18.04.2016

ICH BIN DER GUTE HIRTE

nach Maria Valtorta

Jesus, der die Stadt durch das Herodestor betreten hat, durchquert sie nun in Richtung des Tyropoeon und des Vorortes Ophel.

«Gehen wir zum Tempel?» fragt Iskariot.

«Ja.»

«Gib acht auf das, was du tust!» mahnen mehrere.

«Ich werde mich nur zum Gebet dort aufhalten.»

«Sie werden dich festnehmen.»

«Nein. Wir werden den Tempel durch die nördlichen Tore betreten und ihn durch die südlichen verlassen, und sie werden keine Zeit haben, sich zu organisieren, um mir zu schaden. Es sei denn, einer wäre beständig hinter mir her und würde mich anzeigen.»

Niemand erwidert etwas, und Jesus geht dem Tempel zu, der nun schon erscheint auf seinem Hügel, fast gespenstisch im grünlichgelben Licht des düsteren Wintermorgens, an dem die blasse aufgehende Sonne sich bemüht, die schweren Wolkenmassen zu durchdringen und ihren Platz zu behaupten. Vergebliche Mühe! Der heitere Glanz der Morgenröte beschränkt sich auf einen blassen Widerschein von unwirklichem Gelb, der auch nicht gleichmäßig, sondern mit grauen und grünlichen Tönen vermischt ist. In diesem Licht erscheinen Marmor und Gold des Tempels farblos und traurig, ich möchte fast sagen unheimlich, wie Ruinen über den Trümmern einer toten Stadt.

Jesus betrachtet ihn aufmerksam beim Aufstieg zur Umfassungsmauer. Er betrachtet auch die Gesichter der morgendlichen Wanderer. Zum größten Teil niedriges Volk: Gärtner, Hirten mit Schlachtvieh, Knechte oder Hausfrauen, die sich zum Markt begeben. Alle gehen sie schweigsam ihres Weges, in Mäntel gehüllt und etwas gebeugt, um sich gegen den Morgenwind zu schützen. Auch die Gesichter scheinen blasser zu sein, als sie es gewöhnlich bei den Menschen dieser Rasse sind. Es ist das eigenartige Licht, dass sie so grünlich oder beinahe perlgrau erscheinen läßt, und die farbigen Mäntel mit ihrem Grün, ihrem leuchtenden Violett und ihrem grellen Gelb tragen sicher nicht dazu bei, den Gesichtern eine gesunde Hautfarbe zu verleihen. Der eine oder andere grüßt den Meister, bleibt jedoch nicht stehen. Die Stunde ist nicht günstig. Bettler sind noch keine da, die ihre jammernden Rufe an den Straßenkreuzungen und unter den großen Bögen, die sich hier und da über die Straßen wölben, ertönen lassen. Die Stunde und die Jahreszeit tragen das Ihrige dazu bei, dass Jesus ohne Hindernisse vorwärtskommt.

Als sie bei der Umfassungsmauer des Tempels ankommen, gehen sie in den Vorhof der Israeliten. Sie beten, während Trompetenstöße – ich würde sagen, silberne Trompeten der Klangfarbe nach – über den ganzen Hügel erschallen und ein sicher wichtiges Ereignis ankündigen, und Weihrauchduft jeden anderen weniger angenehmen Geruch vertreibt, der sich hier auf dem Moriah bemerkbar machen könnte: also der ständige, fast schon natürliche Geruch der geschlachteten Tiere und ihres vom Feuer verzehrten Fleisches, des verbrannten Mehls und des brennenden Öls, der dort oben wegen der immerwährenden Brandopfer dauernd mehr oder weniger stark die Luft erfüllt.

Sie entfernen sich in eine andere Richtung, und allmählich werden die ersten Besucher des Tempels, einige, die zum Tempel gehören, und die Wechsler und Händler, die ihre Bänke und Einfriedungen aufstellen, auf sie aufmerksam. Aber es sind noch zu wenige, und die Überraschung ist so groß, dass sie nicht wissen, was sie tun sollen. Sie wechseln einige erstaunte Worte: «Er ist wieder zurückgekehrt!»

«Er ist also nicht nach Galiläa gegangen, wie es geheißen hat.»

«Aber wo war er denn versteckt, dass man ihn nirgends gefunden hat?»

«Er will sie offensichtlich herausfordern.»

«Wie töricht!»

«Wie heilig!» usw., je nach der Gesinnung der einzelnen.

Jesus ist schon außerhalb des Tempels und steigt den Weg nach Ophel hinunter, als er an der Kreuzung mit Wegen, die zum Sion hinaufführen, dem Blindgeborenen begegnet, den er vor kurzem geheilt hat. Er ist mit Körben voll duftender Äpfel beladen, geht frohen Mutes dahin und scherzt mit gleichaltrigen Jünglingen, die ebenfalls schwer beladen sind und in die entgegensetzte Richtung gehen.

Vielleicht würde der Jüngling nichtsahnend vorübergehen, da er ja weder das Antlitz Jesu noch das der Apostel kennt. Doch Jesus entgeht das Gesicht des wunderbar Geheilten nicht, und er ruft ihn. Sidonias, genannt Bartholmai, dreht sich um und schaut den trotz seiner einfachen Kleidung majestätischen Mann, der ihn beim Namen ruft und dabei auf ein kleines Gäßchen zugeht, fragend an.

«Komm hierher!» gebietet Jesus.

Der Jüngling nähert sich, ohne seine Bürde abzustellen. Er blickt Jesus an, und in der Meinung, dieser wolle seine Äpfel erwerben, sagt er: «Mein Herr hat diese schon verkauft, aber er hat noch andere, wenn du welche willst. Sie sind schön und gut. Gestern sind sie uns von den Obstgärten der Saronebene gebracht worden. Und wenn du viele kaufst, bekommst du einen großen Preisnachlaß, denn...»

Jesus lächelt, erhebt seine Rechte, um der Gesprächigkeit des Jünglings Einhalt zu gebieten, und sagt: «Ich habe dich nicht gerufen, um Apfel zu kaufen, sondern um mich mit dir zu freuen und den Höchsten zu preisen, der dir Gnade erwiesen hat.»

«Ja! Ich tue es immerzu, sowohl für das Licht, dass ich sehe, als auch für die Arbeit, die ich verrichten kann und durch die ich meinem Vater und meiner Mutter endlich helfen kann. Ich habe einen guten Herrn gefunden. Er ist kein Jude, aber er ist gut. Die Hebräer wollten mich nicht haben, weil... sie wissen, dass ich aus der Synagoge ausgestoßen worden bin», sagt der Jüngling, während er seine Körbe auf den Boden stellt.

«Sie haben dich ausgestoßen? Warum? Was hast du denn getan?»

«Nichts. Ich versichere es dir. Gott hat es getan. Er hat mich am Sabbat diesen Menschen finden lassen, von dem man sagt, dass er der Messias sei; und er hat mich geheilt, wie du siehst, und deshalb haben sie mich ausgestoßen.»

«Dann hat dir also der, der dich geheilt hat, nicht ausschließlich einen guten Dienst erwiesen», sagt Jesus prüfend.

«Sage das nicht! Es gleicht einer Gotteslästerung! Er hat mir vor allem gezeigt, dass Gott mich liebt, und außerdem hat er mir das Augenlicht geschenkt... Du weißt nicht, was das bedeutet, weil du immer gesehen hast. Aber einer, der noch nie gesehen hat! Oh! Es ist... alles hat man, wenn man das Augenlicht besitzt. Ich sage dir, als ich zum ersten Mal gesehen habe, dort beim Siloe-Teich, da habe ich gelacht und geweint, aber aus Freude. Verstehst du? Ich habe geweint, wie ich nie zuvor in meinem Unglück geweint habe, denn ich habe verstanden, wie wundervoll das Augenlicht und wie gut der Allerhöchste ist. Nun kann ich mir den Lebensunterhalt verdienen durch ehrenwerte Arbeit. Und außerdem – das ist mein größter Wunsch nach dem Wunder – hoffe ich, dem Menschen zu begegnen, der der Messias genannt wird, und dem Jünger, der mich...»

«Und was würdest du dann tun?»

«Ich würde ihn lobpreisen, ihn und seinen Jünger. Und ich würde den Meister, der wirklich von Gott kommen muss, bitten, mich als seinen Diener anzunehmen.»

«Wie? Seinetwegen bist du verflucht worden, nur mit Mühe findest du Arbeit, du könntest auch noch schwerer bestraft werden, und dennoch willst du ihm dienen? Weißt du nicht, dass alle verfolgt werden, die dem nachfolgen, der dich geheilt hat?»

«O ja, ich weiß es. Aber er ist der Sohn Gottes, so sagen wir unter uns. Obgleich die dort oben (er weist auf den Tempel) nicht wollen, dass man es sagt. Verdient er es nicht, dass man alles verläßt, um ihm zu dienen?»

«Glaubst du also an den Sohn Gottes und an seine Gegenwart in Palästina?»

«Ich glaube an ihn. Aber ich möchte ihn kennenlernen, um nicht nur in Gedanken an ihn zu glauben, sondern mit meinem ganzen Wesen. Wenn du ihn kennst und weißt, wo er ist, sage es mir, damit ich zu ihm gehen, ihn sehen, an ihn glauben, vollkommen glauben, und ihm dienen kann.»

«Du hast ihn schon gesehen und brauchst nicht zu ihm zu gehen. Der, den du vor dir siehst und der zu dir spricht, ist der Sohn Gottes.»

Ich könnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber mir scheint, als sei Jesus bei diesen Worten für einen Augenblick fast verklärt gewesen und überaus schön, ja strahlend geworden. Ich würde sagen, um seinen demütigen Glauben zu belohnen und ihn in seinem Glauben zu bestärken, hat er dem Jüngling für die Dauer eines Blitzes die künftige Schönheit enthüllt, die er nach der Auferstehung besitzen und im Himmel bewahren wird, die Schönheit seiner verherrlichten menschlichen Natur, des verklärten Leibes, verbunden mit der unaussprechlichen Schönheit der ihm eigenen Vollkommenheit. Es war ein Augenblick, ein Blitz. Aber der halbdunkle Winkel unter dem Gewölbe des Gäßchens, in den sie sich zurückgezogen haben, um miteinander zu reden, wurde erhellt von einem eigenartigen, wunderschönen Licht, dass von Jesus ausstrahlte.

Dann ist alles wieder wie zuvor. Nur der Jüngling liegt nun am Boden, dass Gesicht im Staub und betet Jesus an mit den Worten: «Mein Herr und mein Gott, ich glaube!»

«Erhebe dich. Ich bin in die Welt gekommen, um das Licht und die Erkenntnis Gottes zu bringen, um die Menschen zu prüfen und sie zu richten. Diese meine Zeit ist eine Zeit der Auslese, der Wahl und der Auswahl. Ich bin gekommen, damit alle, die reinen Herzens sind, die Aufrichtigen, die Demütigen und die Sanftmütigen, die Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden lieben, damit alle, die weinen, und alle, die den verschiedenen Schätzen ihren wahren Wert beizumessen verstehen und die geistigen allen materiellen Reichtümern vorziehen, finden wonach ihr Geist sich sehnt; damit alle sehen, die blind waren, weil die Menschen dicke Mauern vor ihren Augen errichtet haben, um das Licht, d.h. die Erkenntnis Gottes, nicht zu ihnen dringen zu lassen; damit alle, die zu sehen glauben, blind werden ...»

«Dann haßest du einen Großteil der Menschen und bist nicht so gut, wie du behauptest. Wenn du es wärest, würdest du dich darum bemühen, dass alle sehen und wer sehend ist, nicht blind werde», unterbrechen. ihn einige Pharisäer, die von der Hauptstraße gekommen sind und sich mit anderen vorsichtig von hinten der Gruppe der Apostel genähert haben.

Jesus wendet sich um und schaut sie an. Jetzt ist er ganz gewiss nicht mehr verklärt in sanfter Schönheit, sondern ein gar strenger Jesus, der seine Saphirblicke auf seine Verfolger richtet. Seine Stimme hat nicht mehr den goldenen Ton der Freude, sondern hart und schneidend wie Bronze klingt seine Antwort: «Nicht ich will, dass die, die sie gegenwärtig bekämpfen, die Wahrheit nicht sehen. Sie selbst schließen die Augen, um nicht zu sehen. Und sie sind blind aus eigenem freiem Willen. Denn der Vater hat mich gesandt, damit die Scheidung stattfinde und sich zeige, wer zu den Kindern des Lichtes und wer zu den Kindern der Finsternis gehört, wer sehen will und wer blind sein will.»

«Sind vielleicht auch wir unter diesen Blinden?»

«Wenn ihr unter ihnen wäret und versuchen würdet zu sehen, wäret ihr nicht schuldig. Aber ihr sündigt, weil ihr sagt: „Wir sehen“, und dann wollt ihr doch nicht sehen. Eure Sünde bleibt bestehen, weil ihr in eurer Blindheit nicht zu sehen sucht.»

«Was müssen wir denn sehen?»

«Den Weg, die Wahrheit und das Leben. Ein Blindgeborener, wie dieser es war, kann mit seinem Stab immer die Tür seines Hauses finden und sich darin bewegen, weil er es kennt. Wenn man ihn aber an einen anderen Ort führen würde, könnte er nicht durch die Tür das neue Haus betreten, weil er nicht wüßte, wo er sich befindet, und er würde gegen die Mauer stoßen.

Die Zeit des neuen Gesetzes ist gekommen. Alles wird erneuert, und eine neue Welt, ein neues Volk und ein neues Reich erstehen. Die Menschen aus der vergangenen Zeit kennen all dies nicht. Sie kennen nur ihre Zeit. Sie sind wie Blinde, die man in eine neue Stadt führt, in der sich der Palast des Vaters befindet, dessen Standort sie aber nicht kennen.

Ich bin gekommen, um sie zu führen und hineinzuführen, und damit sie sehen. Aber ich selbst bin die Pforte, durch die man in das Vaterhaus, in das Reich Gottes, zum Licht, zum Weg, zur Wahrheit und zum Leben gelangt. Ich bin auch der, der gekommen ist, die führerlose Herde zu sammeln und sie in einen einzigen Schafstall zu führen: in den des Vaters. Ich bin das Tor des Schafstalles, denn ich bin zugleich das Tor und der Hirte. Ich gehe ein und aus, wie und wann ich will. Ich betrete ihn frei und durch das Tor, denn ich bin der wahre Hirte.

Wenn jemand kommt und den Schafen Gottes andere Weisungen gibt oder versucht sie irrezuleiten, sie auf andere Wege und an andere Orte zu führen, dann ist er kein guter, sondern ein götzendienerischer Hirte. Und wenn er den Schafstall nicht durch das Tor betritt, sondern versucht, anderswo einzudringen und über den Zaun zeigt, so ist er kein Hirte, sondern ein Dieb und ein Mörder, der dort erscheint in der Absicht zu rauben und auch zu morden, damit die geraubten Schafe durch ihr Schreien nicht die Aufmerksamkeit der Wächter und des Hirten auf sich lenken. Auch bei den Schafen der Herde Israels versuchen sich falsche Hirten einzuschleichen, um sie von den Weiden fortzuführen, fern vom wahren Hirten. Und sie sind auch bereit, sie mit Gewalt aus der Herde zu holen und sie sogar auf mannigfache Weise zu töten und zu schlagen, damit sie den Hirten nicht auf die Tücke der falschen Hirten aufmerksam machen und nicht zu Gott um Schutz vor ihrem und ihres Hirten Feind rufen.

Ich bin der Gute Hirte und meine Schafe kennen mich, und es kennen mich jene, die in Ewigkeit die Wächter des wahren Schafstalles sind. Sie haben mich kennengelernt und meinen Namen verkündet, damit er in Israel bekannt werde. Sie haben über mich berichtet und meine Wege bereitet; und als meine Stimme erklungen ist, da hat der letzte von ihnen mir das Tor geöffnet. Er hat zu der Herde, die in Erwartung des wahren Hirten um seinen Stab versammelt war, gesagt: „Seht, dass ist der, von dem ich gesagt habe, dass er nach mir kommen würde. Er ging mir voraus, denn er war schon vor mir, und ich kannte ihn nicht. Aber damit ihr bereit seid, ihn aufzunehmen, bin ich gekommen, um mit Wasser zu taufen, auf dass Israel ihn erkenne.“ Und die guten Schafe haben meine Stimme gehört, und als ich sie beim Namen rief, sind sie zu mir geeilt. Ich habe sie mit mir geführt wie ein guter Hirte, den die Schafe kennen und an der Stimme erkennen und dem sie folgen, wohin er auch immer geht. Wenn er sie alle vereinigt hat, geht er vor ihnen her, und sie folgen ihm, denn sie lieben die Stimme des Hirten. Einem Fremdling dagegen folgen sie nicht, sie fliehen ihn vielmehr, da sie ihn nicht kennen und ihn fürchten. Auch ich wandle vor den Schafen, um ihnen den Weg zu weisen, um als erster den Gefahren zu begegnen und die Herde zu warnen, denn ich will sie sicher in mein Reich führen.»

«Ist Israel etwa nicht mehr das Reich Gottes?»

«Israel ist der Ort, von dem sich das Volk Gottes zum wahren Jerusalern und zum Reich Gottes erheben muss.»

«Und der versprochene Messias? Dieser Messias, der du zu sein behauptest? Soll er denn Israel nicht zum Sieg führen und es zum glorreichen Herrn über die ganze Welt machen, der seinem Szepter alle Völker unterwirft und sich rächt, gewaltig rächt an all denen, die es unterjocht haben, seit es ein Volk ist? Ist also nichts wahr von all dem? Leugnest du die Propheten? Du nennst unsere Rabbis töricht? Du...»

«Das Reich des Messias ist nicht von dieser Welt. Es ist das Reich Gottes, dass auf Liebe gegründet ist, und nichts anderes. Der Messias ist kein König der Völker und Heere, sondern ein König der Seelen. Aus dem auserwählten Volk wird der Messias hervorgehen, aus königlichem Geschlecht, und vor allem aus Gott, der ihn gezeugt und gesandt hat. Im Volk Israel hat die Gründung des Gottesreiches begonnen, die Verkündigung des Gesetzes der Liebe und die Verkündigung der Frohen Botschaft, von der der Prophet spricht. Aber der Messias wird der König der Welt sein, der König der Könige, und seinem Reich werden zeitlich und räumlich kein Ende und keine Grenzen gesetzt sein. Öffnet die Augen und nehmt die Wahrheit an.»

«Wir haben nichts verstanden von deinen irren Reden. Du sagst Worte, die keinen Sinn ergeben. Rede und antworte ohne Gleichnisse. Bist du der Messias oder bist du es nicht?»

«Habt ihr denn immer noch nicht verstanden? Ich habe euch gesagt, dass ich die Pforte und der Hirte bin. Bisher hat keiner in das Reich Gottes eingehen können, da es verschlossen und ohne Eingang war. Nun aber bin ich gekommen, und das Eingangstor ist da.»

«Oh! Schon andere haben gesagt, sie seien der Messias, und später wurden sie als Empörer und Diebe entlarvt, und menschliche Gerechtigkeit hat ihre Frechheit bestraft. Wer gibt uns die gewissheit, dass du nicht einer von ihnen bist? Wir sind es müde zu leiden und das Volk die Strenge Roms verspüren zu lassen als Folge der Lügen derer, die sich zum König erklären und das Volk zum Aufstand aufwiegeln!»

«Nein, was ihr da sagt, ist ungenau. Ihr wollt nicht leiden, dass ist wahr. Aber dass das Volk leidet, schmerzt euch nicht. Ihr geht sogar so weit, dass ihr zur Strenge eurer Beherrscher noch eure eigene Härte hinzufügt und mit eurem übertriebenen Zehnten und vielem anderen das niedere Volk bedrückt. Was gibt euch die gewissheit, dass ich kein Betrüger bin? Meine Handlungen. Nicht ich werde der Anlaß sein, dass Roms Hand schwerer auf euch lastet. Vielmehr, wenn überhaupt etwas, erleichtere ich eure Last, da ich den Herrschern und den Beherrschten zu Geduld und Menschlichkeit rate. Wenigstens dies.»

Inzwischen hat sich viel Volk angesammelt, dass immer zahlreicher wird, so dass es den Verkehr auf der großen Straße behindert und alle in das Seitengäßchen ausweichen, unter dessen Gewölben die zustimmenden Rufe lautstark widerhallen: «Was du vom Zehnten gesagt hast, ist richtig! Es ist wahr, er empfiehlt uns Unterwerfung und den Römern Barmherzigkeit.»

Wie immer werden die Pharisäer durch die Zustimmung des Volkes nur noch giftiger und beißender im Ton, in dem sie sich an Christus wenden: «Antworte, ohne so viele Worte zu verlieren, und beweise uns, dass du der Messias bist.»

«Wahrlich, wahrlich ich sage euch, ich bin es. Ich, ich allein bin das Tor zum Schafstall der Himmel. Wer nicht durch mich hindurchgeht, kann nicht in das Himmelreich eingehen. Es ist wahr, dass falsche Messiasse gekommen sind, und andere werden noch kommen. Aber der einzige und wahre Messias bin ich. Alle, die bisher gekommen sind und sich so genannt haben, waren es nicht. Sie waren lediglich Diebe und Räuber. Und das gilt nicht nur für jene, die sich von wenigen Gleichgesinnten Messias nennen ließen, sondern auch für die, die ohne diesen Namen anzunehmen eine Anbetung verlangen, die nicht einmal dem wahren Messias zuteil wird. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Aber nun gebt acht. Weder den falschen Messiassen noch den falschen Hirten und Meistern haben die Schafe Gehör geschenkt, denn die Seelen fühlten die Falschheit ihrer Stimmen, die sanft erscheinen wollten, in Wirklichkeit aber grausam waren. Nur die Böcke sind ihnen gefolgt, um bei ihren Schurkereien mitzuwirken. Wilde, ungezähmte Böcke, die nicht in den Schafstall Gottes, unter das Szepter des wahren Königs und Hirten kommen wollen. Denn dieser ist nunmehr in Israel. Und er, der König der Könige, wird zum Hirten der Herde, während früher einmal einer, der der Hirte der Herden war, König wurde; und der eine wie der andere entspringen einer einzigen Wurzel, der Wurzel Jesse, wie es geschrieben steht in den Verheißungen und Prophezeiungen. Die falschen Hirten sprachen weder aufrichtige Worte noch vollbrachten sie Werke des Trostes. Sie haben die Herde zerstreut und gequält, sie den Wölfen überlassen oder sie sogar getötet, sie ausgenützt und verkauft, um ihres eigenen Lebens sicher zu sein. Oder sie haben ihr die Weide entzogen, um daraus Stätten des Vergnügens und Götzenhaine zu machen.

Wißt ihr, wer die Wölfe sind? Es sind die bösen Leidenschaften, die Laster, die die falschen Hirten die Herde gelehrt haben und denen sie als Erste frönten. Und wißt ihr, was ich mit den Götzenhainen meine? Es ist die Eigensucht, die allzu viele mit Weihrauch beräuchern. Die anderen beiden Dinge bedürfen der Erklärung nicht, denn sie ergibt sich klar genug aus dem schon Gesagten. Aber dass die falschen Hirten so handeln ist logisch. Sie sind nichts als Räuber, die kommen um zu rauben, zu töten und zu zerstören, um die Schafe aus dem Stall auf trügerische Weiden oder in falsche Schafställe zu führen, die nichts anderes sind als Schlachthäuser. Die dagegen, die zu mir kommen, sind in Sicherheit. Sie können hinausgehen auf meine Weide oder wieder hereinkommen zu meinen Ruhestätten, um sich dort durch heilige und gesunde Nahrung zu stärken. Denn dazu bin ich gekommen. Meine Schafe, die bisher mager und betrübt waren, sollen nun das Leben haben, überreiches Leben, Leben des Friedens und der Freude. Und so sehr wünsche ich dies, dass ich gekommen bin, um mein eigenes Leben hinzugeben, auf dass meine Schafe das vollkommene, überreiche Leben der Kinder Gottes haben.

Ich bin der gute Hirte. Ein guter Hirte gibt sein Leben hin, um seine Herde gegen Wölfe und Räuber zu verteidigen, während der Mietling, der nicht die Schafe, sondern das Geld liebt, dass er für seine Arbeit erhält, nur sich selbst und das Geld in seiner Tasche retten will. Wenn er den Wolf oder den Räuber sieht, flieht er und bringt sich in Sicherheit; und erst später kehrt er zurück, um das eine oder andere Schaf, dass der Wolf halbtot zurückgelassen hat oder das dem Räuber entgangen ist, an sich zu nehmen. Das erstere wird er schlachten, um es zu verzehren, während er das andere verkaufen wird, als ob es sein eigenes wäre. Damit erhöht er seinen Tagelohn und dem Besitzer wird er dann unter lügenhaften Tränen berichten, dass kein einziges der Schafe gerettet werden konnte. Was kümmert es den Mietling, wenn der Wolf die Schafe zerreißt und zerstreut oder der Räuber viele Tiere erbeutet, um sie zur Schlachtbank zu führen? Hat er etwa über sie gewacht, als sie heranwuchsen, und sich um sie bemüht, damit sie gesund und kräftig werden? Der Besitzer hingegen, der den Wert eines Schäfleins kennt und weiß, wie viele Mühen, Nachtwachen und Opfer es ihn gekostet hat, liebt seine Schafe und kümmert sich um sie, denn sie sind sein Reichtum. Aber ich bin mehr als ein Besitzer. Ich bin der Retter meiner Herde. Ich weiß, wieviel die Rettung selbst einer einzigen Seele kostet, und bin deshalb zu allem bereit, um eine Seele zu retten. Sie ist mir von meinem Vater anvertraut worden. Alle Seelen sind mir anvertraut worden mit dem Auftrag, sie in überaus großer Zahl zu retten. Je mehr Seelen ich dem Tod des Geistes zu entreißen vermag, um so größer wird der Ruhm meines Vaters sein. Daher kämpfe ich, um sie von allen ihren Feinden zu befreien, d.h. von ihrem Ich, der Welt, dem Fleisch, dem Teufel und von meinen Gegnern, die sie mir streitig machen wollen, um mir weh zu tun. Ich tue dies, weil ich die Gedanken meines Vaters kenne. Und mein Vater hat mich gesandt, dies zu tun, weil er meine Liebe zu ihm und zu den Seelen kennt. Auch die Schafe meiner Herde kennen mich und meine Liebe, und sie fühlen, dass ich bereit bin, mein Leben hinzugeben, um ihnen die Glückseligkeit zu schenken

Ich habe noch andere Schafe, aber sie sind nicht aus diesem Schafstall. Daher erkennen sie mich nicht als das, was ich bin, und viele wissen nicht, dass ich bin und wer ich bin. Es sind Schafe, die vielen von uns schlimmer zu sein scheinen als wilde Ziegen, so dass sie nicht für würdig befunden werden, die Wahrheit kennenzulernen und das Leben und das Reich zu besitzen. Doch dem ist nicht so. Der Vater will auch diese, und daher muss ich auch zu ihnen gehen, mich ihnen zu erkennen geben, ihnen die Frohe Botschaft verkündigen, sie auf meine Weiden führen und sie dort versammeln. Auch sie werden auf meine Stimme hören und sie schließlich lieben. Und es wird nur eine Herde und einen Hirten geben, und das Reich Gottes wird errichtet auf Erden und bereit sein, in das Himmelreich aufgenommen zu werden unter meinem Szepter, meinem Zeichen und meinem wahren Namen.

Mein wahrer Name! Er ist nur mir bekannt. Aber wenn die Zahl der Auserwählten voll ist und sie unter Jubelhymnen an der großen Hochzeitstafel des Bräutigams und der Braut sitzen, dann wird mein Name allen meinen Auserwählten bekannt sein, die sich in Treue zu ihm geheiligt haben, obwohl sie nicht die ganze Weite und Tiefe dessen begriffen hatten, was es heißt, mit meinem Namen bezeichnet zu sein und für ihre Liebe zu ihm belohnt zu werden, noch was ihr Lohn sein würde... Das will ich meinen treuen Schafen schenken: das, was meine eigene Freude ist...»

Jesus läßt den unter Tränen der Verzückung leuchtenden Blick über die Anwesenden schweifen und ein Lächeln bebt auf seinen Lippen, ein so vergeistigtes Lächeln auf seinem vergeistigten Antlitz, dass die Menge von einem Schauer ergriffen wird. Sie ahnt die Verzückung Christi in einer beseligenden Schauung und sein Liebesverlangen, sie verwirklicht zu sehen. Dann faßt er sich wieder. Einen Augenblick schließt er die Augen und verhüllt das Geheimnis, dass sein Geist schaut und sein Blick zu sehr verraten könnte, und fährt fort:

«Dafür liebt mich der Vater, o mein Volk, o meine Herde! Denn für dich, für dein ewiges Glück gebe ich mein Leben hin. Später werde ich wieder ins Leben zurückkehren. Aber zuerst werde ich es hingeben, damit du das Leben habest und deinen Erlöser besitzest. Ich werde es hingeben auf eine Weise, dass du dich davon nähren kannst, und werde mich vom Hirten in Weide und Quelle verwandeln, die dir Speise und Trank geben werden, nicht nur vierzig Jahre lang, wie den Hebräern in der Wüste, sondern für die ganze Zeit deines Exils in den Wüsteneien der Erde. Niemand nimmt mir in Wirklichkeit das Leben. Weder jene, die es ihrer großen Liebe wegen zu mir verdienen, dass ich mich für sie aufopfere, noch jene, die mich töten aus maßlosem Haß und törichter Furcht. Niemand könnte es mir nehmen, wenn ich nicht selbst zustimmen und mein Vater es nicht zulassen würde, da uns beide eine unaussprechliche Liebe für die schuldbeladene Menschheit erfüllt. Aus eigenem freien Willen gebe ich mein Leben hin. Und ich habe die Macht, es mir wieder zu nehmen, wann ich will, denn es geziemt sich nicht, dass der Tod über das Leben herrsche. Daher hat der Vater mir diese Macht verliehen. Ja, der Vater hat mir sogar diesen Auftrag gegeben. Und durch die Aufopferung meines Lebens werden die Völker ein Volk werden: das meinige, dass himmlische Volk der Kinder Gottes. In den Völkern werden sich die Schafe von den Böcken scheiden, und die Schafe werden dem Hirten in das Reich des ewigen Lebens folgen.»

Jesus, der bis dahin laut gesprochen hat, wendet sich nun mit gedämpfter Stimme an Sidonias, genannt Bartholmai, der die ganze Zeit mit seinem Korb duftender Äpfel vor ihm gestanden hat, und sagt zu ihm: «Du hast meinetwegen alles andere vergessen. Jetzt wirst du gewiss bestraft werden und deine Arbeit verlieren. Siehst du? Ich mache dir immer Kummer. Meinetwegen bist du aus der Synagoge gejagt worden, und nun wirst du auch noch deinen Dienstherrn verlieren...»

«Was kümmert mich all das, wenn ich dich habe? Du allein bedeutest mir etwas. Gerne lasse ich alles zurück, um dir zu folgen, wenn du es mir erlaubst. Laß mich nur noch diese Früchte dem bringen, der sie gekauft hat, und dann bin ich bei dir.»

«Gehen wir zusammen. Danach gehen wir zu deinem Vater, denn du hast einen Vater und musst ihn ehren und seinen Segen erbitten.»

«Ja, Herr. Alles was du willst. Doch du wirst mich vieles lehren müssen, denn ich weiß nichts, wirklich nichts. Ich kann nicht einmal lesen und schreiben, weil ich blind war.»

«Sorge dich nicht darum. Der gute Wille wird dein Lehrer sein.»

Dann macht er sich auf den Weg und kehrt auf die Hauptstraße zurück, während die Menge ihre Bemerkungen macht, diskutiert, sich sogar zankt und immer noch schwankt zwischen den beiden Ansichten, die nach wie vor dieselben sind: Ist Jesus von Nazareth ein Besessener oder ein Heiliger? Die Leute diskutieren und streiten weiter, als Jesus sich entfernt.