15.07.2016

IM STREIT MIT DEN PHARISÄERN;

JESUS HERR AUCH ÜBER DEN SABBAT

nach Maria Valtorta

Immer noch derselbe Ort; die Sonne brennt nicht mehr so unerbittlich, denn es geht auf den Abend zu.

«Wir müssen uns beeilen, dass Haus zu erreichen», sagt Jesus.

Sie gehen und erreichen es. Sie bitten um Brot und Obdach, aber der Verwalter weist sie hart zurück.

«Philisterbande! Natterngezücht! Immer dieselben! Sie sind auf dem gleichen Stamm gewachsen und geben giftige Früchte», murren die hungrigen und müden Jünger. «Es wird euch zurückgegeben, was ihr gebt.»

«Aber warum verfehlt ihr euch gegen die Liebe? Es ist nicht mehr die Zeit des „Auge um Auge und Zahn um Zahn“. Gehen wir weiter. Noch ist es nicht Nacht, und ihr seid noch nicht am Verhungern. Ein kleines Opfer, weil diese Seelen Hunger nach mir empfinden», mahnt Jesus.

Aber die Jünger – ich glaube mehr aus Trotz als wegen unerträglichen Hungers – gehen ziemlich weit in ein Weizenfeld hinein und pflücken Ähren, zerreiben sie in den Handflächen und essen die Körner.

«Sie sind gut, Meister», ruft Petrus. «Nimmst du keine? Sie schmecken doppelt so gut... Ich würde am liebsten das ganze Feld aufessen.»

«Du hast recht! Dann würde es ihnen leid tun, uns kein Brot gegeben zu haben», erwidern die anderen zwischen den Ähren und essen mit Genuß. Jesus geht allein auf der staubigen Straße. Fünf oder sechs Meter hinter ihm sind der Zelote und Bartholomäus im Gespräch.

An einer Wegkreuzung steht eine Gruppe finster blickender Pharisäer. Sie sind vermutlich auf dem Heimweg von den Gebeten des Sabbat, denen sie im kleinen Dorf beigewohnt haben, dass man am Ende der Seitenstraße sieht, dass breit und flach wie ein großes vor seiner Höhle kauerndes Tier daliegt.

Jesus bemerkt die Pharisäer, schaut sie sanft und lächelnd an und grüßt: «Der Friede sei mit euch!»

Statt den Gruß zu erwidern, fragt ein Pharisäer arrogant:

«Wer bist du?»

«Jesus von Nazareth.»

«Seht ihr, er ist es!» sagt einer zu den anderen. Inzwischen gesellen sich Nathanael und Simon zum Meister, während die anderen, in den Furchen gehend, auf die Straße zukommen. Sie kauen noch und haben Getreidekörner in den Händen.

Der Pharisäer, der zuerst gesprochen hat, vielleicht der einflußreichste, fängt wieder an, mit Jesus zu reden, der stehenblieb, um ihn weiter anzuhören.

«So, du bist der berühmte Jesus von Nazareth. Warum bist du bis hierher gekommen?»

«Weil es auch hier Seelen zu retten gibt.»

«Dafür genügen wir. Wir verstehen unsere und die unserer Untergebenen zu retten.»

«Wenn es so ist, ist es gut! Aber ich bin gesandt worden, die Frohe Botschaft zu verkünden und zu retten.»

«Gesandt, gesandt! Und wer beweist es uns? Deine Werke sicherlich nicht!»

«Warum sprichst du so? Fürchtest du nicht für dein Leben?»

«Ach ja, du lieferst alle dem Tod aus, die dich nicht anbeten. Du willst die ganze priesterliche Klasse umbringen, die Pharisäer, die Schriftgelehrten und viele andere, weil sie dich nicht und niemals anbeten. Niemals, verstehst du! Niemals werden wir, die Auserwählten Israels, dir huldigen... oder dich gar lieben.»

«Ich zwinge euch nicht, mich zu lieben; ich sage euch nur: Betet Gott an, denn...»

«Also dich, denn du bist Gott, nicht wahr? Aber wir sind nicht wie der lausige galiläische Pöbel, wir sind nicht die Dummköpfe Judäas, die hinter dir herlaufen und unsere Rabbis vergessen ...»

«Rege dich nicht auf, Mann! Ich verlange nichts. Ich erfülle meine Sendung; ich lehre, Gott zu lieben; ich wiederhole die Gebote, die zu oft vergessen werden, und was noch schlimmer ist, die schlecht befolgt werden. Ich will das Leben geben. Das ewige Leben. Ich wünsche niemand den leiblichen Tod und noch weniger den geistigen. Ich fragte dich, ob du nicht befürchtest, dein Leben zu verlieren; ich meinte damit das Leben deiner Seele; denn ich liebe deine Seele, auch wenn sie mich nicht liebt. Ich bin betrübt, wenn ich sehe, dass du sie tötest, wenn du Gott beleidigst und seinen Messias verachtest.»

Der Pharisäer scheint von Krämpfen befallen zu werden, so erregt ist er; er zerrt an seinen Kleidern, reißt die Fransen aus, nimmt die Kopfbedeckung ab, rauft sich die Haare und schreit: «Hört, Hört! Zu mir, Jonathan des Uziel, dem direkten Nachkommen Simons des Gerechten, zu mir sagt er dies! Ich den Herrn beleidigen! Ich weiß nicht, was mich zurückhält, dich zu verfluchen, aber...»

«Die Angst hält dich zurück. Aber tue es nur. Ich werde dich trotzdem nicht zu Asche werden lassen. Zu gegebener Zeit wirst du nach mir rufen. Aber zwischen mir und dir wird dann ein roter Bach sein: mein Blut!»

«Gut! Aber wie kannst du, der sich heilig nennt, gewisse Dinge zulassen? Du, der du dich Meister nennst, warum belehrst du nicht zuerst deine Apostel? Schau sie an, hinter dir! ... Sie haben noch das Mittel zur Sünde in den Händen! Siehst du, sie haben Ähren gesammelt, und es ist doch Sabbat. Sie haben Ähren gesammelt, die ihnen nicht gehören. Sie haben den Sabbat entheiligt und gestohlen.»

«Sie haben Hunger. Wir baten im Dorf, wo wir gestern abend angekommen sind, um Herberge und Brot. Man hat uns fortgejagt. Nur eine Greisin gab uns ihr Brot und eine Handvoll Oliven. Gott möge es ihr hundertfach vergelten, denn sie gab alles, was sie besaß, und wollte dafür nur den Segen. Wir sind eine Meile gegangen, dann ruhten wir, dem Gesetz entsprechend, und tranken Wasser. Darauf begaben wir uns bei Einbruch der Dämmerung zum Haus dort; wir wurden wiederum weggejagt. Du siehst, wir hatten den Willen, dass Gesetz zu beachten!» antwortet Petrus.

«Aber ihr habt es nicht getan. Es ist nicht erlaubt, am Sabbat Handarbeit zu verrichten und nie ist es zulässig zu nehmen, was anderen gehört. Ich und meine Freunde sind darüber empört!»

«Ich nicht! Habt ihr nicht gelesen, wie David in Nob die geweihten Brote nahm, um sich und seine Begleiter zu nähren? Die heiligen Brote gehörten Gott und befanden sich in seinem Haus; sie waren durch ein ewiges Gesetz für die Priester bestimmt. Es steht geschrieben: „Sie sollen Aaron und seinen Söhnen gehören, die sie am heiligen Ort essen werden; denn sie sind eine heilige Sache.“ Und doch nahm David sie für sich und seine Gefährten; denn sie hatten Hunger. Wenn also der heilige König in das Haus Gottes eingetreten ist und die geweihten Brote am Sabbat gegessen hat – er, dem es nicht erlaubt war, sie zu essen -; wenn es ihm nicht als Sünde angerechnet worden ist – denn Gott liebte ihn auch nachher noch – wie kannst du sagen, dass wir Sünder sind, wenn wir auf dem Grund und Boden Gottes die durch seinen Willen gewachsenen und reifgewordenen Ähren pflücken? Diese Ähren gehören auch den Vögeln, und du willst verbieten, dass sich damit Menschen, die Kinder des Vaters, nähren?» fragt Jesus.

«Sie hatten um Brote gebeten. Sie hatten sie nicht ohne Erlaubnis genommen. Das ist ein Unterschied. Und dann ist es nicht wahr, dass Gott dies dem David nicht als Sünde angerechnet hat. Gott hat ihn hart bestraft!»

«Aber nicht deswegen, sondern wegen der Unzucht und der Volkszählung», entgegnete Thaddäus.

«Oh, nun aber genug! Es ist nicht erlaubt, es ist verboten! Ihr habt kein Recht das zu tun, und ihr tut es trotzdem! Geht fort. Wir wollen euch nicht in unserem Gebiet. Wir brauchen euch nicht. Wir wissen nicht, was wir mit euch tun sollen.»

«Wir gehen», sagt Jesus und verhindert somit eine weitere Gegenrede.

«Und für immer, damit Jonathan des Uziel dich nie mehr unter die Augen bekommt. Geh!»

«Ja, wir gehen. Doch werden wir uns wiedersehen. Dann ist es Jonathan, der mich sehen will, um das Urteil zu wiederholen und die Welt für immer von mir zu befreien. Aber dann wird es der Himmel sein, der zu dir sagen wird: „Es ist dir nicht erlaubt!“ Und dieses „Es ist dir nicht erlaubt“ wird dir wie ein Trompetenschall im Herzen nachklingen, dein ganzes Leben lang und darüber hinaus. Wie an den Tagen des Sabbat die Priester im Tempel das Gebot der Sabbatruhe übertreten und doch nicht sündigen, so können auch wir, die Diener des Herrn, wenn der Mensch uns die Nächstenliebe verweigert, Liebe und Hilfe vom heiligsten Vater empfangen, ohne deswegen zu sündigen.

Hier ist einer, der viel größer als der Tempel ist, und daher nehmen kann, was er will von dem, was Gott erschaffen und zum Schemel für sein Wort gesetzt hat. Ich nehme und gebe. So auch die Ähren des Vaters, die auf der großen Tafel, die die Erde ist, liegen. Ich nehme und gebe. Den Guten wie den Bösen. Denn ich bin die Barmherzigkeit. Wenn ihr wüßtet, was es heißt, dass ich die Barmherzigkeit bin, würdet ihr auch verstehen, dass ich nichts anderes als sie will. Wenn ihr wüßtet, was Barmherzigkeit ist, dann hättet ihr keine Unschuldigen verurteilt. Aber ihr wißt es nicht! Ihr wißt nicht einmal, dass ich euch nicht verurteile; dass ich euch verzeihe und den Vater für euch um Verzeihung bitte, denn ich will Barmherzigkeit und nicht Bestrafung. Aber ihr wißt es nicht. Ihr wollt es nicht wissen! Das ist eine größere Sünde als die, die ihr mir zuschreibt; als die, von der ihr sagt, dass diese Unschuldigen sie begangen haben. ]Übrigens sollt ihr wissen, dass der Sabbat für den Menschen gemacht worden ist und nicht der Mensch für den Sabbat, dass der Menschensohn auch Herr über den Sabbat ist. Lebt wohl ...»

Er wendet sich an die Jünger: «Kommt, laßt uns ein Lager im Sand suchen; es ist nicht weit. Die Sterne werden uns Gesellschaft leisten und der Tau wird uns erfrischen. Gott, der Israel das Manna schenkte, wird auch uns ernähren, die wir arm und ihm treu sind.» Und Jesus läßt die feindselige Gruppe stehen und geht mit den Seinen weiter, während der Abend mit seinen ersten violetten Schatten anbricht.

Sie finden endlich eine Hecke von Kaktusfeigen, auf deren stacheligen Schaufeln bereits reife Früchte sitzen. Alles ist gut für den, der Hunger hat. So sammeln sie, obwohl sie sich dabei stechen, die reifen Feigen und gehen weiter, bis die Felder zu Ende sind und die sandigen Dünen beginnen. Von ferne hört man das Rauschen des Meeres.

«Wir wollen uns hier ausruhen. Der Sand ist weich und warm. Morgen werden wir Askalon erreichen», sagt Jesus; alle legen sich am Fuße einer hohen Düne nieder.