12.02.2016

198. JESUS IN GERGESA; DIE JÜNGER DES JOHANNES

nach Maria Valtorta

Jesus spricht in einer Stadt, die ich noch nie gesehen habe. So scheint es mir jedenfalls, denn mehr oder weniger gleichen sich die Städte alle, und es ist nicht leicht, sie auf den ersten Blick auseinanderzuhalten. Auch hier führt eine Straße am See entlang, und am Ufer liegen Boote. Häuser und Häuschen reihen sich längs der Straße aneinander, doch die Hügel sind hier viel weiter entfernt, und das Städtchen liegt in einer anmutigen Ebene, die bis zum Ostufer reicht und durch die Hügelkette vor den Winden geschützt ist. So hat die Sonne die Bäume hier mehr noch als in anderen Gegenden zu voller Blüte gebracht.

Mir scheint, die Predigt habe schon begonnen, denn Jesus sagt: «... Es ist wahr. Ihr sagt: „Wir werden dich nie verlassen, denn dich verlassen würde bedeuten, Gott verlassen.“ Aber, ihr Leute von Gergesa, bedenkt, dass nichts wandelbarer ist als das menschliche Denken. Ich bin überzeugt, dass ihr es in diesem Augenblick wirklich ehrlich meint. Mein Wort und das Wunder haben euch in diesem Sinn begeistert, und daher seid ihr jetzt aufrichtig in dem, was ihr bezeugt. Doch ich möchte euch an eine Begebenheit erinnern, eine der vielen aus Gegenwart und Vergangenheit, die ich hier anführen könnte:

Josua, der Diener des Herrn, versammelte vor seinem Tod alle Stämme mit ihren Ältesten, Oberhäuptern, Richtern und Amtspersonen und sprach zu ihnen von Gott. Er erinnerte sie an alle Wohltaten und Wunder, die ihnen vom Herrn durch seinen Diener gewährt wurden. Nachdem er ihnen alles aufgezählt hatte, ermahnte er sie, alle Götter zurückzuweisen und dem Herrn allein zu dienen, oder wenigstens so aufrichtig im Glauben zu sein, sich in ehrlicher Weise für den wahren Gott oder für die Götter Mesopotamiens und der Amoriter zu entscheiden, auf dass eine klare Trennung zwischen den Söhnen Abrahams und jenen, die zum Heidentum übergegangen sind, bestehe.

Besser ein mutiger Fehler, als ein scheinheiliges Bekenntnis und ein Glaubensgewirr, dass Gott ein Greuel ist und für die Seelen den Tod bedeutet. Nichts ist einfacher und verbreiteter als dieses Durcheinander aus verschiedenen Religionen. Dem Anschein nach handelt es sich um etwas Gutes, doch sein Kern ist nicht gut. Auch heute noch, Brüder, immer noch gibt es jene Gläubigen, welche die Erfüllung des Gesetzes mit dem vermischen, was von Gesetzes wegen verboten ist. Immer noch gibt es jene Unglücklichen, die wie Betrunkene zwischen Gesetzestreue und den vorteilhaften Geschäften und Kompromissen mit den Übertretern des Gesetzes umhertaumeln und sich bereichern. Es gibt jene Priester, jene Schriftgelehrten und Pharisäer, die aus dem Dienst Gottes nicht mehr Zweck und Ziel ihres Lebens machen, sondern eine geschickte Politik, um über die anderen zu triumphieren und die Ehrbaren ihrer Gewalt zu unterwerfen. Sie sind eben nicht Diener Gottes, sondern Diener einer zur Verwirklichung ihrer Absichten starken und wertvollen Macht. Sie sind nur Heuchler, die unsern Gott mit fremden Göttern vermischen.

Da antwortete das Volk Josua: „Nie werden wir den wahren Gott verlassen, um fremden Göttern zu dienen.“ Josua entgegnete ihm das, was ich euch über die heilige Eifersucht des Vaters gesagt habe, über seine Forderung, als Einziger geliebt zu werden und mit unserem ganzen Sein und über seine gerechte Strafe, die die Lügner trifft. Die Strafe! Gott kann strafen, wie er Wohltaten spenden kann. Man wird nicht nur nach dem Tode belohnt oder bestraft. Schau, Volk der Hebräer, ob Gott dich nicht einmal, zweimal, ja zehnmal für deine Missetaten bestraft hat, nachdem er dir soviel Gutes erwiesen hatte: er befreite dich von den Pharaonen, er führte dich durch die Wüste und alle Gefahren zur Sicherheit, er rettete dich vor den Nachstellungen der Feinde und gewährte dir, eine große, geachtete und ruhmreiche Nation zu werden! Betrachte, was nun aus dir geworden ist! Ich, der ich dich dem frevelhaftesten Götzendienst ergeben sehe, erkenne auch den Abgrund, in den du infolge deines Verharrens in den alten Sünden stürzen wirst. Ich ermahne dich daher, Volk, dass ich zweifach mein Eigen nenne, da ich dein Erlöser bin und aus dir geboren wurde. Ich spreche nicht aus Haß, Groll oder Unnachgiebigkeit. Diese meine Mahnung entspringt, wenn sie auch streng ist, meiner Liebe.

Josua sagte alsdann: „Ihr seid Zeugen: ihr habt den Herrn gewählt“, und alle antworteten: „Ja.“ Josua, der nicht nur tapfer, sondern auch weise war und wußte, wie wankelmütig der Wille des Menschen ist, schrieb hierauf in das Buch alle Worte des Gesetzes und des Bundes und legte diese Satzungen in den Tempel und auch ins Heiligtum des Herrn zu Sichern, dass zu dieser Feier das Zelt enthielt. Er richtete einen großen Stein zum Zeugnis auf und sprach: „Dieser Stein, der eure Worte an den Herrn vernommen hat, soll Zeuge sein, auf dass ihr den Herrn, euren Gott, nicht verleugnen und belügen könnt.“

Ein Stein, so groß und hart er auch sein mag, kann vom Menschen, von einem Blitz, vom Wasser und von der Witterung in Staub verwandelt werden. Ich aber bin der ewige Eckstein und kann nicht vernichtet werden. Belügt nicht diesen lebendigen Stein. Liebt ihn nicht nur deshalb, weil er Wunder wirkt. Liebt ihn, weil ihr durch ihn den Himmel erlangen werdet. Ich wünschte, dass ihr gläubiger und dem Herrn getreuer wäret. Ich sage nicht „mir“, denn ich bin nur, weil ich die Stimme des Vaters bin. Doch wenn ihr mich schmäht, beleidigt ihr auch den, der mich gesandt hat. Ich bin das Mittel. Er ist alles. Sammelt von mir und bewahrt in euch, was heilig ist, um zu diesem Gott zu gelangen. Liebt nicht den Menschen in mir, liebt den Messias des Herrn nicht der Wunder wegen, sondern weil er in euch das innere und erhabene Wunder eurer Heiligung wirken will.»

Jesus segnet das Volk und begibt sich zu einem Haus. Er ist schon fast auf der Schwelle, als er von einer Gruppe älterer Männer aufgehalten wird, die ihn ehrfürchtig grüßen und sagen: «Dürfen wir dir einige Fragen stellen, Herr? Wir sind Jünger des Täufers, und da dieser immer von dir spricht und auch, weil der Ruf deiner Wunder zu uns gelangt ist, wollten wir dich kennenlernen. Nun, da wir dich gehört haben, möchten wir dir eine Frage stellen.»

«Sprecht sie nur aus. Wenn ihr Jünger des Johannes seid, befindet ihr euch bereits auf dem Weg der Gerechtigkeit.»

«Als du über die allgemeine Abgötterei der Gläubigen gesprochen hast, hast du gesagt, dass es unter uns einige gibt, die sowohl mit gesetzestreuen Leuten als auch mit solchen, die dem Gesetz nicht unterstellt sind, Handel treiben. Und auch du bist ein Freund von letzteren. Wir wissen, dass du die Römer nicht verachtest. Also? ...»

«Ich leugne es nicht. Doch könnt ihr behaupten, dass ich es tue, um einen Gewinn daraus zu ziehen? Könnt ihr sagen, dass ich ihnen schmeichle, um ihre Gunst zu genießen?»

«Nein, Meister, dessen sind wir mehr als sicher. Doch die Welt besteht nicht nur aus Menschen wie wir, die nur an das Böse glauben wollen, dass sie mit eigenen Augen sehen, und nicht an das, was andere erzählen. Sage uns nun die Gründe, die einen Kontakt mit den Heiden rechtfertigen, damit wir von dir lernen und dich verteidigen können, wenn dich jemand in unserer Gegenwart verleumden sollte.»

«Es ist schlecht, um menschlicher Ziele willen solche Kontakte zu pflegen, doch wenn sie dazu dienen, diese Menschen zu unserem Herrn und Gott zu führen, ist es nicht schlecht. Das tue ich. Wäret ihr Heiden, würde ich euch erklären, dass jeder Mensch von einem einzigen Gott kommt. Doch ihr seid Hebräer und Jünger des Johannes. Ihr seid die Auslese der Hebräer, und es ist nicht nötig, dass ich es euch erkläre. Ihr könnt also verstehen und glauben, dass es meine Pflicht ist – da ich das Wort Gottes bin – das Wort dieses Vaters allen Menschen, allen Kindern des Vaters, zu verkünden.»

«Aber sie sind doch keine Kinder Gottes, wenn sie Heiden sind ...»

«Was die Gnade anbelangt, sind sie es nicht. Wegen ihres Irrglaubens sind sie es nicht, dass ist wahr. Aber solange ich euch nicht erlöst habe, bleibt auch der Hebräer ohne Gnade, denn der Makel der Erbsünde hindert den göttlichen Strahl der Gnade, in die Herzen niederzusteigen. Dank seiner Erschaffung bleibt der Mensch das Kind Gottes. Von Adam, dem Stammvater der ganzen Menschheit, stammen sowohl die Hebräer als auch die Römer ab, und Adam ist Kind des Vaters, der ihm seine geistige Ähnlichkeit gegeben hat.»

«Das ist wahr. Noch eine Frage, Meister. Warum fasten die Jünger des Johannes so oft und die deinen nicht? Wir wollen nicht sagen, dass du nicht essen sollst. Auch der Prophet Daniel war in den Augen Gottes heilig, trotz seines hohen Ansehens am Hofe von Babylon; und du bist größer als er. Aber sie ...»

«Was man mit Strenge oft nicht erreicht, erreicht man mit Freundlichkeit. Es gibt Menschen, die nie von selbst zum Meister kommen würden, daher muss der Meister zu ihnen gehen. Andere würden wohl zum Meister kommen, aber sie schämen sich vor den Mitmenschen, und auch sie muss der Meister aufsuchen. Da sie mir sagen: „Sei mein Gast, damit ich dich kennenlernen kann“ ' gehe ich zu ihnen, nicht der reichen Tafel und der für mich oft so mühsamen Reden wegen, sondern wiederum und stets nur im Interesse Gottes. Dies gilt für mich. Da sich oft wenigstens eine der Seelen, denen ich mich nähere, bekehrt, und jede Bekehrung ein Hochzeitsfest für meine Seele bedeutet, ein großes Fest, an dem alle Engel des Himmels teilnehmen und das dem ewigen Gott zum Ruhm und zur Freude gereicht, so frohlocken auch alle meine Jünger als Freunde des Bräutigams vereint mit dem Bräutigam und Freund. Sollen die Freunde trauern, während ich frohlocke und noch unter ihnen weile? Doch die Zeit wird kommen, da ich nicht mehr unter ihnen weile, und dann werden sie streng fasten. Die neuen Zeiten werden neue Methoden mit sich bringen. Bis gestern, bis zur Zeit des Täufers, war es die Asche der Buße. Heute jedoch, in meiner Zeit, gibt es das süße Manna der Erlösung, der Barmherzigkeit und Liebe. Die Methoden früherer Zeiten könnten nicht auf meine Zeit übertragen werden, so wie meine Methode früher nicht gelten konnte, weil damals die Barmherzigkeit noch nicht auf Erden war. Jetzt ist sie unter euch. Nicht mehr der Prophet, sondern der Messias, dem Gott alles

übergeben hat, ist auf der Erde. Jede Zeit hat die für sie nützlichen Dinge. Niemand näht ein Stück neuen Tuches auf ein altes Gewand, denn beim Waschen geht der neue Stoff ein und wird der Riß im alten noch größer. Ebenso füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche, denn die alten Schläuche würden durch die Gärung des Weines bersten und der Wein würde auslaufen. Der alte Wein, der schon alle seine Umwandlungen durchgemacht hat, gehört in alte Behälter, und der neue Wein in neue. Daher soll eine Kraft einer anderen, ebenso starken gegenübergestellt werden. Dies geschieht jetzt. Die Kraft der neuen Lehre erfordert neue Methoden ihrer Verbreitung, und ich, der ich es weiß, bediene mich ihrer.»

«Danke, Herr, nun sind wir zufrieden. Bete für uns. Wir sind alte Schläuche. Werden wir deine Kraft in uns aufnehmen können?»

«Ja, denn der Täufer hat euch schon vorbereitet, und seine Gebete, vereint mit den meinen, werden euch zu vielem fähig machen. Geht mit meinem Frieden und sagt Johannes, dass ich ihn segne.»

«Aber ... ist es besser für uns, beim Täufer zu bleiben oder bei dir?»

«Solange es den alten Wein gibt, soll man von diesem trinken, da der Gaumen sich an den Geschmack gewöhnt hat. Später... wenn euch das faule Wasser, dass ihr überall vorfindet, anekelt, werdet ihr den neuen Wein schätzen.»

«Glaubst du, dass der Täufer wieder gefangengenommen wird?»

«Ganz sicher. Ich habe ihn schon warnen lassen. Geht nun, geht. Freut euch eures Johannes, solange es möglich ist, und macht im Freude. Später werdet ihr mich lieben, und dies wird euch nicht einmal leicht fallen... denn niemand, der sich an den alten Wein gewöhnt hat, möchte plötzlich zum neuen Wein übergehen. Er sagt: „Der alte war besser“ ' und tatsächlich wird es Unterschiede geben, die euch bitter erscheinen. Doch mit der Zeit werdet ihr euch mit dem lebendigen Geschmack vertraut machen. Lebt wohl, Freunde. Gott sei mit euch!»