31.03.2016

JESUS ERSCHEINT DEN ZEHN APOSTELN

nach Maria Valtorta

Sie sind im Abendmahlsaal versammelt. Es muss schon sehr spät sein, denn kein Laut dringt mehr herein von der Straße oder aus dem Haus. Ich denke, auch die zuvor Gekommenen haben sich, müde von so viel Aufregung, in ihre eigenen Häuser oder zum Schlafen zurückgezogen.

Die Zehn hingegen sitzen und reden im Licht eines einzigen Flämmchens der Lampe, dass sich dem Tisch am nächsten befindet. Vorher haben sie offensichtlich Fisch gegessen, denn auf einem Tablett auf der Anrichte liegt der eine oder andere übriggebliebene. Die Apostel sitzen noch am Tisch, und die Unterhaltung stockt immer wieder. Eigentlich sind es eher Monologe, die sie führen, denn es scheint, dass jeder mehr mit sich selbst als mit den Gefährten spricht. Und die übrigen lassen ihn reden, selbst wenn sie ihrerseits von etwas ganz anderem sprechen. Trotzdem sind diese unzusammenhängenden Gesprächsfetzen, die mich an die Speichen eines zerbrochenen Rades erinnern, doch alle Teil eines einzigen Themas, drehen sich alle um dasselbe, nämlich Jesus.

«Ich hoffe nicht, dass Lazarus nicht richtig gehört hat und die Frauen besser als er verstanden haben...» sagt Judas des Alphäus.

«Zu welcher Stunde will ihn die Römerin gesehen haben?» fragt Matthäus.

Niemand gibt Antwort.

«Morgen gehe ich nach Kapharnaum», sagt Andreas.

«Es war ein Fehler, Petrus, dass wir heute früh gleich weggegangen sind... Wären wir geblieben, hätten wir ihn gesehen wie Magdalena...»seufzt Johannes.

«Ich verstehe nicht, wie er zur selben Zeit in Emmaus und im Palast sein konnte. Und zugleich hier bei der Mutter und bei Magdalena und bei Johanna ...» sagt Jakobus des Zebedäus zu sich selbst.

«Er wird nicht kommen. Ich habe nicht genügend geweint, um es zu verdienen... Er hat recht. Ich meine, er wird mich drei Tage lang warten lassen, weil ich ihn dreimal verleugnet habe. Wie, wie konnte ich so etwas nur tun?»

«Wie verklärt Lazarus war. Ich sage euch, er glich einer Sonne. Es muss ihm ergangen sein wie Moses, nachdem er Gott geschaut hatte. Und gleich nachdem er sein Leben angeboten hatte, nicht wahr, ihr, die ihr dabeigewesen seid?» sagt der Zelote.

Niemand hört ihm zu.

Jakobus des Alphäus wendet sich an Johannes und sagt: «Wie hat er denen von Emmaus gesagt? Mir scheint, er hat uns entschuldigt, nicht wahr? Hat er nicht gesagt, dass alles so gekommen ist, weil wir als Israeliten eine falsche Vorstellung von seinem Reich haben?»

Johannes achtet nicht auf ihn. Er dreht sich um, schaut Philippus an, sagt... aber er redet nicht mit Philippus: «Mir genügt zu wissen, dass er auferstanden ist. Und dann... dann möge meine Liebe beständig wachsen. Es ist doch klar! Wenn man es genau betrachtet, so ist er im Verhältnis zur Liebe, die wir ihm bezeigt haben, erschienen: der Mutter, Maria Magdalena, den Kindern, meiner und deiner Mutter, und dann Lazarus und Martha... Wann wohl Martha? Ich meine, als sie den Psalm Davids angestimmt hat: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln. Er weidet mich auf grüner Au, er führet mich zu reichen Wassern. Er hat meine Seele zu sich gerufen...“ Erinnert ihr euch, wie überrascht wir waren über diesen unerwarteten Gesang? Und die Worte: „Er hat meine Seele zu sich gerufen“ haben einen Zusammenhang mit dem, was sie uns gesagt hat. Martha scheint ihren Weg tatsächlich wieder gefunden zu haben... Zuerst war sie verwirrt, sie, die Starke! Vielleicht hat er ihr bei dieser Berufung auch den Ort genannt, wo er sie haben will. Ganz gewiss sogar. Denn wenn er mit ihr eine Verabredung getroffen hat, muss er wissen, wo sie sein wird. Was hat er wohl gemeint mit den Worten: „Vollkommene Vermählung“?»

Philippus, der Johannes zuerst kurz angeschaut, dann aber das Selbstgespräch nicht weiter verfolgt hat, seufzt: «Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll, wenn er kommt... Ich bin geflohen... und ich fürchte, dass ich wieder fliehen werde. Das erste Mal aus Furcht vor den Menschen. Diesmal aus Furcht vor ihm.»

«Alle sagen: „Er ist wunderschön.“ Kann er denn schöner sein, als er schon war?» fragt sich Bartholomäus.

«Ich werde ihm sagen: „Du hast mir schweigend verziehen, als ich ein Zöllner war. Verzeihe mir auch jetzt mit deinem Schweigen, denn meine Feigheit verdient dein Wort nicht“», sagt Matthäus.

«Longinus sagt, dass er gedacht hat: „Soll ich ihn um Heilung oder um den Glauben bitten?“ Dann hat ihm sein Herz gesagt: „Um den Glauben“ und danach die Stimme: „Komm zu mir.“ Und er fühlte gleichzeitig den Willen zu glauben und auch die Heilung. Genau das hat er mir gesagt», erklärt Judas des Alphäus.

«Ich muss immer noch daran denken, dass Lazarus sofort für sein Angebot belohnt worden ist... Auch ich habe gesagt: „Ich will mein Leben geben zu deiner Ehre“, aber er ist nicht gekommen», seufzt der Zelote.

«Was meinst du, Simon? Du bist gebildet, sage mir: Was soll ich ihm sagen, damit er versteht, dass ich ihn liebe und ihn um Verzeihung bitte? Und du, Johannes? Du hast viel mit der Mutter gesprochen. Helft mir! Habt doch Mitleid, und laßt den armen Petrus nicht allein!»

Johannes fühlt Mitleid mit dem betrübten Gefährten und sagt: «Ich... ich würde ganz einfach zu ihm sagen: „Ich liebe dich.“ In der Liebe sind auch die Bitte um Verzeihung und die Reue enthalten. Aber... ich weiß nicht. Simon, was meinst du?»

Und der Zelote: «Ich würde das sagen, was man bei den Wundern rief: „Jesus, erbarme dich meiner.“ Oder einfach: „Jesus.“ Denn er ist viel mehr als der Sohn Davids!»

«Genau das ist es, was ich denke und was mich erzittern läßt. Oh, ich werde mein Haupt verhüllen... Auch heute morgen hatte ich Angst, ihn zu sehen, und...»

«... Und dann bist du als erster hineingegangen. Aber sei doch nicht so furchtsam! Man könnte glauben, du kennst ihn nicht!» ermutigt ihn Johannes.

Das Zimmer erhellt sich ganz plötzlich, wie durch einen blendenden Blitz. Die Apostel verhüllen ihr Gesicht aus Furcht vor einem Einschlag. Aber sie hören keinen Lärm und blicken wieder auf.

Jesus steht mitten im Raum neben dem Tisch. Er breitet die Arme aus und sagt: «Der Friede sei mit euch.»

Niemand antwortet. Die einen sind blaß, die anderen rot im Gesicht, und alle schauen ihn ängstlich und befangen an, hingerissen und doch versucht zu fliehen.

Jesus macht einen Schritt vorwärts und lächelt noch mehr: «Aber fürchtet euch doch nicht! Ich bin es. Warum seid ihr so verwirrt? Habt ihr mich denn nicht herbeigewünscht? Habe ich euch denn nicht ausrichten lassen, dass ich kommen würde? Habe ich es euch nicht schon am Abend des Passahmahls gesagt?»

Keiner getraut sich, den Mund aufzumachen. Petrus weint schon, und Johannes lächelt schon, während die beiden Vettern mit ihren leuchtenden Augen und den sich stumm bewegenden Lippen Statuen gleichen, die die Sehnsucht darstellen.

«Warum habt ihr in euren Herzen so widersprüchliche Gefühle wie Liebe und Angst, Zweifel und Glauben? Warum wollt ihr immer noch Fleisch und nicht Geist sein und nicht nur mit diesem sehen, verstehen, urteilen und handeln? Ist denn im Feuer der Schmerzen nicht das alte Ich verbrannt und das neue Ich eines neuen Lebens erstanden? Ich bin Jesus. Euer auferstandener Jesus, wie ich euch vorausgesagt habe. Schaut! Du, der du meine Wunden gesehen hast, und ihr, die ihr nichts von meinen Qualen wißt; denn das, was ihr gehört habt, unterscheidet sich sehr von der genauen Kenntnis, die Johannes davon hat. Komm also du zuerst. Du bist schon ganz rein. So rein, dass du mich ohne Scheu berühren kannst. Die Liebe, der Gehorsam und die Treue hatten dich schon rein gemacht. Das Blut, dass dich benetzte, als du mich vom Kreuz abnahmst, hat dich vollends gereinigt. Sieh her! Es sind wahre Hände und wahre Wunden. Betrachte meine Füße. Siehst du die Male der Nägel? Ja, ich bin es wirklich, und kein Geist. Faßt mich an! Geister haben keinen Körper. Ich habe richtiges Fleisch auf einem echten Skelett.» Jesus legt die Hand auf das Haupt des Johannes, der gewagt hat, sich ihm zu nähern: «Fühlst du? Sie ist warm und schwer!» Er haucht ihm ins Gesicht: «Und dies ist mein Atem.»

«O mein Herr!» flüstert Johannes ganz leise...

«Ja, euer Herr. Johannes, weine nicht aus Furcht und Sehnsucht. Komm zu mir. Ich bin immer noch der, der dich liebt. Wir wollen uns wie immer zu Tisch setzen. Habt ihr nichts mehr zu essen? Bringt es mir!»

Andreas und Matthäus gehen wie zwei Nachtwandler zur Anrichte und holen das Brot, den Fisch und ein Tablett mit einer Honigwabe, von der nur eine kleine Ecke fehlt.

Jesus segnet die Speisen, ißt und gibt jedem etwas von dem, was er ißt. Er sieht sie an. So gütig, aber auch mit solcher Majestät, dass alle wie gelähmt sind.

Jakobus, der Bruder des Johannes, wagt als erster zu sprechen: «Warum schaust du uns so an?»

«Weil ich euch kennenlernen will.»

«Kennst du uns denn noch nicht?»

«So wie ihr mich auch nicht kennt. Wenn ihr mich kennen würdet, dann würdet ihr wissen, wer ich bin und wie ich euch liebe, und ihr würdet die Worte finden, um mir eure Not zu klagen. Ihr schweigt aber wie vor einem mächtigen Fremden, den ihr fürchtet. Eben habt ihr noch gesprochen... Seit fast vier Tagen führt ihr schon Selbstgespräche und sagt: „Ich werde ihm dies und jenes sagen...“ Ihr habt meinen Geist gerufen: „Komm zurück, Herr, damit ich dir dies sagen kann.“ Nun bin ich gekommen, und ihr schweigt. Bin ich denn so verändert, dass ich euch fremd erscheine? Oder seid ihr so verändert, dass ihr mich nicht mehr liebt?»

Johannes, der wie üblich neben seinem Jesus sitzt und den Kopf an seine Brust lehnt, flüstert: «Ich liebe dich, mein Gott!» Doch dann richtet er sich auf, erlaubt sich diese Vertraulichkeit nicht länger aus Ehrfurcht vor dem strahlenden Sohn Gottes. Denn von Jesus scheint Licht auszugehen, obgleich er einen Körper hat wie wir. Jesus aber zieht Johannes an seine Brust, und dieser öffnet seinen seligen Tränen alle Schleusen.

Dies ist für alle das Zeichen, es ihm nachzutun.

Petrus, der zwei Plätze von Johannes entfernt sitzt, rutscht zwischen den Tisch und den Sitz auf den Boden und ruft weinend aus: «Verzeihung, Verzeihung! Entreiße mich dieser Hölle, in der ich mich seit so vielen Stunden befinde. Sage mir, dass du meinen Fehler so gesehen hast, wie er war. Es war nicht der Geist, sondern das Fleisch, dass mein Herz überwältigt hat. Sage mir, dass du meine Reue gesehen hast... Sie wird bis zu meinem Tod andauern. Aber du... du sage mir, dass ich dich als Jesus nicht zu fürchten brauche... und ich, und ich... ich will mich bemühen, alles so gut zu machen, dass mir auch Gott verzeihen kann... und ich bei meinem Tod nur ein schweres Fegfeuer zu erwarten habe ...»

«Komm her, Simon des Jonas.»

«Ich habe Angst!»

«Komm her und sei nicht länger feige.»

«Ich bin nicht würdig, in deine Nähe zu kommen!»

«Komm her! Was hat die Mutter dir gesagt? „Wenn du ihn nicht auf diesem Schweißtuch ansiehst, wirst du nie mehr den Mut haben, ihn anzusehen.“ O törichter Mensch! Hat dir dieses Antlitz mit seinem schmerzerfüllten Blick nicht gesagt, dass ich dich verstanden und dir verziehen habe? Und ich habe euch dieses Linnen doch zum Trost und zur Führung gegeben, um meine Verzeihung und meinen Segen mitzuteilen... Was hat Satan euch angetan, dass ihr so blind geworden seid? Nun sage ich dir: Wenn du mich jetzt nicht anschaust, da ich über meine Herrlichkeit um eurer Schwäche willen noch einen Schleier breite, dann wirst du niemals ohne Furcht vor deinen Herrn treten können. Und was wird dir dann geschehen? Aus Anmaßung hast du gesündigt. Willst du nun aus Starrköpfigkeit noch einmal sündigen? Komm, sage ich dir.»

Petrus rutscht auf den Knien zwischen dem Tisch und den Sitzen und bedeckt sein tränennasses Gesicht mit den Händen. Als er zu Füßen Jesu anhält, legt dieser ihm die Hand aufs Haupt. Und Petrus ergreift diese Hand, küßt sie und schluchzt dabei hemmungslos. Er kann nur immer wieder bitten: «Verzeihung! Verzeihung!»

Jesus befreit sich aus dieser Klammer, legt seine Hand unter das Kinn des Apostels und zwingt ihn, den Kopf zu erheben. Er schaut mit seinen leuchtenden, gütigen Augen in die geröteten, brennenden, von Reue gequälten Augen, und es scheint, als wolle er mit diesem Blick die Seele des Petrus durchbohren. Dann sagt er: «Nimm die Schmach des Judas von mir. Küsse mich, wo er mich geküßt hat. Wasche mit deinem Kuß das Mal des Verrats ab.»

Petrus hebt das Haupt, während Jesus sich noch tiefer beugt, und berührt mit den Lippen die Wange... Dann legt er seinen Kopf auf Jesu Knie und bleibt so... wie ein großes Kind, dass böse gewesen ist und dem man verziehen hat.

Erst jetzt, nachdem sie die Güte ihres Jesus gesehen haben, bekommen auch die anderen etwas Mut und nähern sich soweit möglich.

Zuerst kommen die Vettern... Sie möchten so viel sagen und bringen kein Wort heraus. Jesus liebkost sie und ermutigt sie mit seinem Lächeln.

Dann kommt Matthäus mit Andreas. Matthäus sagt: «Wie in Kapharnaum...» und Andreas: «Ich, ich... ich liebe dich ...»

Dann kommt Bartholomäus, der seufzt: «Ich bin nicht weise gewesen, sondern töricht. Dieser ist weise», und er zeigt auf den Zeloten, dem Jesus bereits zulächelt.

Jakobus des Zebedäus kommt und flüstert Johannes zu: «Sage du es ihm ...» und Jesus wendet sich um und sagt: «Seit vier Tagen sagst du es, und ebensolange habe ich Mitleid mit dir.»

Philippus kommt als letzter und ganz gebeugt, aber Jesus zwingt ihn, dass Haupt zu erheben, und sagt zu ihm: «Um Christus zu predigen, braucht es größeren Mut.»

Nun sind alle um Jesus versammelt. Langsam, langsam werden sie selbstsicherer. Sie finden wieder, was sie verloren haben oder für immer verloren zu haben fürchteten. Das Vertrauen, die Ruhe kehren zurück, und obwohl Jesus seinen Aposteln durch seine Majestät einen neuartigen Respekt einflößt, finden sie endlich den Mut zu sprechen.

Der Vetter Jakobus seufzt: «Warum hast du uns dies angetan, Herr? Du hast doch gewußt, dass wir nichts sind und dass alles von Gott kommt. Warum hast du uns nicht die Kraft gegeben, an deiner Seite auszuharren?»

Jesus schaut ihn an und lächelt.

«Nun ist alles vorbei, und du musst nicht mehr leiden. Verlange aber nie mehr einen solchen Gehorsam von mir. Ich bin jede Stunde um fünf Jahre älter geworden, und deine Leiden, die die Liebe und Satan mir fünfmal so schlimm erscheinen ließen als sie es schon waren, haben meine ganze Kraft verzehrt. Um weiterhin zu gehorchen, ist mir nur geblieben, meine Kraft durch meinen Willen aufrechtzuerhalten, wie ein Ertrinkender mit gebrochenen Händen sich mit den Zähnen an einem Brett festbeißt, um nicht zu sterben... Oh, verlange solches nicht mehr von deinem Aussätzigen!»

Jesus betrachtet Simon den Zeloten und lächelt.

«Herr, du weißt, was mein Herz wollte. Doch dann habe ich keinen Mut, kein Herz mehr gehabt... als ob die Henkersknechte, die dich gefangengenommen haben, es mir geraubt hätten... Es ist nur ein Loch geblieben, durch das alle gefaßten Vorsätze entflohen sind. Warum hast du dies zugelassen, Herr?» fragt Andreas.

«Ich... Du sprichst vom Herzen? Ich sage, dass ich von Sinnen war. Als ob mir jemand einen Keulenschlag in den Nacken versetzt hätte. Als ich mich in der Nacht in Jericho wiederfand... Oh, Gott! Mein Gott...! Wie kann ein Mensch sich so verlieren? Ich glaube, dass die Besessenheit so sein muss. Nun verstehe ich, wie furchtbar sie ist...!» Philippus schließt die Augen bei dieser Erinnerung an seine Qual.

«Philippus hat recht. Ich habe zurückgeblickt. Ich bin alt und nicht arm an Wissen. Aber ich wußte nichts mehr von dem, was ich bis zu dieser Stunde gewußt hatte. Ich sah Lazarus an, der so betrübt, aber so sicher war, und fragte mich: „Wie ist es möglich, dass er noch eine Erklärung findet und ich nicht?“» sagt Bartholomäus.

«Auch ich habe Lazarus betrachtet. Und da ich kaum weiß, was du uns erklärt hast, dachte ich nicht an das Wissen, sondern sagte mir. „Wenn ich ihm wenigstens im Herzen gleich wäre!“ Stattdessen habe ich nur Schmerz, Schmerz und wieder Schmerz empfunden. Lazarus hatte Schmerz und Frieden... Warum hatte er einen solchen Frieden?»

Jesus schaut der Reihe nach zuerst Philippus, dann Bartholomäus und zuletzt Jakobus des Zebedäus an. Er lächelt und schweigt.

Judas Thaddäus sagt: «Ich habe gehofft, einmal das zu sehen, was Lazarus gewiss sah. Daher bin ich immer in seiner Nähe geblieben... Sein Gesicht...! Ein Spiegel. Kurz vor dem Erdbeben am Freitag glich er einem, der elend stirbt. Dann wurde er auf einmal majestätisch in seinem Schmerz. Erinnert ihr euch noch an seine Worte: „Erfüllte Pflicht schenkt Frieden“? Wir alle haben geglaubt, dies sei nur ein Tadel für uns oder ein Selbstlob. Nun denke ich, dass es dir gegolten hat. Lazarus war ein Leuchtturm in unserer Finsternis. Wieviel hast du ihm gegeben, Herr!»

Jesus lächelt und schweigt.

«Ja, dass Leben. Und vielleicht hast du ihm gleichzeitig auch eine neue Seele geschenkt. Denn schließlich, worin unterscheidet er sich von uns? Und doch ist er kein gewöhnlicher Mensch mehr. Er ist schon etwas mehr als ein Mensch, und nach dem, was er in der Vergangenheit gewesen ist, hätte er im Geist weniger vollkommen sein müssen als wir. Und was ist aus ihm geworden. Aber wir... Herr, meine Liebe ist leer gewesen wie manche Ähren. Nur Spreu habe ich gegeben», sagt Andreas.

Und Matthäus: «Ich darf um nichts bitten, denn ich habe durch meine Bekehrung schon so viel erhalten. Und doch! Auch ich hätte mir eine Seele wie Lazarus gewünscht. Eine von dir geschenkte Seele. Denn auch ich denke wie Andreas...»

«Auch Magdalena und Martha sind Wegweiser gewesen. Es wird wohl die Familie sein. Ihr habt sie nicht gesehen. Die eine war Erbarmen und Schweigen. Und die andere! Oh, wenn wir alle eng um die Gesegnete vereint waren, dann nur, weil Maria von Magdala uns durch die Flammen ihrer mutigen Liebe zusammengehalten hat. Ja. Ich habe gesagt: die Familie. Ich hätte sagen sollen: die Liebe. Sie haben uns in der Liebe übertroffen. Deshalb sind sie gewesen, was sie waren...» sagt Johannes.

Jesus lächelt und schweigt immer noch.

«Sie sind aber auch sehr dafür belohnt worden...»

«Du bist ihnen erschienen.»

«Allen dreien.»

«Maria gleich nach deiner Mutter...»

Bei den Aposteln ist ein Bedauern über diese Bevorzugung unverkennbar.

«Maria weiß schon seit vielen Stunden, dass du auferstanden bist. Und wir dürfen dich erst jetzt sehen ...»

«In ihnen war kein Zweifel mehr. In uns hingegen... Erst jetzt fühlen wir, dass nicht alles zu Ende ist. Warum hast du dich ihnen gezeigt, Herr, wenn du uns noch liebst und uns nicht verstößt?» fragt Judas des Alphäus.

«Ja, warum den Frauen, und besonders Maria? Du hast sie sogar an der Stirn berührt, und sie sagt, es scheine ihr, sie trage nun einen ewigen Kranz. Und uns, deinen Aposteln, nichts...»

Jesus lächelt nicht mehr. Sein Antlitz ist nicht streng, aber das Lächeln ist verschwunden. Er schaut Petrus, der nach und nach seine Furcht verliert, wieder mutig wird und zuletzt gesprochen hat, ernst an und sagt: «Ich hatte zwölf Apostel, und ich liebte sie aus ganzem Herzen. Ich hatte sie auserwählt und wie eine Mutter ihr Heranwachsen in meinem Leben umsorgt. Ich hatte keine Geheimnisse vor ihnen. Alles habe ich ihnen gesagt, alles erklärt, alles verziehen. Die Menschlichkeit, die Unbesonnenheit, die Halsstarrigkeit... alles. Und ich hatte Jünger. Reiche und arme Jünger. Ich hatte Frauen mit dunkler Vergangenheit und mit schwacher Gesundheit. Aber meine Bevorzugten waren die Apostel.

Dann ist meine Stunde gekommen. Einer hat mich verraten und den Henkern ausgeliefert. Drei haben geschlafen, während ich Blut geschwitzt habe. Alle, bis auf zwei, sind aus Feigheit geflohen. Einer hat mich aus Furcht verleugnet, obwohl er das Beispiel des jüngeren, treueren vor Augen hatte. Und als ob das noch nicht genug wäre, habe ich unter den Zwölfen einen gehabt, der in seiner Verzweiflung Selbstmord begangen hat, und einen, der so sehr an meiner Vergebung gezweifelt hat, dass ihn die Mutter nur mit Mühe von der Barmherzigkeit Gottes überzeugen konnte. Hätte ich also diese meine Schar betrachtet, hätte ich sie mit menschlichen Augen betrachtet, dann hätte ich sagen müssen: „Außer Johannes, der aus Liebe, und Simon, der aus Gehorsam treu ist, habe ich keine Apostel mehr.“ Dasselbe hätte ich sagen müssen, als ich im Vorhof des Tempels, im Prätorium und auf dem Kreuzweg litt.

Ich hatte Frauen... Und eine, die sündhafteste in der Vergangenheit, war, wie Johannes gesagt hat, die Flamme, die die zerrissenen Fasern der Herzen zusammengeschweißt hat. Diese Frau ist Maria von Magdala. Du hast mich verleugnet und bist geflohen. Sie hat dem Tod getrotzt und ist in meiner Nähe geblieben. Angegriffen und beleidigt, hat sie ihr Gesicht gezeigt und ist bereit gewesen, sich anspeien zu lassen und Backenstreiche zu ertragen, um dadurch ihrem gekreuzigten König ähnlicher zu werden. Im Grunde der Herzen verspottet wegen ihres unerschütterlichen Glaubens an meine Auferstehung, hat sie es verstanden, weiterhin zu glauben. Obgleich zutiefst betrübt, hat sie gehandelt. Trotz ihrer großen Niedergeschlagenheit hat sie heute morgen gesagt: „Auf alles will ich verzichten, aber gebt mir meinen Meister.“ Kannst du da noch zu fragen wagen: „Warum gerade ihr?“

Ich hatte arme Jünger: Hirten. Ich war nur selten bei ihnen, und doch, wie bekannten sie mich durch ihre Treue!

Ich hatte Jüngerinnen, schüchtern wie alle Hebräerinnen. Und doch haben sie ihre Häuser verlassen und sich in die Sturmflut des Volkes, dass mir fluchte, begeben, um mir den Trost zu schenken, den meine Apostel mir versagt haben.

Ich hatte Heidinnen, die den „Philosophen“ bewunderten. Denn in ihren Augen war ich ein Philosoph. Doch sie ließen sich herab zu hebräischen Bräuchen, die mächtigen Römerinnen, um mir in der Stunde, da mich die undankbare Welt verlassen hatte, zu sagen: „Wir sind dir Freundinnen.“

Mein Gesicht war von Speichel und Blut bedeckt. Tränen und Schweiß tropften auf die Wunden. Schmutz und Staub bildeten darauf eine Kruste. Welche Hand hat sie mir abgewischt? Deine? Oder deine? Oder deine? Keine eurer Hände. Dieser hier war bei der Mutter. Jener suchte die verirrten Schafe. Euch. Und da meine Schafe sich verirrt hatten, wie hätten sie mir helfen können? Du hast dein Gesicht verborgen aus Furcht vor der Verachtung der Welt, während deinen Meister die Verachtung der ganzen Welt traf. Ihn, der unschuldig war.

Ich hatte Durst. Ja, auch dies sollst du wissen. Ich starb vor Durst und wurde von Schmerzen und Fieber gepeinigt. Schon im Gethsemane war mein Blut geflossen, vor Schmerz, verraten, verlassen, verleugnet, geschlagen zu sein, überflutet von der unendlichen Schuld und ausgeliefert dem Zorn Gottes. Und auch im Prätorium ist es geflossen... Und wer wollte meine ausgetrockneten Lippen mit einem Tropfen Feuchtigkeit netzen? Eine israelitische Hand? Nein, dass Mitleid eines Heiden. Dieselbe Hand, die gemäß dem ewigen Ratschluß Gottes mir die Brust öffnete, um zu zeigen, dass das Herz schon eine tödliche Wunde hatte, die Wunde, die der Mangel an Liebe, die Feigheit und der Verrat geschlagen hatten. Ein Heide. Ich erinnere euch an die Worte: „Ich war durstig, und du hast mich getränkt.“ Kein einziger in ganz Israel hat meinen Durst gelöscht. Die Mutter und die treuen Frauen nicht, weil es ihnen nicht möglich war, die anderen aus bösem Willen nicht. Ein Heide hat für den Unbekannten das Mitleid empfunden, dass mein Volk mir verweigert hatte. Er wird im Himmel den mir angebotenen Schluck wiederfinden.

Wahrlich, ich sage euch, wenn ich auf jeglichen Trost verzichtet habe, da man als Sühnopfer sein Los nicht zu mildern suchen soll, so wollte ich doch den Heiden nicht abweisen; denn in seiner Hilfe fühlte ich die Süße der ganzen Liebe, die mir von den Heiden entgegengebracht werden wird als Ausgleich für die Bitterkeit, die mir Israel gegeben hat. Er hat meinen Durst nicht gestillt. Aber er hat die Trostlosigkeit von mir genommen. Deshalb habe ich diesen unbeachteten Schluck angenommen. Um den an mich zu ziehen, der sich schon dem Guten zugewandt hatte. Der Vater möge ihn segnen für sein Erbarmen!

Ihr sagt nichts mehr? Warum fragt ihr nicht noch einmal nach dem Grund, weshalb ich so gehandelt habe? Wagt ihr nicht mehr zu fragen? Ich werde ihn euch sagen. Alles will ich euch sagen über die Gründe dieser Stunde.

Wer seid ihr? Meine Nachfolger. Ja. Ihr seid es trotz eurer Verwirrung.

Was habt ihr zu tun? Ihr habt die Welt zu Christus zu bekehren. Bekehren! Dies ist eine sehr heikle und schwierige Arbeit, meine Freunde. Verachtung, Abscheu, Hochmut und übertriebener Eifer sind dem Erfolg nicht dienlich. Und da nichts und niemand euch zur Güte, zur Nachgiebigkeit und zur Barmherzigkeit gegenüber denen, die noch im dunkeln sind, bewegen könnte, war es notwendig – versteht ihr? – notwendig, dass euer Stolz als Hebräer, als Männer, als Apostel zerbrochen wird, um Platz zu schaffen für die wahre Weisheit eurer Aufgabe, für die Sanftmut, die Geduld, die Barmherzigkeit und die Liebe ohne Hochmut und Abscheu.

Ihr seht, dass alle, die ihr verächtlich oder mit stolzem Mitleid betrachtet habt, euch im Glauben und Handeln übertroffen haben. Alle! Die einstige Sünderin und Lazarus, der trotz seiner umfangreichen profanen Bildung der erste war, der in meinem Namen verziehen und den Weg gewiesen hat. Die heidnischen Frauen und die schwache Gattin des Chuza. Schwach? Wahrlich, sie übertrifft euch alle! Sie ist die erste Märtyrerin meines Glaubens. Und die Soldaten Roms, die Hirten und der Herodianer Manaen. Sogar Gamaliel, der Rabbi. Erschrick nicht, Johannes. Glaubst du, mein Geist sei in der Finsternis gewesen? Alle. Und dies, damit ihr morgen an euer Versagen denkt und euer Herz denen nicht verschließt, die zum Kreuz kommen.

Ich sage es euch und weiß schon jetzt, dass ihr es, obwohl ich es sage, dennoch erst tun werdet, wenn die Kraft des Herrn euch wie Halme meinem Willen beugen wird, der darin besteht, auf der ganzen Welt Christen zu haben. Ich habe den Tod besiegt. Doch er ist weniger hartnäckig als das alte Hebräertum. Aber ich werde euch beugen.

Anstatt zu weinen und zu jammern, Petrus, der du der Fels meiner Kirche sein sollst, präge dir diese bittere Wahrheit in dein Herz ein. Die Myrrhe wird verwendet, um vor Verwesung zu bewahren. Tränke dich also mit Myrrhe. Und solltest du einmal dein Herz und die Kirche einem Andersgläubigen verschließen wollen, dann denke daran, dass nicht Israel, nicht Israel, nicht Israel, sondern Rom mich verteidigt hat und Mitleid walten lassen wollte. Vergiß nie, dass nicht du, sondern eine Sünderin am Fuß des Kreuzes ausgeharrt hat und dass sie deshalb verdient hat, mich als erste zu sehen. Und damit du nicht Tadel verdienst, ahme deinen Gott nach. Öffne dein Herz und die Kirche und sage: „Ich, der arme Petrus, kann nicht verachten, denn wenn ich verachte, wird Gott mich verachten, und mein Fehler wird vor seinen Augen wiedererstehen.“ Wehe, wenn ich dich nicht so zerbrochen hätte! Nicht Hirte, ein Wolf wärest du geworden!»

Jesus steht auf. In strahlender Majestät.

«Meine Söhne. Ich werde noch zu euch reden in der Zeit, da ich unter euch weile. Doch einstweilen spreche ich euch los und verzeihe euch. Nach dieser Prüfung, die zwar demütigend und grausam, aber auch heilsam und notwendig war, erfülle euch der Friede der Vergebung. Und mit diesem Frieden im Herzen werdet ihr wieder meine treuen und starken Freunde sein. Der Vater hat mich in die Welt gesandt. Ich sende euch in die Welt, damit ihr fortfahrt, meine Lehre zu verkünden. Elend aller Art wird zu euch kommen und euch um Hilfe bitten. Seid gütig und denkt an euer eigenes Elend, als ihr ohne euren Jesus wart. Seid erleuchtet, denn in der Finsternis kann man nicht sehen. Seid rein, um Reinheit zu vermitteln. Seid Liebe, um lieben zu können. Dann wird der kommen, der Licht, Reinheit und Liebe ist. Inzwischen aber will ich euch auf euer Amt vorbereiten: Empfanget den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden nachlaßt, denen sind sie nachgelassen. Und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten. Eure Erfahrung mache euch gerecht, damit ihr gerecht urteilt. Der Heilige Geist heilige euch, damit ihr heiligt. Der aufrichtige Wille, eure Mängel zu überwinden, lasse euch heroisch werden für das Leben, dass euch erwartet. Was noch zu sagen ist, werde ich euch sagen, wenn auch der Abwesende hier ist. Betet für ihn. Bleibt in meinem Frieden und zweifelt nie an meiner Liebe.»

Und Jesus verschwindet so wie er gekommen ist und hinterläßt einen leeren Platz zwischen Johannes und Petrus. Er verschwindet in einem Aufleuchten, dass alle zwingt, die Augen zu schließen, so hell ist es.

Und als sie die geblendeten Augen wieder öffnen, ist nur der Friede Jesu geblieben; eine Flamme, die brennt, heilt und die Bitterkeit der Vergangenheit in einem einzigen Wunsch verzehrt: dem Wunsch zu dienen.