21.05.2016

JESUS SPRICHT IN BETHANIEN

nach Maria Valtorta

Jesus befindet sich in Bethanien, dass grün und mit Blüten übersät daliegt in diesem schönen Monat Nisam, der so heiter und klar ist, als ob die Schöpfung sich reingewaschen hätte. Die Menge, die ihn sicherlich in Jerusalem gesucht hat und nicht abreisen will, ohne ihn gehört zu haben, um sein Wort in ihrem Herzen mit nach Hause zu nehmen, hat ihn dort erreicht. Sie ist so zahlreich, dass Jesus gebietet, alle zu versammeln, damit er sie belehren kann. Die Zwölf mit den zweiundsiebzig Jüngern (dies ist ungefähr die Anzahl, auf die sie in der letzten Zeit angewachsen sind), verstreuen sich, um den erhaltenen Befehl auszuführen.

Inzwischen nimmt Jesus im Garten des Lazarus von den Frauen und besonders von der Mutter Abschied, die seiner Anordnung zufolge nach Galiläa zurückkehren werden, begleitet von Simon des Alphäus, Jairus, Alphäus der Sara, Margziam, vom Gatten der Susanna und von Zebedäus. Es gibt Abschiedsgrüße und Tränen. Viele verspüren den starken Wunsch, nicht zu gehorchen. Ein Wunsch, der der Liebe zum Meister entspringt, doch die Kraft der vollkommenen Liebe zum Meister gewinnt die Oberhand, da sie ganz übernatürlicher Art ist und dem allerheiligsten Worte gilt, und diese Kraft läßt sie gehorchen und die schmerzliche Trennung annehmen.

Wer am wenigsten spricht, ist Maria, seine Mutter. Doch ihr Blick sagt mehr als alle Worte der anderen zusammen. Jesus versteht diesen Blick, und er beruhigt, tröstet und sättigt sie mit Liebkosungen, wenn man überhaupt eine Mutter damit sättigen kann, zumal diese Mutter, die ganz Liebe und Kummer um ihren verfolgten Sohn ist. Die Frauen entfernen sich schließlich, wobei sie sich immer wieder umwenden, um den Meister, die Söhne und die glücklichen Jüngerinnen von Judäa, die noch beim Meister bleiben dürfen, zu grüßen.

«Es ist ihnen schwergefallen, aufzubrechen ...» bemerkt Simon der Zelote.

«Es ist gut, dass sie gegangen sind, Simon.»

«Siehst du traurige Tage voraus?»

«Stürmische wenigstens. Die Frauen können nicht wie wir die Mühseligkeiten ertragen. Nun, da die Jüngerinnen von Judäa und Galiläa fast gleich an der Zahl sind, ist es gut, sie zu teilen. Sie werden abwechselnd bei mir sein und somit abwechselnd die Freude haben, mir zu dienen, wie ich abwechselnd den Trost ihrer heiligen Zuneigung haben werde.»

Immer mehr Menschen kommen hinzu. Im Obstgarten, zwischen dem Haus des Lazarus und dem ehemaligen Besitz des Zeloten, wimmelt es von Menschen. Ich sehe Leute aller Stände, und es fehlen auch nicht Pharisäer von Judäa, Synedristen und verschleierte Frauen.

Aus dem Haus des Lazarus kommt eine Gruppe, die sich um die Bahre drängt, auf der Lazarus liegt. Es sind die Synedristen, die Lazarus am Passahsabbat in Jerusalern besucht haben, und noch andere Leute. Lazarus winkt den Vorübergehenden mit der Hand und widmet Jesus ein seliges Lächeln. Jesus erwidert es, während er sich dem kleinen Zug anschließt, um dorthin zu gehen, wo ihn das Volk erwartet.

Die Apostel schließen sich ihm an, und Judas Iskariot, der seit einigen Tagen triumphiert und sich in einer glücklichen Phase befindet, blickt mit seinen tiefschwarzen, schimmernden Augen in alle Richtungen und flüstert Jesus seine Entdeckungen ins Ohr.

«Oh, schau nur! Es sind auch Priester da! ... Schau, schau! Auch Simon vom Hohen Rat. Sogar Elchias ist da. Sieh nur, welch ein Lügner! Noch vor wenigen Monaten sagte er die schlimmsten Dinge über Lazarus und nun begrüßt er ihn wie einen Gott ... und dort die Ratsherren Doros und Trison. Siehst du, wie er Joseph begrüßt? Und der Schreiber Samuel mit Saulus... und der Sohn des Gamaliel! Dort ist eine Gruppe von Herodianern... und jene so tief verschleierten Frauen sind sicher Römerinnen. Sie stehen abseits, aber schau nur, wie sie achtgeben, wohin du gehst, um einen Platz zu finden, von dem aus sie dich hören können! Ich erkenne einige trotz ihrer weiten Mäntel. Siehst du? Zwei hohe Frauen, die eine breiter als hoch; die andere von mittlerer Statur, aber gut proportioniert. Soll ich hingehen und sie begrüßen?»

«Nein. Sie kommen als Unbekannte, die nach dem Wort des Rabbi verlangen, und als solche müssen wir sie betrachten.»

«Wie du willst, Meister. Ich würde es tun, um... Claudia an ihr Versprechen zu erinnern...»

«Das ist nicht nötig, und selbst, wenn es das wäre, wollen wir nie Bettler werden, nicht wahr, Judas? Der Heroismus im Glauben muss sich in den schwierigen Lebenslagen heranbilden.»

«Aber es wäre für... dich... Meister.»

«Und für deine immerwährende Idee von einem menschlichen Triumph, Judas, gib dich keinen Illusionen hin, weder was mein künftiges Handeln noch was die gegebenen Versprechen betrifft. Du glaubst an das, was du dir selbst sagst. Aber nichts kann den Gedanken Gottes ändern, und der besteht darin, dass ich der Erlöser und der König eines geistigen Reiches bin.»

Judas entgegnet nichts.

Jesus ist an seinem Platz im Kreise der Apostel. Fast zu seinen Füßen ist Lazarus auf seiner Bahre. Nicht weit von ihm befinden sich die Jüngerinnen von Judäa, also die Schwestern des Lazarus, Elisa, Anastasica, Johanna mit den Kindern, Annalia, Sara, Marcella und Nike.

Die Römerinnen, oder die, die Judas dafür hält, haben sich weiter hinten, fast ganz im Hintergrund, unter das einfache Volk gemischt.

Synedristen, Pharisäer, Schriftgelehrte und Priester sind selbstverständlich in der ersten Reihe. Aber Jesus bittet sie, Platz zu machen für drei Bahren, auf denen Kranke liegen, die er befragt, aber nicht sofort heilt.

Um einen Grundgedanken für seine Predigt zu haben, macht Jesus die Anwesenden auf die große Anzahl von Vögeln aufmerksam, die sich in den Bäumen des Gartens des Lazarus und in denen des Obstgartens, in dem die Zuhörer versammelt sind, eingenistet haben.

«Beobachtet sie. Es sind einheimische und fremdartige darunter, alle Arten und Größen, und wenn dann die Schatten herniedersteigen, werden die Vögel der Nacht ihren Platz einnehmen. Auch diese sind zahlreich, obgleich man sie fast vergessen könnte, weil man sie ja nicht sieht. Warum sind hier so viele Vögel in der Luft? Weil sie alles Notwendige finden, um glücklich zu leben. Hier haben sie Sonne, Ruhe, reichliche Nahrung, sicheren Unterschlupf und frisches Wasser. Hier versammeln sie sich aus Osten und Westen, aus Norden und Süden, wenn es Zugvögel sind, oder aber sie bleiben diesem Ort treu, wenn es sich um einheimische handelt. Sind diese Vögel also den Menschenkindern an Klugheit überlegen? Wie viele unter diesen Vögeln sind Jungen bereits gestorbener Vögel, die aber im vergangenen Jahr oder noch früher hier genistet und Nahrung gefunden haben. Sie haben es ihrer Brut vor dem Sterben mitgeteilt. Sie haben ihr diesen Ort empfohlen, und die Nachkommen sind gehorsam wieder hierher zurückgekehrt.

Der Vater im Himmel, der Vater aller Menschen, hat nicht auch er seinen Heiligen seine Wahrheit anvertraut und alle möglichen Anweisungen für das Wohl seiner Kinder gegeben? Alle Anweisungen, sowohl für das Wohl des Fleisches als auch für das Wohl des Geistes. Aber was sehen wir nun? Wir sehen, dass das, was für das Fleisch bestimmt ist – von den Fellschürzen angefangen, die er den Stammeltern gab, nachdem sie durch die Sünde das Kleid der Unschuld verloren hatten, bis zu den letzten Entdeckungen, die der Mensch durch die Erleuchtung Gottes gemacht hat -durchaus nicht vergessen wird, während das, was für den Geist gelehrt, befohlen und überliefert wurde, nicht gelehrt und angewandt wird.»

Viele vom Tempel beginnen zu murren. Aber Jesus beruhigt sie Mit einer Geste.

«Der Vater, der so gut ist, wie es sich kein Mensch auch nur im entferntesten vorstellen kann, entsendet seinen Knecht, um seine Lehre in Erinnerung zu rufen, die Vöglein an den Orten des Heiles zu vereinen und ihnen die genaue Kenntnis dessen zu vermitteln, was für sie nützlich und heilig ist, um das Reich zu gründen, in dem jeder engelgleiche Vogel, jeder Geist, Gnade und Frieden, Weisheit und Heil finden wird. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wie die Vögel, die an diesem Ort geboren wurden, im Frühling zu anderen aus anderen Gegenden sagen werden: „Kommt mit uns, denn wir kennen einen Ort, an dem ihr Frieden und Überfluß genießen könnt“; und wie im neuen Jahr dann viele Vögel hier zusammenströmen werden, so werden wir aus allen Teilen der Welt, wie es die Propheten gesagt haben, Seelen über Seelen zu der von Gott gekommenen Lehre, zum Erlöser, dem Gründer des Gottesreiches, strömen sehen.

Aber unter die Tagvögel dieses Ortes mischen sich auch Nachtvögel, Raubvögel, Friedensstörer, die fähig sind, Tod und Schrecken unter den guten Vögeln zu verbreiten, und es sind Vögel, die seit Jahren, seit Generationen so sind, und nichts kann sie ausrotten, da sie ihre Werke in der Finsternis vollbringen, an Orten, die den Menschen unzugänglich sind. Diese, mit ihren grausamen Augen, ihrem lautlosen Flug, ihrer Gefräßigkeit und ihrer Grausamkeit, arbeiten in der Finsternis und säen als Unreine Unreinheit und Schmerz. Mit wem könnten wir sie vergleichen? Mit all jenen in Israel, die das Licht nicht annehmen wollen, dass gekommen ist, um die Finsternis zu erleuchten; das Wort, dass gekommen ist, um zu belehren; die Gerechtigkeit, die gekommen ist, um zu heiligen. Für sie bin ich vergeblich gekommen. Für sie bin ich vielmehr Anlaß zur Sünde, weil sie mich verfolgen und auch meine Getreuen verfolgen. Was soll ich also sagen? Das, was ich schon oft gesagt habe: „Viele werden kommen von Osten und Westen und mit Abraham und Jakob im Himmelreich zu Tische sitzen. Aber die Söhne dieses Reiches werden in die äußerste Finsternis geworfen werden.“»

«Die Söhne Gottes in der Finsternis? Du lästerst Gott!» schreit einer der widerspenstigen Synedristen. Es ist der erste Spritzer des Geifers dieser Schlangen, die sich zu lange ruhig verhalten haben und nun nicht mehr schweigen können, da sie sonst in ihrem eigenen Gift ersticken.

«Nicht die Kinder Gottes», antwortet Jesus.

«Du hast es gesagt! Du hast gesagt: „Die Söhne dieses Reiches werden in die äußerste Finsternis geworfen werden.“»

«Und ich wiederhole: die Söhne dieses Reiches, des Reiches, in dem das Fleisch, dass Blut, der Geiz, der Betrug, die Begierlichkeit und das Verbrechen regieren. Aber dieses ist nicht mein Reich, dass meinige ist das Reich des Lichtes. Das eurige ist das Reich der Finsternis. Zum Reich des Lichte werden von Osten und Westen, von Süden und Norden die gerechten Seelen gelangen, auch jene, die jetzt noch Heiden und Götzendiener sind und von Israel verachtet werden, und sie werden in heiliger Gemeinschaft mit Gott leben, denn sie werden das Licht Gottes in sich aufgenommen haben in Erwartung des Aufstieges zum wahren Jerusalern, wo es keine Tränen, keinen Schmerz und vor allem keine Lüge mehr geben wird. Die Lüge, die heute die Welt der Finsternis regiert und deren Söhne durchdringt bis zu dem Punkt, an dem kein Fünkchen von göttlichem Licht mehr von ihnen aufgenommen wird. Oh, mögen recht bald die neuen Söhne anstelle der Söhne der Verleumdung kommen! Mögen sie kommen, welches auch ihre Herkunft sei, Gott wird sie erleuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit!»

«Du hast geredet, um uns zu beleidigen!» schreien die feindlich gesinnten Judäer.

«Ich habe gesprochen, um die Wahrheit zu sagen.»

«Deine Macht liegt in der Zunge, mit der du, die neue Schlange, die Menge auf Irrwege führst.»

«Meine Macht liegt in der Kraft, die mir durch meine Einheit mit dem Vater eigen ist.»

«Du Gotteslästerer!» rufen die Priester.

«O du, der du zu meinen Füßen liegst, woran leidest du?»

«Meine Beine hängen kraftlos herab, seit dieser hier, der mich mit meinem Mann hergebracht hat, dass Licht der Welt erblickt hat», und sie deutet auf einen Jüngling von ungefähr sechzehn Jahren.

«Erhebe auch du dich und lobe den Herrn. Und der Jüngling dort, warum geht er nicht allein?»

«Weil er schwachsinnig, taub, blind und stumm geboren wurde. Ein Stück Fleisch, dass atmet», sagen die, die bei dem Unglücklichen sind.

«Im Namen Gottes habe Verstand, dass Wort, die Sehkraft und das Gehör. Ich will es!»

Und nach dem dritten Wunder wendet er sich an die feindlich Gesinnten und sagt: «Was sagt ihr nun?»

«Zweifelhafte Wunder. Warum heilst du nicht deinen Freund und Verteidiger, wenn du doch alles kannst?»

«Weil Gott es anders will.»

«Aha! Aha! Gott! Bequeme Ausrede! Wenn wir dir einen oder auch zwei Kranke bringen würden, würdest du sie heilen?»

«Ja, wenn sie es verdienen.»

«Dann warte auf uns.» Und sie gehen grinsend davon.

«Meister, sei vorsichtig! Sie wollen dir eine Falle stellen!» sagen einige.

Jesus macht eine Handbewegung, als ob er sagen wollte: «Laßt sie nur machen!» und beugt sich nieder, um Kinder zu liebkosen, die ihren Eltern weggelaufen sind und sich langsam an ihn herangemacht haben. Einige Mütter machen es ihnen nach und bringen die zu ihm, die noch zu unsicher im Gehen oder gar noch Säuglinge sind.

«Segne unsere Kinder, Gesegneter, denn wir lieben das Licht!» sagen die Mütter.

Jesus legt ihnen segnend seine Hände auf. Dies verursacht eine große Bewegung unter dem Volk. Alle, die Kinder haben, wollen denselben Segen und drängen und schreien, um sich Platz zu schaffen.

Die Apostel, teils weil sie schon durch die übliche Bosheit der Schriftgelehrten und Pharisäer nervös geworden sind, teils weil sie sich um Lazarus Sorgen machen, der Gefahr läuft, von der Flut der Eltern, die ihre Kinder zum göttlichen Segen bringen, überschwemmt zu werden, werden unruhig und weisen diesen oder jenen zurück, besonders die Kinder, die allein gekommen sind. Doch Jesus sagt sanft und liebevoll: «Nein, nein! Nicht so! Hindert nie die Kinder, zu mir zu kommen, noch ihre Eltern, sie zu mir zu bringen. Besonders für diese Unschuldigen ist das Himmelreich. Sie werden unschuldig sein an dem großen Verbrechen und im Glauben an mich heranwachsen. Laßt sie mich also weihen. Es sind ihre Engel, die sie zu mir führen!»

Jesus ist jetzt der Mittelpunkt in einem Blumenbeet von Kindern, die begeistert zu ihm aufschauen; so viele Gesichtlein, so viele unschuldige Äuglein, so viele lächelnde Mündlein...

Die verschleierten Frauen haben die Gelegenheit benützt, um in dem allgemein herrschenden Durcheinander um die Menge herumzugehen und sich hinter Jesus zu stellen, so als ob die Neugierde sie dazu getrieben hätte.

Die Pharisäer, Schriftgelehrten und andere Leute kommen mit zwei Menschen, die schwer krank zu sein scheinen, zurück. Besonders einer, der auf seiner Bahre mit einem Mantel zugedeckt ist, jammert. Der andere leidet anscheinend nicht so sehr; doch muss auch er schwer krank sein, denn er ist sehr mager und keucht.

«Sieh, unsere Freunde. Heile sie. Sie sind wirklich krank. Dieser hier vor allem!» und sie deuten auf den Seufzenden.

Jesus senkt den Blick auf die Kranken, dann richtet er ihn wieder auf die Juden. Er blickt seine Feinde mit schreckenerregenden Augen an. Aufrecht stehend hinter der Schar der unschuldigen Kinder, die ihm kaum bis an die Hüften reichen, scheint er sich aus einem Wurzelstock der Reinheit zu erheben, um Rächer zu sein, als ob er seine Kraft aus dieser Reinheit schöpfen würde. Er breitet seine Arme aus und ruft: «Ihr Lügner! Dieser ist nicht krank! Ich sage es euch. Deckt ihn auf! Sonst wird er augenblicklich sterben wegen des Betrugs, mit dem man Gott versuchen wollte.»

Der Mann springt von der Bahre auf und schreit: «Nein! Nein! Bestrafe mich nicht! Und ihr, Verfluchte, behaltet eure Münzen!» und er wirft den Pharisäern einen Beutel zu Füßen, worauf diese Reißaus nehmen.

Die Menge murrt, lacht, pfeift, klatscht Beifall...

Der andere Kranke sagt: «Und ich, Herr? Man hat mich mit Gewalt aus meinem Bett geholt und seit heute morgen habe ich keine Ruhe mehr... Aber ich wußte nicht, dass ich in die Hände deiner Feinde geraten war...»

«Du, armer Sohn, sei geheilt und gesegnet!» und er legt ihm die Hände auf, indem er den lebenden Zaun der Kinder durchschreitet.

Der Mann hebt einen Augenblick die Decke, die über seinen Körper ausgebreitet worden ist, und schaut, ich weiß nicht, auf was... Dann steht er auf. Er ist von den Schenkeln bis zu den Füßen nackt und schreit und schreit, bis er ganz heiser ist: «Mein Fuß! Mein Fuß! Aber wer bist du denn, dass du verlorene Dinge zurückgeben kannst?» Und er fällt Jesus zu Füßen und erhebt sich dann wieder, springt auf sein Bett und ruft: «Ein Übel verzehrte meine Knochen. Der Arzt hat mir die Zehen ausgerissen, dass Fleisch verbrannt und bis zum Knochen des Knies eingeschnitten. Schaut! Seht die Narben! Ich war dem Tode nahe, und nun... Nun bin ich ganz geheilt! Mein Fuß! Mein Fuß ist wiederhergestellt... und ich habe keine Schmerzen mehr! Ich habe Kraft und fühle mich wohl... Die Brust ist befreit... Das Herz geheilt! ... O Mutter! Meine Mutter! Ich komme, um dir eine große Freude zu bereiten!»

Der Geheilte will davoneilen, doch dann hält ihn die Dankbarkeit zurück. Er begibt sich aufs neue zu Jesus und küßt ihm die gesegneten Füße, bis Jesus zu ihm sagt, indem er ihm das Haar streichelt: «Geh nun! Geh zu deiner Mutter und sei gut.» Dann schaut er seine entlarvten Feinde an und donnert: «Und nun? Was soll ich mit euch nun tun? Was soll ich nun tun, ihr Menschen, nach diesem Gericht Gottes?»

Die Menge schreit: «Zur Steinigung mit diesen Gotteslästerern! Zum Tode! Ihr habt dem Heiligen genug Nachstellungen bereitet! Ihr sollt verflucht sein!» Sie greifen nach Steinen, Erdschollen, Zweigen und Kieseln, bereit, mit der Steinigung zu beginnen.

Jesus hält sie davon ab. «Das ist das Wort der Menschen. Das ist ihre Antwort. Die meine lautet anders. Ich sage: Geht! Ich werde mich nicht damit beschmutzen, euch zu bestrafen. Der Allerhöchste soll sich um euch kümmern. Er ist meine Verteidigung gegen die Gottlosen.»

Die Schuldigen haben trotz ihrer Angst vor dem Volk noch die Frechheit, den Meister zu beleidigen, und anstatt still zu sein, schreien sie schäumend vor Zorn: «Wir sind Judäer und mächtig! Wir befehlen dir, fortzugehen! Wir verbieten dir zu lehren! Wir verjagen dich. Geh fort! Genug mit dir. Wir haben die Macht in Händen und benützen sie, und werden es immer mehr tun, indem wir dich verfolgen, du Verfluchter, du Usurpator, du ...»

So kreischen sie inmitten des Geschreis, des Schluchzens und der Pfiffe, als die größere der verschleierten Frauen sich mit einer plötzlichen,

gebieterischen Bewegung und mit noch gebieterischerem Blick und gebieterischerer Stimme zwischen Jesus und seine Feinde stellt und ihr Antlitz enthüllt. Peitschend wie eine Geißel, die Galeerensträflinge trifft, und schneidend wie ein Beil, dass auf den Verbrechernacken saust, fallen ihre Worte: «Wer hat hier vergessen, dass er ein Sklave Roms ist?»

Es ist Claudia. Sie läßt den Schleier sinken und verneigt sich leicht vor dem Meister. Dann kehrt sie zu ihrem Platz zurück. Aber das hat genügt.

Die Pharisäer sind sofort ruhig, nur einer sagt im Namen aller in heuchlerischem Ton: «Herrin, verzeihe! Aber er stört den alten Geist Israels. Du, o Mächtige, solltest ihn daran hindern; du solltest es verhindern lassen durch den gerechten und tapferen Prokonsul. Langes Leben und Wohlergehen seien ihm beschieden!»

«Das geht uns nichts an. Es genügt, dass er die Ordnung Roms nicht stört, und das tut er nicht!» antwortet die Patrizierin verächtlich. Dann gibt sie ihren Begleiterinnen einen knappen Befehl und entfernt sich in Richtung auf eine Baumgruppe am Ende des Pfades, hinter der sie verschwindet, um sich dann auf einem rasselnden überdachten Wagen, dessen Vorhänge sie zuziehen läßt, zu entfernen.

«Bist du nun zufrieden, dass du uns hast beschimpfen lassen können?»fragen die wieder zum Angriff übergehenden Pharisäer und Schriftgelehrten und ihr Gefolge.

Die Menge schreit, von Unwillen ergriffen. Joseph, Nikodemus und alle, die sich als Freunde Jesu erwiesen haben – und mit ihnen, wenn auch etwas weniger entschieden, der Sohn des Gamaliel – verspüren das Bedürfnis, dazwischenzutreten und die anderen zu tadeln, weil sie das Maß überschritten haben. Nun streiten sich die beiden Gruppen, während Jesus, um den es geht, unbehelligt gelassen wird.

Jesus schweigt und hört mit verschränkten Armen zu, während er eine Kraft auszuströmen scheint, die die Menschenmenge und besonders die zornroten Apostel zurückhält.

«Wir müssen uns und auch das Volk verteidigen», schreit ein aufgeregter Jude.

«Wir sind es leid, die begeisterten Volksmengen zu sehen, die hinter ihm herlaufen», sagt ein anderer.

«Wir sind die Mächtigen! Wir allein und nur unsere Worte sollen angehört und befolgt werden», kreischt ein Schriftgelehrter.

«Geh fort von hier! Jerusalern gehört uns!» schreit ein Priester, der rot wie ein Truthahn ist.

«Ihr seid Treulose!»

«Mehr als Blinde seid ihr!»

«Das Volk verläßt euch, weil ihr es verdient!»

«Seid heilig, wenn ihr geliebt werden wollt. Nicht durch Übergriffe hält man sich an der Macht, die sich auf die Achtung des Volkes stützt, dass man regiert!» schreien die von der Gegenpartei und viele aus dem Volk.

«Ruhe!» gebietet Jesus. Und als diese eingetreten ist, sagt er: «Tyrannei und Unterdrückung können am Wohlwollen als Folge der empfangenen Wohltaten nichts ändern. Ich ernte das, was ich gegeben habe: Liebe. Ihr erreicht mit eurer Verfolgung nichts anderes, als dass ihr diese Liebe vermehrt, die mich für eure Lieblosigkeit entschädigen will. Bei all eurer Weisheit wißt ihr nicht, dass die Verfolgung einer Lehre gerade dazu dient, ihre Macht zu vermehren, besonders wenn die mit ihr verbundenen Werke ihr entsprechen. Hört euch eine meiner Vorhersagen an, ihr Israeliten. Je mehr ihr den Rabbi von Galiläa und seine Nachfolger verfolgt und versucht, seine Lehre, die göttlich ist, mit Gewalt zunichtezumachen, umso mehr wird sich diese Lehre über die ganze Welt verbreiten. Jeder Tropfen Märtyrerblut, den ihr vergießen lassen werdet in der Hoffnung, mit euren entarteten, heuchlerischen Gesetzen, die nicht mehr dem Gesetz Gottes entsprechen, zu triumphieren und zu herrschen, wird ein Same für künftige Gläubige sein, und ihr werdet besiegt werden, während ihr glaubt, triumphieren zu können. Geht. Auch ich gehe. Jene, die mich lieben, sollen mich an den Grenzen von Judäa und in Transjordanien suchen oder dort auf mich warten, denn wie ein Blitz, der von Osten nach Westen fährt, wird der Weg des Menschensohnes sein, bis er den Altar und den Thron als Hoherpriester und neuer König besteigen und unerschüttert dort sitzen wird vor dem Angesicht der Welt, der Schöpfung und des Himmels, in einer seiner vielen Erscheinungen, die nur die Guten zu begreifen vermögen.»

Die feindlichen Pharisäer und ihre Begleiter sind fortgegangen. Die anderen bleiben. Der Sohn des Gamaliel kämpft mit sich selbst, aber dann entfernt er sich wortlos...

«Meister, du wirst uns doch nicht hassen, da wir derselben Kaste angehören?» fragt Eleazar.

«Ich bestrafe nie mit dem Fluch den einzelnen, weil die Kaste schuldig ist. Habe keine Angst», antwortet Jesus.

«Nun werden sie uns hassen ...» flüstert Joachim.

«Eine Ehre für uns, wenn dem so ist!» ruft Johannes der Synedrist aus.

«Gott möge die Wankelmütigen stärken und die Starken segnen. Ich segne alle im Namen des Herrn», und mit ausgebreiteten Armen gibt er allen Anwesenden den mosaischen Segen.

Dann verabschiedet er sich von Lazarus und den Schwestern, von Maximinus und den Jüngerinnen und macht sich auf den Weg...

Die grünen Gefilde, die den Weg nach Jericho säumen, nehmen ihn auf in ihr Grün, dass sich in einem herrlichen Sonnenuntergang rötet.