13.09.2016

JESUS IN NAZARETH; „SOHN, ICH WERDE MIT DIR KOMMEN“

nach Maria Valtorta

Jesus ist allein. Er schreitet rasch auf der Hauptstraße, die nach Nazaret führt, dahin und wendet seine Schritte beim Betreten der Stadt sogleich seinem Hause zu. Als er in dessen Nähe angelangt ist, sieht er seine Mutter, die ebenfalls nach Hause geht und vom Neffen Simon begleitet wird, der ein trockenes Reisigbündel auf den Schultern trägt. Er ruft sie: »Mutter!«

Maria wendet sich um und ruft aus: »Oh! Mein gesegneter Sohn!« und beide eilen einander entgegen, während Simon, der seine Last zu Boden geworfen hat, Maria nachahmt und seinem Vetter entgegengeht, den er herzlich begrüßt.

»Meine Mutter, ich bin gekommen. Bist du nun glücklich?«

»So sehr, mein Sohn. Aber . . . wenn du nur auf meine Bitte hin gekommen bist, so möchte ich dir sagen, dass es weder mir noch dir erlaubt ist, mehr der Stimme des Blutes als jener der Sendung zu gehorchen.«

»Nein, Mutter, ich bin auch anderer Dinge wegen gekommen.«

»Es ist also wahr, mein Sohn? Ich glaubte – ich wollte glauben – dass es lügnerische Gerüchte wären und dass man dich nicht so hassen würde . . . « Tränen sind in der Stimme und in den Augen der Mutter.

»Weine nicht, Mutter. Bereite mir nicht diesen Schmerz. Ich brauche dein Lächeln.«

»Ja, Sohn, ja! Es ist wahr. Du siehst so viele harte und feindliche Gesichter, dass du viel Liebe und Lächeln brauchst. Aber hier, siehst du, ist jemand, der dich für alle liebt . . . «

Maria hat sich leicht an ihren Sohn gelehnt, der ihr den Arm um die Schultern legt. Sie versucht auf dem Weg nach Hause zu lächeln, um jede Sorge im Herzen Jesu auszulöschen. Simon hat sein Reisigbündel wieder auf seine Schultern genommen und geht neben Jesus einher.

»Du bist blaß, Mutter. Hat man dir viel Kummer bereitet? Bist du krank gewesen? Hast du dich zu sehr abgemüht?«

»Nein, Sohn, nein! Ich habe sonst keine Sorgen. Mein einziges Leid ist, dich fern und nicht geliebt zu wissen. Doch hier sind sie alle sehr gut zu mir. Ich meine nicht nur Maria und Alphäus, du weißt ja, wie sie sind. Aber auch Simon, siehst du, wie gut er ist? So gut ist er immer. Er war mir in den letzten Monaten eine große Stütze. Nun versorgt er mich mit Holz. Er ist so lieb und auch Josef, weißt du? Sie sind so aufmerksam gegenüber ihrer Maria.«

»Gott segne dich, Simon, und er segne auch Josef. dass ihr mich noch nicht als Messias liebt, kann ich euch verzeihen. Oh, zur Liebe Christi werdet ihr noch gelangen. Aber wie könnte ich euch verzeihen, wenn ihr sie nicht lieben würdet?«

»Maria zu lieben ist gerecht und bedeutet Friede, Jesus. Aber auch du wirst geliebt . . . nur, weißt du, wir machen uns große Sorgen um dich.«

»Ja, ihr liebt mich auf menschliche Weise, doch ihr werdet auch noch zur anderen Liebe gelangen.«

»Aber auch du, mein Sohn, bist blaß und abgemagert.«

»Ja, du scheinst älter geworden zu sein. Auch ich sehe es«, bemerkt Simon.

Sie betreten das Haus, und Simon zieht sich rücksichtsvoll zurück, nachdem er die Reisigbündel an ihren Ort gebracht hat.

»Sohn, da wir nun allein sind, sage mir die Wahrheit, die ganze. Warum hat man dich vertrieben?« Maria hat beim Sprechen die Hände auf die Schultern Jesu gelegt und blickt ihm ins abgemagerte Antlitz.

Jesus lächelt sanft und müde: »Weil ich versucht habe, die Menschen zur Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und zum wahren Glauben zu führen.«

»Wer aber beschuldigt dich? Das Volk?«

»Nein, Mutter, die Pharisäer und die Schriftgelehrten, mit Ausnahme einiger Gerechter unter ihnen.«

»Aber was hast du getan, um von ihnen beschuldigt zu werden?«

»Ich habe die Wahrheit gesagt. Weißt du nicht, dass dies als größtes Vergehen in den Augen der Menschen gilt?«

»Was haben sie denn sagen können, um ihre Anklagen zu rechtfertigen?«

»Lügen! Solche, die du kennst, und andere dazu.«

»Nenne sie deiner Mutter. Lege deinen ganzen Schmerz in mein Herz. Ein Mutterherz ist an den Schmerz gewöhnt und erträgt ihn gerne, wenn es damit das Herz des Sohnes erleichtern kann. Gib mir deinen Schmerz, Jesus. Setze dich hierher, wie du es als Kind tatest, und mach dich frei von aller Bitterkeit.«

Jesus setzt sich auf ein Bänkchen zu Füßen der Mutter und berichtet alles, was während der letzten Monaten in Judäa geschehen ist, ohne Groll und ohne etwas zu verhüllen.

Maria streicht ihm sanft übers Haar, während sie mit einem heroischen Lächeln auf ihren Lippen gegen die Tränen ankämpft, die in ihren blauen Augen schimmern. Jesus spricht auch von der Notwendigkeit, sich gewissen Frauen zu nähern, um sie retten zu können, und von seinem Schmerz darüber, dass er daran der menschlichen Bosheit wegen gehindert ist. Maria stimmt zu und beschließt dann:

»Sohn, du darfst mir meinen Wunsch nicht versagen: von nun an werde ich mit dir kommen, wenn du von hier weggehst, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit und an jeden Ort, wo es auch sei. Ich will dich vor Verleumdung schützen. Meine Gegenwart wird den Schmutz abwehren. Maria wird mit dir kommen. Sie wünscht es so sehr. Das braucht es neben dem Heiligen und gegen Satan und die Welt: das Herz der Mütter.«