.2016

FORTSETZUNG VON „WIR SIND NACHKOMMEN ABRAHAMS“

nach Maria Valtorta

«Ah! Jetzt sehen wir klar, dass von deinen Lippen der Dämon redet, der dich in Besitz genommen hat! Du selbst hast es gesagt: „Er spricht als Lügner.“ Was du gesagt hast, sind Worte der Lüge, und daher die Worte eines Dämons. Abraham ist tot. Gestorben sind auch die Propheten, und du sagst, dass wer dein Wort bewahrt, in Ewigkeit den Tod nicht schauen wird. Du selbst wirst also auch nicht sterben?»

«Ich werde nur als Mensch sterben, um zur Zeit der Gnade wieder aufzuerstehen, aber als das Wort werde ich nicht sterben. Das Wort ist Leben und stirbt nicht, und wer das Wort in sich aufnimmt, der wird das Leben in sich haben und in Ewigkeit nicht sterben, sondern auferstehen in Gott, weil ich ihn auferwecken werde.»

«Gotteslästerer! Verrückter! Dämon! Bist du mehr als unser Vater Abraham, der gestorben ist, und mehr als die Propheten? Was bildest du dir ein zu sein?»

«Der Anfang, der zu euch spricht.»

Es entsteht ein Höllenlärm, in dessen Verlauf der Levit Zacharias mit Hilfe der Söhne des Alphäus und einiger anderer, die vielleicht gar nicht recht wissen, was sie tun, Jesus unauffällig in eine Ecke des Vorhofs schiebt.

Als Jesus die Mauer im Rücken und seine Getreuesten als Schutzwall vor sich hat und auch die Aufregung im Hof sich etwas legt, sagt er mit seiner eindrucksvollen und schönen, auch in den Augenblicken größter Verwirrung immer ruhigen Stimme: «Wenn ich mich selbst ehrte, wäre meine Ehre nichts. Jeder kann von sich sagen, was er will. Aber wer mich ehrt, ist mein Vater, von dem ihr sagt, dass er euer Gott sei, obwohl er so wenig euer ist, dass ihr ihn nicht kennt, nie gekannt habt und auch nicht durch mich kennenlernen wollt, der ich zu euch von ihm spreche, da ich ihn kenne. Wenn ich sagen würde, dass ich ihn nicht kenne, um euren Haß gegen mich zu besänftigen, wäre ich ein Lügner wie ihr, die ihr behauptet, ihn zu kennen. Ich weiß, dass ich unter keinen Umständen lügen darf. Der Menschensohn darf nicht lügen, auch wenn die Wahrheit die Ursache seines Todes sein sollte. Denn wenn der Menschensohn lügen würde, wäre er wahrlich nicht mehr der Sohn der Wahrheit, und die Wahrheit würde ihn von sich stoßen. Ich kenne Gott, sowohl als Gott als auch als Mensch. Und als Gott und als Mensch bewahre ich sein Wort und befolge es. Israel, besinne dich: Hier erfüllt sich die Verheißung. In mir erfüllt sie sich. Erkenne mich als das, was ich bin. Abraham, euer Vater, sehnte sich danach, meinen Tag zu schauen. Er sah ihn mit prophetischem Blick durch die Gnade Gottes, und er jubelte darüber. Und ihr, die ihr ihn tatsächlich seht...»

«Schweige! Du bist noch keine fünfzig Jahre alt, und du willst sagen, dass Abraham dich gesehen hat und dass du ihn gesehen hast?» Und ihr höhnisches Gelächter verbreitet sich wie eine Giftwelle oder wie ätzende Säure.

«Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham geboren wurde, bin ich.»

«„Bin ich.“ Nur Gott kann das sagen, da er ewig ist. Du nicht, du Gotteslästerer! „Bin ich“! Anathema! Bist du etwa Gott? Du, der du so sprichst?» schreit ihn einer an, der eine einflußreiche Persönlichkeit sein muss; denn obwohl er erst gerade erschienen ist, ist er schon. nahe bei Jesus, da alle bei seinem Kommen fast mit Schrecken zur Seite treten.

«Du sagst es», entgegnet Jesus mit donnernder Stimme.

Alles wird zur Waffe in der Hand dessen, der von Haß erfüllt ist. Während der letzte, der den Meister befragt hat, alle Schattierungen von Empörung und Entsetzen in seinem Mienenspiel zur Schau stellt, sich die Kopfbedeckung vom Haupt reißt, Haupt- und Barthaar rauft und die Schnallen öffnet, die sein Gewand am Hals zusammenhalten, als sei er nahe daran, vor Abscheu die Sinne zu verlieren, werfen die wütenden Menschen Erde und Steine – die die Verkäufer von Tauben und anderen Tieren benützen, um die Seile ihrer Einfriedungen straff zu halten, und die Wechsler... in vorausschauender Sorge um ihre Geldschreine, die sie mehr hüten als ihr Leben – auf den Meister. Sie fallen natürlich auf die Menge selbst, da Jesus zu weit hinten im Säulengang ist, um getroffen zu werden, und die Leute fluchen und jammern.

Zacharias, der Levit, gibt nun Jesus einen gewaltigen Stoß, dass einzige Mittel, ihn zu einem niedrigen Türchen zu bringen, dass in der Mauer des Säulenganges versteckt und nur angelehnt ist. Er drängt ihn zusammen mit den beiden Söhnen des Alphäus, Johannes, Manaen und Thomas hindurch. Die anderen bleiben draußen im Tumult, dessen Geräusch stark abgeschwächt in den unterirdischen Gang in den mächtigen Steinmauern dringt, deren architektonische Bezeichnung mir nicht bekannt ist. Die Steine sind so aneinandergefügt, dass jeweils auf einen großen Stein ein kleiner folgt, und darüber auf den kleinen Steinen ein großer liegt und umgekehrt. Ich weiß nicht, ob ich das richtig erkläre. Dunkel, mächtig und nur grob behauen, sind sie im Halbdunkel kaum zu erkennen. Durch in regelmäßigen Abständen in der Decke angebrachte schmale Spalte dringt Luft und etwas Licht herein, da es sonst völlig dunkel wäre. Es ist ein schmaler Gang und ich weiß nicht, wozu er dient, aber ich habe den Eindruck, dass dieser Gang um den ganzen Vorhof herum verläuft. Vielleicht hat man ihn zum Schutz gebaut, als Zuflucht, oder um die Mauern doppelt und dadurch widerstandsfähiger zu machen, diese Mauern der Vorhöfe, die ebenso viele Ringmauern um den wahren und eigentlichen Tempel, um das Allerheiligste, darstellen. Ich weiß nicht. Ich sage, was ich sehe. Es riecht nach Feuchtigkeit, nach dieser Feuchtigkeit, von der man nicht sagen kann, ob sie kalt oder warm ist, wie in manchen Kellern.

«Was machen wir hier?» fragt Thomas.

«Schweige! Zacharias hat mir gesagt, dass er kommen wird und dass wir still sein sollen und hierbleiben», antwortet Thaddäus.

«Aber... kann man ihm trauen?» «Ich hoffe es.»

«Fürchtet euch nicht. Der Mann ist gut», versichert Jesus.

Draußen entfernt sich der Tumult. Einige Zeit vergeht. Dann dumpfe Schritte und ein kleines zitterndes Licht, dass sich aus der finsteren Tiefe nähert. «Bist du dort, Meister?» fragt eine Stimme, die gehört werden will, aber auch fürchtet, gehört zu werden.

«Ja, Zacharias.»

«Gott sei Lob und Dank! Habe ich auf mich warten lassen? Ich musste warten, bis alle zu den anderen Ausgängen gelaufen waren. Komm, Meister... Deine Apostel... Es ist mir gelungen, Simon zu sagen, dass sie alle nach Bethesda gehen und dort warten sollen. Hier geht es hinunter... Wenig Licht, aber der Weg ist sicher. Er wird nicht immer zu guten Zwecken gebraucht. Aber diesmal wohl... und das heiligt ihn ...»

Sie steigen immer tiefer hinunter in der Dunkelheit, die nur von dem flackernden Flämmchen erhellt wird, bis weit vorne ein anderer heller Schein sichtbar wird... und dahinter das Leuchten von fernem Grün... Ein Gitter, fast eine Tür, so massiv und dick ist es, befindet sich am Ende des Tunnels.

«Meister, ich habe dich gerettet. Du kannst nun gehen. Aber höre mich an. Komm einige Zeit nicht hierher. Ich könnte dir nicht immer dienen, ohne bemerkt zu werden. Und... vergiß; vergeßt alle diesen Weg und mich, der ich ihn euch gewiesen habe», sagt Zacharias, während er einen Mechanismus in Bewegung setzt und das schwere Gitter so weit öffnet, dass ein Mensch hinausschlüpfen kann. Dann wiederholt er: «Vergeßt alles, mit Rücksicht auf mich.»

«Fürchte nichts. Keiner von uns wird darüber sprechen, und Gott sei mit dir für deine Liebe.» Jesus hebt die Hand und legt sie auf das geneigte Haupt des Jünglings.

Er tritt ins Freie, gefolgt von seinen Vettern und den übrigen. Sie befinden sich gegenüber dem Ölberg, auf einem von Brombeersträuchern umwucherten kleinen Platz, der kaum alle fassen kann. Ein Ziegenpfad führt zwischen dem Dornengestrüpp hinunter zum Bach.

«Gehen wir. Wir werden wieder zum Schaftor hinaufsteigen, und ich gehe mit den Brüdern zu Joseph, während ihr nach Bethesda geht, die anderen holt und zu mir kommt. Morgen abend werden wir uns nach Sonnenuntergang nach Nob begeben.»