05.04.2016

JESUS SPRICHT BEI NACHT MIT NIKODEMUS IM GETHSEMANE

nach Maria Valtorta

Jesus befindet sich in der Küche des kleinen Hauses im Ölgarten beim Nachtmahl mit seinen Jüngern. Sie sprechen von den Tagesereignissen, jedoch nicht von denen des zuvor beschriebenen Tages; denn ich höre von anderen Begebenheiten, unter anderem von der Heilung eines Aussätzigen bei den Gräbern längs der Straße nach Bethphage.

«Auch ein römischer Centurio war unter der Menge», sagt Bartholomäus und fügt hinzu: «Er hat mich von seinem Pferd herunter gefragt: „Macht der Mann, dem du nachfolgst, öfters ähnliche Dinge?“ Und nach meiner bejahenden Antwort hat er ausgerufen: „Dann ist er also größer als Äskulap und wird reicher werden als Krösus!“ Darauf habe ich geantwortet: „Er wird in den Augen der Welt immer arm sein, denn er nimmt nichts und gibt nur, und er will nur die Seelen zum wahren Gott führen.“ Der Centurio hat mich verwundert angesehen und dann das Pferd angespornt, um im Galopp davonzureiten.»

«Auch eine römische Dame in ihrer Sänfte war da. Es muss nur eine Frau gewesen sein. Sie hatte die Vorhänge zugezogen, doch hat sie neugierig herausgeschaut. Ich habe es gesehen», sagt Thomas.

«Ja, es war an der oberen Kurve der Straße. Sie hat anhalten lassen, als der Aussätzige ausgerufen hat: „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ Dann hat sie den Vorhang bewegt, und ich konnte sehen, wie sie dich mit einer wertvollen Lupe beobachtet und dann ironisch gelacht hat. Doch als sie bemerkte, dass du ihn nur durch dein Wort geheilt hast, da hat sie mich gerufen und gefragt: „Ist er das, den sie den Messias nennen?“ Ich habe mit „Ja“ geantwortet, und sie hat mich gefragt: „Und du bist bei ihm? Ist er wirklich gut?“» Johannes hatte gesprochen.

«So hast du sie gesehen? Wie war sie?» fragen Judas und Petrus.

«Na ja... eben eine Frau.»

«Welch eine Entdeckung!» lacht Petrus. Und Iskariot bohrt weiter: «War sie schön, jung, reich?»

«Ja, mir scheint, sie war jung und auch schön. Doch ich habe mehr zu Jesus hingeschaut als zu ihr. Ich wollte sehen, ob Jesus bereits weitergegangen war ...»

«Du Dummkopf», murmelt Iskariot zwischen den Zähnen.

«Warum?» verteidigt ihn Jakobus des Zebedäus. «Mein Bruder ist kein Geck auf der Suche nach Abenteuern. Er hat aus Anstand geantwortet. Aber er ist seiner ersten Eigenschaft nicht untreu geworden.»

«Welcher?» will Iskariot wissen.

«Jünger zu sein, dessen einzige Liebe der Meister ist.»

Judas senkt verärgert das Haupt.

«Und dann... es ist nicht gut, im Gespräch mit Römern gesehen zu werden», sagt Philippus. «Sie klagen uns schon als Galiläer an und sagen, wir seien weniger „rein“ als die Judäer. Und dies auch der Geburt wegen. Dann klagen sie uns an, dass wir oft in Tiberias sind, dem Treffpunkt der Heiden, Römer, Phönizier und Syrer. Und... oh, wegen wie vieler Dinge klagen sie uns an!»

«Du bist gut, Philippus, und ziehst einen Schleier über die Härte der Wahrheit, die du sagst. Doch ohne den Schleier ist sie dies: man klagt mich vieler, vieler Dinge an!», sagt Jesus, der bis dahin geschwiegen hat.

«Im Grunde haben sie nicht völlig unrecht. Zuviel Berührung mit den Heiden!» sagt Iskariot.

«Glaubst du, dass es nur die Heiden sind, die das Gesetz des Moses nicht haben?» fragt Jesus.

«Wer sonst?»

«Judas! ... Kannst du bei unserem Gott schwören, kein Heidentum im Herzen zu haben? Kannst du schwören, dass die Israeliten in hervorragender Stellung davon frei sind?»

«Aber Meister! ... Von anderen weiß ich es nicht... aber ich... von mir kann ich schwören ...»

«Was ist denn deiner Meinung nach das Heidentum?» fragt Jesus weiter.

«Die Befolgung einer falschen Religion, und das Anbeten vieler Götter», antwortet Judas ungestüm.

«Welche sind das?»

«Die Götter der Griechen und der Römer, der Ägypter... nun ja, die Götter mit den tausend Namen, die nach Ansicht der Heiden den Olymp bevölkern.»

«Gibt es keine anderen Götter? Nur diese olympischen?»

«Welche anderen? Sind es nicht schon genug?»

«Zu viele, ja, zu viele. Doch es gibt noch andere, auf deren Altären von allen Menschen Weihrauch geopfert wird, sogar von den Priestern, den Schriftgelehrten, den Rabbis, den Pharisäern, den Sadduzäern und den Herodianern, dass sind alles Israeliten, nicht wahr? Und nicht nur von ihnen, sondern auch von meinen Jüngern.»

«Aber dies ganz bestimmt nicht», sagen alle einstimmig.

«Nein? Freunde... wer von euch frönt nicht einem oder mehreren geheimen Kulten? Für den einen ist es die Schönheit und die Eleganz. Für einen anderen der Stolz auf sein Wissen. Ein anderer beweihräuchert die Hoffnung, einmal groß zu werden, im menschlichen Sinn. Wieder ein anderer betet die Frau an. Ein anderer das Geld. Wieder ein anderer verbeugt sich vor seinem Wissen, und so weiter. In Wahrheit sage ich euch: es gibt keinen Menschen, der ganz frei vom Götzendienst ist. Warum also die Heiden verachten, die es von Geburt her sind, wenn man, obwohl dem wahren Gott angehörig, dem Willen nach Heide bleibt?»

«Aber wir sind Menschen, Meister!» rufen mehrere aus.

«Das ist wahr. Dann aber... liebt alle, denn ich bin für alle gekommen, und ihr seid nicht mehr als ich.»

«Doch sie klagen uns an, und du wirst in deiner Sendung behindert.»

«Sie wird trotzdem vorangehen.»

«Übrigens, da wir von Frauen sprechen», sagt Petrus, der neben Jesus sitzt und darüber ganz glücklich ist, «seit einigen Tagen, vielmehr seitdem du nach der Rückkehr aus Judäa das erstemal in Bethanien gesprochen hast, folgt uns ständig eine ganz verschleierte Frau. Ich weiß nicht, wie sie von unseren Plänen erfährt. Ich weiß nur, dass sie dir aus den hintersten Reihen zuhört, wenn du sprichst, oder sich den Menschen anschließt, die dir auf dem Wege folgen, oder auch hinter uns hergeht, wenn wir durch die Felder ziehen, um dich anzukündigen. Fast immer ist sie da. In Bethanien hat sie mir hinter dem Schleier zugeflüstert: „Der Mann, von dem du sagst, dass er reden wird, ist es wirklich Jesus von Nazareth?“ Ich habe mit „Ja“ geantwortet, und am Abend war sie hinter einem Baum, um dir zuzuhören. Dann habe ich sie aus den Augen verloren. Aber nun habe ich sie schon zwei- oder dreimal in Jerusalem gesehen. Heute habe ich sie gefragt: „Brauchst du ihn? Bist du krank? Willst du Almosen?“ Sie hat nur den Kopf geschüttelt, denn sie spricht mit niemand.»

«Mich hat sie eines Tages gefragt: „Wo wohnt Jesus?“, und ich habe ihr geantwortet: „Im Gethsemane“», sagt Johannes.

«Oh, du guter Dummkopf. Das hättest du nicht tun dürfen. Du hättest sagen sollen: „Nimm den Schleier ab! Gib dich zu erkennen, dann werde ich es dir sagen“», fährt ihn der Iskariot an.

«Aber seit wann sollen wir das verlangen?» ruft Johannes schlicht und unschuldig aus.

«Die anderen kann man sehen, sie aber ist ganz verhüllt. Entweder ist sie eine Spionin oder eine Aussätzige. Sie soll uns nicht folgen und nichts erfahren. Wenn sie eine Spionin ist, dann geschieht es, um uns zu schaden. Vielleicht wird sie vom Synedrium dafür bezahlt ...»

«Ach, benützt das Synedrium solche Mittel?» fragt Petrus. «Bist du dir dessen sicher?»

«Ganz sicher. Ich war im Tempel und weiß es.»

«Schöne Sache! Hierzu paßt wunderbar das, was der Meister zuvor gesagt hat», bemerkt Petrus.

«Was?» will Judas, rot vor Neugier wissen.

«Daß es auch unter den Priestern Heiden gibt.»

«Was hat das mit der Bezahlung einer Spionin zu tun?»

«Manches, manches! Warum zahlen sie? Um den Messias zu besiegen und triumphieren zu können. Also gehen sie mit ihren unsauberen Seelen unter den reinen Kleidern zum Altare», antwortet Petrus mit seinem gesunden Menschenverstand.

«Gut also», schließt Judas kurz ab, «diese Frau ist eine Gefahr für uns und für das Volk. Für das Volk, wenn sie aussätzig ist... für uns, wenn sie eine Spionin ist.»

«Also für ihn...» entgegnet Petrus.

«Nun, wenn er fällt, fallen wir mit ihm ...»

«Ach so», lacht Petrus und beschließt: «Und wenn man fällt, geht das Idol in Stücke, und man hat seine Zeit, sein Geld und vielleicht sogar das Leben auf das Spiel gesetzt, und deshalb... ja, ja... und deshalb ist es besser, darauf zu sehen, dass man nicht fällt oder sich wenigstens rechtzeitig davonmacht, nicht wahr? Ich jedoch, ich umarme ihn noch fester. Wenn er, von den Verrätern Gottes getroffen, fällt, will ich mit ihm fallen.» Und Petrus umarmt Jesus fest mit seinen kurzen Armen.

«Ich ahnte nicht, so ungeschickt gehandelt zu haben, Meister», sagt Johannes ganz traurig. Er sitzt Jesus gegenüber. «Schlage mich, mißhandle mich, aber rette dich! Wehe mir, wenn ich durch meine Schuld deinen Tod verursachte! Oh, ich könnte nie mehr Frieden finden! Mein Antlitz würde vom Weinen zerfurcht, und mein Augenlicht verbrannt. Was habe ich angestellt! Judas hat recht, ich bin ein Dummkopf.»

«Nein, Johannes, du bist kein Dummkopf und du hast recht gehandelt. Laßt sie nur kommen! Immer! Achtet ihren Schleier! Es kann sein, dass er zum Schutz im Kampfe zwischen der Sünde und dem Wunsche nach Erlösung getragen wird. Wißt ihr, welche Wunden in einem Menschen aufbrechen, in dem dieser Kampf beginnt? Wißt ihr, welche Reue und wieviel Scham? Du hast gesagt, Johannes, mein geliebter Sohn mit dem Herzen eines guten Kindes, dass dein Antlitz gefurcht würde vom ständigen Weinen, wenn du zur Ursache meines Unglücks würdest. Doch wisse: wenn ein erwecktes Gewissen beginnt, dass Fleisch, dass die Ursache der Sünde war, zu zähmen und es abzutöten, um mit dem Geiste zu triumphieren, dann muss alles mutig verzehrt werden, was anziehend für das Fleisch war, und das Geschöpf altert und verwelkt unter dem Rauch dieses alles durchdringenden Feuers. Erst danach, nach erfolgter Erlösung, wird eine neue heilige und vollkommenere Schönheit geschaffen; denn es ist die Schönheit der Seele, welche zutage tritt im Blick, im Lächeln, in der Stimme, in der ehrbar erhobenen Stirne, auf die Gottes Vergebung sich senkte, die leuchtet wie ein Diadem.»

«Dann habe ich also nichts Schlechtes getan?»

«Nein! Und auch Petrus hat nichts Böses getan. Laßt sie gewähren! Jetzt soll jeder zur Ruhe gehen. Ich bleibe mit Johannes und Simon hier, ich habe mit ihnen zu reden. Geht also!»

Die Jünger ziehen sich zurück. Vielleicht schlafen sie in der Scheune. Ich weiß es nicht. Sie gehen weg, doch bestimmt nicht nach Jerusalem, denn dort sind die Tore schon seit mehreren Stunden geschlossen.

«Simon, du hast gesagt, dass Lazarus heute den Isaak mit Maximinus zu dir geschickt hat, während ich beim Turme Davids war. Was wollte er?»

«Er wollte dir sagen, dass Nikodemus bei ihm ist und mit dir im geheimen reden möchte. Ich habe mir erlaubt zu sagen: „Er soll kommen. Der Meister wird ihn heute nacht erwarten.“ Du hast ja nur die Nacht, um allein sein zu können. Daher habe ich zu dir gesagt: „Entlasse alle bis auf Johannes und mich!“ Johannes wird bis zur Brücke des Kedron gehen und dort Nikodemus erwarten, der in einem der Häuser des Lazarus vor der Mauer ist. Habe ich es falsch gemacht?»

«Du hast es recht gemacht. Mach dich auf den Weg, Johannes!»

Nur Simon und Jesus bleiben zurück. Jesus ist nachdenklich. Simon achtet sein Schweigen. Doch Jesus unterbricht es plötzlich, und als ob er ein inneres Selbstgespräch fortführen wollte, sagt er mit lauter Stimme: «Ja, es ist gut, so zu handeln. Isaak, Elias und die anderen genügen, um die Idee lebendig zu erhalten, die schon in den Guten und Demütigen Wurzeln geschlagen hat. Für die Mächtigen braucht es andere Mittel. Da sind Lazarus, Chuza, Joseph und noch weitere... Doch die Mächtigen wollen nichts von mir wissen. Sie fürchten und zittern um ihre Macht. Ich werde das judäische Herz verlassen, dass Christus immer feindlicher gesinnt ist.»

«Werden wir nach Galiläa zurückkehren?»

«Nein! Aber weg von Jerusalem! Judäa muss die Frohe Botschaft hören. Das ist auch Israel. Aber hier... du siehst es... hier dient alles nur dazu, mich anzuklagen. Ich werde mich zurückziehen, nun zum zweitenmal ...»

«Meister, hier ist Nikodemus», sagt Johannes, der zuerst hereinkommt.

Sie grüßen sich. Dann verlassen Simon und Johannes die Küche, um die beiden allein zu lassen.

«Meister, verzeihe, dass ich dich im geheimen sprechen wollte. Ich mißtraue deinet- und meinetwegen vielen. Es ist nicht nur Feigheit meinerseits. Auch Klugheit und der Wunsch, dir mehr zu nützen, als wenn ich dir offen angehören würde. Du hast viele Feinde. Ich bin einer der wenigen, die dich bewundern. Ich habe mich mit Lazarus beraten. Lazarus ist mächtig durch seine Geburt, gefürchtet, weil er in Rom in Gunst steht, gerecht in den Augen Gottes, weise durch sein langes Studium und seine Kultur, dein wahrer Freund und mein wahrer Freund! Aus all diesen Gründen habe ich mit ihm reden wollen. Und ich bin glücklich, dass er genauso urteilt wie ich. Ich habe ihm von den letzten Diskussionen des Synedriums über dich gesprochen.»

«Die letzten Anschuldigungen. Sage die Wahrheit nur ungeschminkt, wie sie ist.»

«Die letzten Beschuldigungen. Ja, Meister. Ich war daran zu sagen: „Nun, auch ich bin einer der Seinigen“, damit wenigstens einer in dieser Versammlung auf deiner Seite stehe. Doch Joseph ist zu mir gekommen und hat mir zugeflüstert: „Schweige! Wir wollen unsere Gedanken verborgen halten. Ich werde dir den Grund nachher sagen.“ Nachdem wir hinausgegangen waren, hat er gesagt... ja, er hat gesagt: „Du wirst so mehr nützen. Wenn sie uns als Jünger wissen, dann halten sie vor uns verborgen, was sie denken und beschließen, und können ihm und uns schaden. Wenn sie uns für einfache Zuhörer halten, werden sie uns nichts verbergen.“ Ich verstand, dass er recht hatte. Sie sind derart böse. Auch ich habe meine Interessen und Pflichten... und Joseph ebenso. Verstehst du, Meister?»

«Ich mache euch keine Vorwürfe. Bevor du kamst, habe ich dies Simon gesagt. Ich habe auch beschlossen, mich von Jerusalem fernzuhalten.»

«Du haßt uns, weil wir dich nicht lieben?»

«Nein, ich hasse nicht einmal meine Feinde.»

«Du sagst es. Es ist so. Doch welch ein Schmerz für mich und Joseph! Und Lazarus! Was wird Lazarus sagen, der gerade heute beschlossen hat, dir sagen zu lassen, dass du diesen Ort verlassen sollst, um in eines seiner Landhäuser von Sion zu ziehen. Weißt du, Lazarus ist sehr reich und mächtig. Große Teile dieser Stadt gehören ihm und auch viele Ländereien in Palästina. Der Vater hatte zu seinem Besitz und dem der Eucheria, die aus deinem Stamm und deiner Familie herkommt, noch die Belohnung der Römer für ihren treuen Diener hinzugefügt und so seinen Söhnen eine bedeutende Erbschaft hinterlassen. Doch hat er, was noch mehr zählt, eine geheime, aber starke Freundschaft mit Rom. Ohne diese... was hätte sein Haus vor der Schande schützen können nach dem anstößigen Benehmen Marias, nach ihrer Scheidung, die sie nur erhielt, weil „sie“ es war? Zügellos hat sie gelebt in dieser Stadt, in der sein Grundbesitz sich befindet, und in Tiberias mit dem vornehmen Bordell; Rom und Athen haben dort ein Zentrum der Prostitution errichtet, auch für viele des auserwählten Volkes. Wahrlich, wenn Theophilus der Syrer ein überzeugter Proselyt gewesen wäre, dann hätte er seinen Kindern nicht diese hellenisierende Erziehung gegeben, die soviel Tugend tötet und soviel Laster sät; eine Erziehung, die zwar von Lazarus und besonders von Martha getrunken und ohne Folgen wieder ausgeschieden wurde, die jedoch die unbändige Maria angesteckt und verdorben und aus ihr den Abscheu der Familie und Palästinas gemacht hat. Nein, ohne den mächtigen Schatten der Gunst von Rom wären sie mehr als die Aussätzigen mit Acht belegt worden. Nütze also die Freundschaft mit Lazarus.»

«Nein. Ich ziehe mich zurück. Wer mich will, soll zu mir kommen.»

«Ich hätte nicht reden sollen!» Nikodemus ist niedergeschlagen.

«Nein. Warte und überzeuge dich!», und Jesus öffnet eine Türe und ruft: «Simon, Johannes, kommt zu mir!»

Die beiden eilen herbei.

«Simon, wiederhole Nikodemus, was ich dir vor seinem Eintreten gesagt habe.»

«Daß für die Demütigen Hirten genügen, für die Mächtigen Lazarus, Nikodemus, Joseph und Chuza, und dass du dich zurückziehen willst, fern von Jerusalem, jedoch ohne Judäa aufzugeben. Das hast du gesagt. Warum läßt du es mich wiederholen? Was ist vorgefallen?»

«Nichts. Nikodemus befürchtete, ich wolle seiner Worte wegen gehen.»

«Ich habe dem Meister gesagt, dass ihm das Synedrium immer feindlicher gesinnt ist und dass es gut wäre, wenn er sich unter den Schutz des Lazarus stellen würde. Er hat deine Güter geschützt, denn Rom steht hinter ihm. Er würde auch Jesus beschützen.»

«Das ist wahr. Es ist ein guter Rat. Obwohl meine Sippe auch in Rom nicht geachtet war, hat ein Wort Theophilus meinen Besitz während der Verbannung und als ich aussätzig war, bewahrt. Lazarus ist dein guter Freund, Meister.»

«Ich weiß es, doch ich habe gesprochen. Und was ich gesagt habe, dass tue ich.»

«Werden wir dich also verlieren?»

«Nein, Nikodemus. Zum Täufer gehen Menschen aller Sekten. Zu mir dürfen Menschen aller Sekten und aus allen Ständen kommen.»

«Wir kamen zu dir, da wir wissen, dass du mehr bist als Johannes!»

«Ihr könnt auch weiterhin kommen. Auch ich werde ein einsamer Lehrer wie Johannes sein und zu Scharen sprechen, die die Stimme Gottes hören wollen und fähig sind zu glauben, dass ich diese Stimme bin. Die anderen werden mich vergessen, sofern sie dazu imstande sind.»

«Meister, du bist traurig und enttäuscht. Du hast Grund dazu. Alle hören dich an und erwarten von dir Wunder. Sogar ein Höfling des Herodes, einer, der das natürliche Gutsein an diesem unzüchtigen Hofe verloren haben müßte; sogar römische Soldaten glauben an dich. Nur wir hier von Sion sind so hart... Doch nicht alle. Du siehst es. Wir wissen, Meister, dass du von Gott kommst und sein Lehrer, der größte von allen, bist. Sogar Gamaliel sagt es! Keiner kann deine Wunder wirken, wenn Gott nicht mit ihm ist. Das glauben sogar Gelehrte wie Gamaliel. Woran liegt es, dass wir nicht den Glauben haben wie die Kleinen in Israel? Oh, sage es mir genau! Bist du der Messias des Herrn? Der Erwartete? Das Wort des Vaters? Bist du Mensch geworden, um Israel dem Bunde gemäß zu belehren und zu erlösen?»

«Fragst du das aus dir selbst oder haben andere dir aufgetragen, mich danach zu fragen?»

«Aus mir, aus mir selbst, Herr! Ich bin beunruhigt. Ein Sturm ist in mir! Gegenwinde und Gegenstimmen. Warum ist in mir, dem reifen Manne, nicht die friedliche Sicherheit, die einer hat, der unbelesen und kindlich ist, die ihm das Lächeln ins Antlitz, dass Licht in die Augen und die Sonne ins Herz legt? Wie glaubst du, Johannes, um so ruhig zu sein? Lehre mich, o Sohn, dein Geheimnis; das Geheimnis, dank dessen du in Jesus, dem Nazarener, den Messias sehen und verstehen kannst.»

Johannes wird rot wie eine Erdbeere, neigt das Haupt, wie um sich zu entschuldigen, etwas so Großes zu sagen, und antwortet einfach: «Weil ich ihn liebe!»

«Weil du liebst! Und du, Simon, rechtschaffener Mann an der Schwelle des Alters, du, der du gelehrt und so schwer geprüft worden bist, dass du versucht bist, überall Täuschung zu befürchten?»

«Weil ich nachdenke.»

«Lieben! Nachdenken! Auch ich liebe und denke nach, und doch bin ich immer noch nicht sicher.»

Nun greift Jesus ein: «Ich sage dir das wahre Geheimnis. Diese haben es verstanden, aufs neue geboren zu werden, mit einem neuen Geist, der von jeder Kette frei und von jeder anderen Idee unberührt ist. Deshalb konnten sie Gott verstehen. Wenn jemand nicht wiedergeboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen und nicht an seinen König glauben.»

«Wie kann ein schon erwachsener Mensch wiedergeboren werden? Aus dem Mutterschoß ausgestoßen, kann der Mensch niemals mehr dahin zurückkehren. Meinst du etwa eine Wiedergeburt, wie sie von vielen Heiden angenommen wird? Aber nein, dass ist bei dir nicht möglich, und dann wäre es nicht ein Wiedereingehen in den Schoß, sondern eine Wiedergeburt außerhalb der Zeit. Also nicht in diesem Leben. Wie? Wie?»

«Es gibt nur ein Dasein des Fleisches auf der Erde und ein ewiges Leben im Jenseits. Jetzt spreche ich nicht von Fleisch und Blut, sondern vom unsterblichen Geist, der durch zwei Dinge zum wahren Leben wiedergeboren wird: durch das Wasser und durch den Heiligen Geist. Doch das wichtigere ist der Heilige Geist, ohne den das Wasser nichts als ein Symbol ist. Wer mit Wasser gereinigt ist, muss sich dann mit dem Heiligen Geist reinigen und durch ihn sich entzünden und leuchten, wenn er hier und im Ewigen Reiche im Schoße Gottes leben will. Denn was vom Fleische gezeugt wird, ist und bleibt Fleisch und stirbt, nachdem es ihm in seinen Begierden und Sünden gedient hat. Doch was vom Geiste gezeugt wird, ist Geist und kehrt zum Schöpfer-Geist zurück, nachdem es bis zum vollkommenen Alter den eigenen Geist empor geführt hat. Das Himmelreich wird nur von solchen bewohnt sein, die das vollkommene geistige Alter erreicht haben. Wundere dich daher nicht, wenn ich sage: „Ihr müßt aufs neue geboren werden.“ Diese hier haben es verstanden, wiedergeboren zu werden. Dieser junge Mann hat sein Fleisch abgetötet und den Geist wiedergeboren werden lassen; er hat sein Ich auf den Scheiterhaufen der Liebe gelegt. Alles, was Materie war, wurde verbrannt. Aus der Asche geht seine neue geistige Blume hervor, eine wunderbare Sonnenblume, die sich unablässig der ewigen Sonne zuwendet. Der Ältere hat die Axt der Meditation an die Wurzeln seines alten Denkens angelegt, hat den Baum entwurzelt und nur den Kern des guten Willens zurückbehalten, aus dem sein neues Denken geboren wurde. Nun liebt er Gott mit neuem Geiste und kann ihn sehen. Jeder hat seine Methode, um den Hafen zu erreichen. Jeder Wind ist gut, wenn man das Segel zu handhaben versteht. Ihr spürt den Wind wehen und müßt das Boot manövrieren und darauf achten, in welche Richtung er bläst. Doch könnt ihr nicht sagen, woher er kommt, noch herbeirufen, den ihr nötig habt. Auch der Heilige Geist ruft, kommt rufend und geht vorüber. Doch nur, wer aufmerksam ist, kann ihm folgen. Der Sohn kennt die Stimme des Vaters; der Geist kennt die Stimme des Geistes, von dem er erschaffen wurde.»

«Wie kann dies alles geschehen?»

«Du, Lehrer in Israel, fragst mich danach? Du kennst diese Dinge nicht? Man spricht von dem und bezeugt das, was man weiß und gesehen hat. So spreche ich von dem und bezeuge das, was ich weiß. Wie wirst du je Dinge annehmen können, die du nicht gesehen hast, wenn du nicht das Zeugnis annimmst, dass ich dir bringe? Wie wirst du an den Geist glauben können, wenn du nicht an das fleischgewordene Wort glaubst? Ich bin auf die Welt gekommen, um wieder zum Himmel aufzufahren und jene mitzunehmen, die hier unten sind. Einer allein ist vom Himmel herabgestiegen: der Menschensohn. Und einer allein wird zum Himmel aufsteigen mit der Macht, den Himmel zu öffnen: Ich, der Menschensohn. Denke an Moses! Er hat in der Wüste eine Schlange erhöht, um die Kranken Israels zu heilen (Ex 21,4-9). Wenn ich erhöht sein werde, dann werden diejenigen, die jetzt das Fieber der Sünde blind, taub, stumm, irr, aussätzig und krank macht, geheilt werden, und jeder, der an mich glaubt, wird ewiges Leben erlangen. Auch sie, die an mich geglaubt haben, werden dieses selige Leben haben.

Senke nicht deine Stirn, Nikodemus. Ich bin gekommen, um zu retten, nicht, um zugrunde zu richten. Gott hat seinen eingeborenen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit die Menschen dieser Welt verdammt werden, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. Auf der Welt habe ich alle möglichen Sünden angetroffen, alle Irrlehren, alle Götzendienereien. Aber kann eine Schwalbe, die schnell über dem Staube fliegt, ihr Gefieder beschmutzen? Nein! Sie zieht nur über die traurigen Straßen der Erde ein blaues Komma, bringt einen Duft aus dem Himmel, stößt einen Ruf aus, um die Menschen aufzurütteln und sie zu bewegen, den Blick vom Schlamm zu erheben und ihrem Flug zu folgen, der zum Himmel zurückführt. So ist es mit mir. Ich komme, um euch mit mir zu nehmen. Kommt! Wer an den Eingeborenen Sohn glaubt, wird nicht gerichtet. Er ist schon gerettet, denn der Sohn bittet den Vater und sagt: „Dieser liebt mich.“ Doch wer nicht glaubt, dem nützen heilige Werke nicht. Er ist schon gerichtet, denn er hat nicht an den Namen des Einen Sohnes Gottes geglaubt. Kennst du meinen Namen, Nikodemus?»

«Jesus.»

«Nein, Erlöser. Ich bin die Erlösung. Wer nicht an mich glaubt, lehnt sein Heil ab und ist von der Ewigen Gerechtigkeit gerichtet. Und das Urteil wird lauten: „Das Licht war dir gesandt worden, dir und der Welt, um für euch Rettung zu sein. Du und die anderen Menschen, ihr habt dem Licht die Finsternis vorgezogen, denn ihr habt die schlechten Werke, die euch zur Gewohnheit geworden sind, den guten Werken vorgezogen. Er hat euch diese gezeigt, damit ihr heilig werdet.“ Ihr habt das Licht gehaßt, denn die Übeltäter lieben die Finsternis für ihre Verbrechen, und ihr seid dem Lichte entflohen, damit es eure verborgenen Wunden nicht beleuchte. Das gilt nicht für dich, Nikodemus. Das ist die Wahrheit. Und die Strafe wird dem Urteil entsprechen, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft.

Was nun sie betrifft, die mich lieben und die die Wahrheiten, die ich lehre, in die Tat umsetzen und so zum zweitenmal im Geist geboren werden — das ist die echtere Geburt — sage ich dir, dass sie das Licht nicht scheuen, sondern sich ihm nähern, damit ihr Licht das Licht vermehre, von dem sie erleuchtet worden sind, in einer gegenseitigen Verherrlichung, die Gott in seinen Kindern und die Kinder im Vater beglückt.

Nein, die Kinder des Lichtes fürchten nicht, erleuchtet zu werden. Sie sagen vielmehr in ihrem Herzen und durch ihre Werke: „Nicht ich, sondern Er, der Vater, Er, der Sohn, und Er, der Heilige Geist haben in mir das Gute vollbracht! Ihnen sei Ehre in Ewigkeit.“

Und vom Himmel antwortet der ewige Hymnus der Drei Personen, die sich in vollkommener Einheit lieben: „Du seist gesegnet in Ewigkeit, wahrer Sohn unseres Willens.“ Johannes, denke an diese Worte, wenn es an der Zeit sein wird, sie niederzuschreiben...

Nikodemus, bist du nun überzeugt?»

«Ja, Meister. Wann kann ich dich wieder sprechen?»

«Lazarus wird wissen, wohin er dich führen kann. Ich werde zu ihm gehen, bevor ich mich von hier entferne.»

«Ich gehe, Meister. Segne deinen Diener!»

«Mein Friede sei mit dir!»

Nikodemus geht mit Johannes hinaus.

Jesus wendet sich an Simon: «Siehst du das Werk der Macht der Finsternis? Wie eine Spinne legt sie ihren Hinterhalt und umwickelt und fesselt den, der nicht zu sterben vermag, um als Schmetterling wiedergeboren zu werden, stark genug, dass dunkle Gewebe zu zerreißen und es zu verlassen, während er zur Erinnerung an seinen Sieg Fetzen des leichten Netzes auf den goldenen Flügeln davonträgt, wie Standarten und Oriflammen, die dem Feind entrissen worden sind. Sterben, um zu leben. Sterben, um die Kraft zum Sterben zu haben. Komm, Simon, geh zur Ruhe! Gott sei mit dir!»

Alles ist zu Ende.