30.03.2016

Hier ein Valtorta-Text, der nicht in den Evangelien steht

JESUS ERSCHEINT LAZARUS

nach Maria Valtorta

Die Sonne eines heiteren Aprilmorgens übergießt die Rosen- und Jasminbüsche im Garten des Lazarus mit Glanz. Und die Buchsbaum- und Lorbeerhecken, die sich im leichten Wind wiegenden Wedel einer hohen Palme am Ende des Weges und der dichte Lorbeer am Fischteich scheinen von einer geheimnisvollen Hand gewaschen, so viel Tau ist über Nacht gefallen und läßt die Blätter nun sauber und wie mit neuem Email überzogen erscheinen, so glänzend und makellos sind sie. Das Haus aber schweigt wie ein Totenhaus. Die Fenster sind offen, doch kein Laut, kein Geräusch dringt aus den verdunkelten Zimmern, deren Vorhänge zugezogen sind.

Im Inneren, hinter der Vorhalle, die von vielen Zimmern mit weit offenstehenden Türen umgeben ist – und es ist sonderbar, diese gewöhnlich für eine mehr oder weniger große Anzahl von Gästen hergerichteten Räume nun leer und aufgeräumt zu sehen – befindet sich ein weiterer großer, gepflasterter und von einem Säulengang umgebener Hof, in dem da und dort Sitzgelegenheiten stehen. Auf diesen und sogar auf dem Boden, auf Matten oder auch auf dem nackten Marmor sitzen viele Jünger. Unter ihnen sehe ich die Apostel Matthäus, Andreas, Bartholomäus, die Brüder Jakobus und Judas des Alphäus, Jakobus des Zebedäus und die Hirtenjünger mit Manaen, sowie noch andere, die ich nicht kenne. Den Zeloten, Lazarus und Maximinus sehe ich nicht.

Schließlich kommt letzterer mit Dienern herein und verteilt an alle Brot und verschiedene andere Speisen, Oliven, Käse und Honig. Es gibt auch frische Milch für den, der will. Aber niemand hat Lust zu essen, so sehr Maximinus auch drängt. Die Niedergeschlagenheit ist groß. Die Gesichter sind in diesen wenigen Tagen eingefallen und fahl geworden, nur von Tränen gerötet. Besonders die Apostel und jene, die bereits in den ersten Stunden geflohen sind, wirken sehr verzagt, während die Hirten und Manaen nicht ganz so niedergeschlagen, so beschämt zu sein scheinen, und Maximinus seine Trauer männlich beherrscht.

Da erscheint der Zelote fast im Laufschritt und fragt: «Ist Lazarus hier?»

«Nein, er ist in seinem Zimmer. Was willst du?»

«Am Ende des Weges, am Sonnenbrunnen ist Philippus. Er kommt aus der Ebene von Jericho und ist völlig erschöpft. Er will aber nicht näher herankommen... da er sich wie alle als ein Sünder fühlt. Doch Lazarus wird ihn überzeugen.»

Bartholomäus steht auf und sagt: «Ich komme mit...»

Sie gehen zu Lazarus, der, nachdem sie ihn gerufen haben, mit von Schmerz gezeichnetem Gesicht aus dem halbdunklen Zimmer kommt, in dem er zweifellos geweint und gebetet hat.

Sie gehen alle hinaus und durchqueren zuerst den Garten und dann die Ortschaft auf der Seite, die schon nahe den Abhängen des Ölberges liegt. Am Rand des Dorfes, auf der Seite, wo das Plateau endet, auf das es gebaut ist, beginnt ein Weg, der in natürlichen Stufen auf und ab führt über die Berge, die im Osten zur Ebene hin auslaufen und im Westen Jerusalem zu ansteigen.

Dort ist ein Brunnen mit einem großen Becken, an dem Menschen und Herden ihren Durst löschen. Zu dieser Stunde ist der Platz menschenleer und kühl, denn viele dichte Bäume spenden Schatten rings um die Zisterne voll klaren Wassers, dass sich, von einer Gebirgsquelle gespeist, ständig erneuert und dann überläuft und den Erdboden feucht hält.

Philippus sitzt auf dem Brunnenrand, wo er am höchsten ist, mit gesenktem Kopf, ungekämmt, staubig und mit zerschlissenen Sandalen, die an den zerkratzten Füßen hängen.

Lazarus ruft ihn mitleidig: «Philippus, komm zu mir! Lieben wir uns um seiner Liebe willen. Wir wollen in seinem Namen vereint bleiben. Denn das zu tun bedeutet auch, ihn zu lieben.»

«Oh, Lazarus! Lazarus! Ich bin geflohen... und gestern, bei Jericho, habe ich erfahren, dass er tot ist...! Ich... ich kann mir nicht verzeihen, dass ich geflohen bin ...»

«Alle sind wir geflohen. Nur Johannes ist ihm treu geblieben, und Simon, der uns auf seinen Befehl alle zusammengerufen hat, die wir feige geflohen waren. Und... von uns Aposteln ist keiner treu geblieben», sagt Bartholomäus.

«Und kannst du dir das verzeihen?»

«Nein. Doch ich will es, so gut ich kann, wiedergutmachen und nicht in fruchtlose Niedergeschlagenheit verfallen. Wir müssen uns zusammenschließen, uns um Johannes versammeln, um von seinen letzten Stunden zu erfahren. Johannes ist ihm immer gefolgt», antwortet der Gefährte Bartholomäus Philippus.

«Wir dürfen seine Lehre nicht sterben lassen, müssen sie der Welt verkünden. Wir müssen wenigstens sie am Leben erhalten, da wir zu schwerfällig und langsam waren, um ihn rechtzeitig vor seinen Feinden zu retten», sagt der Zelote.

«Ihr hättet ihn nicht retten können. Nichts konnte ihn retten. Er hat es mir gesagt. Und ich wiederhole es euch noch einmal», sagt Lazarus mit Nachdruck.

«Du wußtest es, Lazarus?» fragt Philippus.

«Ich wußte es. Meine Qual war es, seit dem Abend des Sabbats durch ihn selbst von seinem Tod und seinen Leiden zu wissen, und auch zu wissen, wie wir uns benehmen würden ...»

«Nein. Du nicht. Du hast nur gehorcht und gelitten. Wir haben uns feige benommen. Du und Simon, ihr habt das Opfer des Gehorsams gebracht», unterbricht ihn Bartholomäus.

«Ja, wir haben uns dem Gehorsam geopfert. Oh, wie schwer ist es doch, im Gehorsam gegen den Geliebten der Liebe zu widerstehen! Komm, Philippus! Fast alle Jünger sind in meinem Haus. Komm auch du.»

«Ich schäme mich, vor der Welt und den Gefährten zu erscheinen ...»

«Wir sind alle gleich!» seufzt Bartholomäus.

«Ja, aber ich habe ein Herz, dass sich nicht verzeiht.»

«Das ist Stolz, Philippus. Er hat am Abend des Sabbats zu mir gesagt: „Sie werden sich nicht verzeihen. Sage ihnen, dass ich ihnen verzeihe, denn ich weiß, dass sie nicht frei handeln. Es ist Satan, der sie vom rechten Weg abbringt.“ Komm!»

Philippus weint heftiger, doch er gibt nach. Er geht so gebeugt, als sei er in wenigen Tagen alt geworden, an der Seite des Lazarus bis in den Hof, in dem alle auf ihn warten. Der Blick, mit dem er die Gefährten ansieht, ist derselbe, mit dem auch die Gefährten ihn ansehen, und er ist das klarste Bekenntnis ihrer grenzenlosen Niedergeschlagenheit.

Lazarus bemerkt es und sagt: «Noch ein Lamm aus der Herde Christi, dass in Angst vor dem Kommen der Wölfe und nach der Gefangennahme des Hirten geflohen ist, wurde von seinem Freund zurückgebracht. Diesem Verirrten, der die Bitterkeit erfahren hat, allein zu sein und ohne den Trost, in Gesellschaft seiner Brüder seinen Fehler beweinen zu können, wiederhole ich das Vermächtnis der Liebe unseres Herrn.

Er – ich schwöre das in Gegenwart der himmlischen Chöre – hat mir gesagt, zusammen mit anderen Dingen, die eure derzeitige menschliche Schwäche nicht ertragen kann, denn sie sind so traurig, dass sie mir seit zehn Tagen das Herz zerreißen – und wenn ich nicht wüßte, dass mein Leben dem Herrn dienen kann, so arm und fehlerhaft es auch sein mag, dann würde ich mich diesem Schmerz als Freund und Jünger, der mit ihm alles verloren hat, überlassen – er hat gesagt: „Die Dünste des verdorbenen Jerusalem werden auch meine Jünger verwirren. Sie werden fliehen und zu dir kommen.“ Und ihr seht, dass ihr alle gekommen seid. Alle, kann ich sagen, denn außer Simon Petrus und Iskariot seid ihr alle in mein Haus und zum Herzen eures Freundes gekommen. Er hat gesagt: „Du wirst sie sammeln. Du wirst meine verirrten Lämmer ermutigen. Du wirst ihnen sagen, dass ich ihnen verzeihe. Ich vertraue dir meine Vergebung für sie an. Sie werden keinen Frieden finden, weil sie geflohen sind. Sage ihnen, dass sie nicht in die noch größere Sünde fallen sollen, an meiner Verzeihung zu verzweifeln.“

So hat er gesagt. Und an seiner Statt habe ich euch Verzeihung erteilt. Und Schamröte färbt mein Gesicht, da ich euch in seinem Namen etwas so Heiliges gebe, etwas, dass ganz sein ist, die Verzeihung, also die vollkommene Liebe; denn wer dem Schuldigen verzeiht, liebt vollkommen. Diese Aufgabe hat mich in meinem schweren Gehorsam getröstet... Denn dort hätte ich sein wollen, wie Maria und Martha, meine guten Schwestern. Und wenn ihn die Menschen auf Golgotha gekreuzigt haben, so hat mich, ich schwöre es euch, der Gehorsam hier gekreuzigt; ein gar qualvolles Martyrium. Doch wenn es dazu dient, seiner Seele Trost zu schenken und ihm seine Jünger zu erhalten bis zu dem Zeitpunkt, da er sie versammeln wird, um sie im Glauben zu vervollkommnen, dann bin ich bereit, noch einmal meinen Wunsch zu opfern, wenigstens hinzugehen und den Leichnam zu verehren, bevor der dritte Tag sich seinem Ende zuneigt.

Ich weiß, dass ihr Zweifel habt. Das dürft ihr nicht. Ich kenne seine Worte beim Passahmahl nur, weil ihr sie mir berichtet habt. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer werden mir nach und nach diese Diamanten seiner Wahrheit, desto deutlicher fühle ich, dass sie einen sicheren Bezug zum nahen Morgen haben. Er könnte nicht gesagt haben: „Ich gehe zum Vater und komme dann wieder“, wenn er nicht wirklich zurückkommen würde. Er hätte nicht gesagt: „Wenn ihr mich wiederseht, werdet ihr von Freude erfüllt sein“, wenn er für immer verschwunden wäre. Er hat immer gesagt: „Ich werde auferstehen.“ Ihr habt mir berichtet, dass er gesagt hat: „Ein Tau wird auf die in euch gesäten Samen fallen und alle zum Keimen bringen; dann wird der Paraklet kommen, der sie zu mächtigen Bäumen macht.“ Hat er das nicht gesagt? Oh, sorgt dafür, dass dies nicht nur beim letzten seiner Jünger, beim armen Lazarus geschieht, der nur so selten mit ihm zusammen gewesen ist! Sorgt dafür, dass seine Saat unter dem Tau seines Blutes aufgegangen ist, wenn er zurückkehrt.

In mir wird alles Licht, und immer neue Kräfte erfüllen mich seit der schrecklichen Stunde, da er am Kreuz erhöht wurde. Alles wird hell, alles wächst und gedeiht. Es gibt kein Wort, dass nur seinen armen, menschlichen Sinn behalten hätte. Alles, was ich von ihm oder über ihn gehört habe, wird lebendig, und mein ödes Land verwandelt sich in einen blühenden Garten, wo jede Blume ihren Namen hat und alle Säfte aus seinem heiligen Herzen Leben erhalten.

Ich glaube, Christus! Und damit auch diese hier an dich glauben, an deine Verheißungen, an deine Vergebung und an all das, was du bist, biete ich dir mein Leben an. Nimm es, aber gib, dass deine Lehre nicht stirbt! Zerbrich den armen Lazarus, aber führe die zerstreuten Glieder des apostolischen Kerns wieder zusammen. Alles, was du willst, aber dafür gewähre, dass dein Wort lebendig und ewig sei und all jene jetzt und immerdar zu ihm kommen, die nur durch dich das ewige Leben erlangen können.»

Lazarus ist wirklich inspiriert. Die Liebe trägt ihn zu höchsten Höhen empor, und seine Begeisterung ist so groß, dass er auch die Gefährten mitreißt. Sie rufen ihn von allen Seiten, als ob er ein Beichtvater, ein Arzt, ein Vater wäre.

Ich weiß nicht warum, aber der Hof des reichen Lazarus läßt mich an die Häuser der christlichen Patrizier in den Zeiten der Verfolgung und der heroischen Glaubenstreue denken...

Er beugt sich gerade über Judas des Alphäus, dem es nicht gelingt, einen Trost zu finden für seinen Kummer, den Meister und Vetter verlassen zu haben, als etwas ihn veranlaßt, sich mit einem Ruck aufzurichten. Er dreht sich um und sagt klar und deutlich: «Herr, ich komme!» Sein übliches Wort des prompten Gehorsams. Und er eilt hinaus, als würde er jemandem folgen, der ihn gerufen hat und ihm vorausgeht.

Alle sehen sich erstaunt an und fragen einander.

«Was hat er denn gesehen?»

«Es ist doch nichts gewesen!»

«Hast du eine Stimme gehört?»

«Ich nicht.»

«Ich auch nicht.»

«Was dann? Ist Lazarus vielleicht wieder krank?»

«Vielleicht... Er hat mehr gelitten als wir und uns Feiglingen noch dazu so viel Kraft gegeben. Vielleicht fiebert er nun.»

«Tatsächlich ist sein Gesicht sehr eingefallen.»

«Und seine Augen haben geglüht beim Sprechen.»

«Es war wohl Jesus, der ihn in den Himmel gerufen hat.»

«Lazarus hat ihm ja soeben sein Leben angeboten... Und wie eine Blume hat er ihn sofort gepflückt... Oh, wir Elenden! Was tun wir jetzt?»

Die Bemerkungen sind unterschiedlich und bekümmert.

Lazarus läuft eiligst durch die Vorhalle und hinaus in den Garten, und dabei lächelt und flüstert er, und seine ganze Seele liegt in seiner Stimme: «Ich komme, Herr.» An der Stelle, wo dichter Buchs eine grüne Nische bildet, wir würden sagen, eine Art Pavillon, wirft er sich mit dem Antlitz zu Boden und ruft aus: «Oh, mein Herr!»

Denn neben dieser grünen Nische steht Jesus in der ganzen Schönheit des Auferstandenen, lächelt ihn an... und sagt: «Alles ist erfüllt, Lazarus. Ich bin gekommen, um dir zu danken, treuer Freund. Ich bin gekommen, damit du den Brüdern sagst, sie sollen sofort ins Haus des Abendmahls gehen. Du – noch ein Opfer, Freund, aus Liebe zu mir – bleibe vorläufig hier... Ich weiß, dass du deswegen leidest. Aber ich weiß auch, dass du großherzig bist. Maria, deine Schwester, ist schon getröstet, denn ich habe sie gesehen, und sie hat mich gesehen.»

«Du leidest nicht mehr, Herr. Dies entschädigt mich für jedes Opfer. Ich habe gelitten... da ich dich in Schmerzen wußte... und nicht bei dir sein konnte ...»

«Oh, du warst bei mir. Deine Seele war am Fuß meines Kreuzes und im Dunkel meines Grabes. Du hast mich wie die anderen, die mich vollkommen lieben, vorzeitig aus der Tiefe, in der ich mich befand, gerufen. Nun habe ich zu dir gesagt: „Komm, Lazarus“, wie am Tag deiner Auferstehung. Aber du sagst mir schon seit vielen Stunden: „Komm.“ Ich bin gekommen. Ich habe dich gerufen, um dich meinerseits aus der Tiefe deines Schmerzes herauszuholen. Geh! Ich gebe dir meinen Frieden und meinen Segen, Lazarus. Wachse in der Liebe zu mir. Ich werde wiederkommen.»

Lazarus liegt immer noch auf den Knien und wagt nicht, sich zu rühren. Die Majestät des Herrn, wenngleich von Liebe gemildert, ist derart, dass Lazarus sich nicht wie sonst benehmen kann.

Doch bevor Jesus verschwindet in einem Wirbel von Licht, in dem er sich auflöst, macht er einen Schritt auf den Getreuen zu und berührt mit der Hand seine Stirn.

Nun erst erwacht Lazarus aus seinem seligen Staunen. Er steht auf stürzt hinein zu den Freunden, mit freudestrahlenden Augen und einem Leuchten auf der von Christus berührten Stirn, und ruft: «Er ist auferstanden, Brüder! Er hat mich gerufen. Ich bin gegangen und habe ihn gesehen. Er hat zu mir gesprochen. Er hat mir gesagt, ich soll euch sofort in das Haus des Abendmahls schicken. Geht! Geht! Ich bleibe hier, denn er will es so. Aber meine Freude ist vollkommen...»

Und Lazarus weint vor Freude, während er die Apostel antreibt, sich als erste auf den Weg zu machen entsprechend seinem Befehl.

«Geht, geht! Er ruft euch! Er liebt euch! Fürchtet ihn nicht... Oh, er ist mehr denn je der Herr, die Güte, die Liebe...!»

Auch die Jünger stehen auf...

Bethanien leert sich. Nur Lazarus bleibt mit seinem großen, getrösteten Herzen...