02.08.2016

JESUS WANDELT AUF DEM WASSER

nach Maria Valtorta

Es ist spät am Abend, beinahe Nacht, denn man sieht kaum etwas auf dem Weg, der sich einem Hügel emporschlängelt, auf dem vereinzelte Bäume stehen. Es scheinen Olivenbäume zu sein, doch wegen des schwachen Lichtes kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Sie sind nicht sehr hoch, dichtbelaubt und gewunden, wie es Ölbäume gewöhnlich sind.

Jesus ist allein. Er ist weißgekleidet und trägt einen dunkelblauen Mantel. Er steigt empor und geht zwischen den Bäumen durch. Er geht mit langem und sicherem Schritt. Nicht schnell, aber durch die langen Schritte kommt er doch rasch voran, ohne sich zu beeilen. Schließlich erreicht er einen balkonartigen Vorsprung, von dem aus man auf den See sieht, der ruhig unter dem Schein der Sterne liegt, die schon den Himmel mit ihren Lichtaugen bedecken. Die Stille umhüllt Jesus in ihrer ruhigen Umarmung, läßt ihm das Volk und die Erde aus dem Gedächtnis entschwinden und verbindet ihn mit dem Himmel, der herabzusteigen scheint, um das Wort Gottes anzubeten und es mit dem Licht seiner Gestirne zu liebkosen.

Jesus betet in seiner üblichen Haltung: aufrecht stehend mit ausgebreiteten Armen. Hinter seinem Rücken steht ein Olivenbaum, an dessen dunklen Stamm er gekreuzigt zu sein scheint. Das Laubwerk überragt ihn kaum, groß wie er ist, und ersetzt durch ein zu Christus passendes Wort die Aufschrift am Kreuz. Dort: «König der Juden»; hier: «König des Friedens.» Der friedliche Olivenbaum sagt dem, der es versteht, dass richtige Wort. Jesus betet lange. Dann setzt er sich auf dem Vorsprung, auf dem der Baum steht, auf einen Wurzelknoten, und nimmt seine übliche Haltung ein, mit den gefalteten Händen und den auf den Knien aufgestützten Ellbogen. Er ist in Betrachtung versunken. Wer weiß, welch göttliches Gespräch er mit dem Vater und dem Geist in dieser Stunde führt, in der er allein ist und ganz Gott angehören kann. Gott mit Gott!

Es kommt mir vor, als ob viele Stunden so vorübergingen, denn ich sehe, dass die Sterne ihre Position gewechselt haben und viele bereits im Westen untergegangen sind.

Gerade als sich im äußersten Osten ein schwacher Schein bemerkbar macht, der noch nicht Licht genannt werden kann, schüttelt ein leichter Windstoß den Olivenbaum. Darauf herrscht wieder Stille. Bald danach wird der Wind stärker. Die in kurzen Abständen kommenden Windstöße werden heftiger. Das Licht des Morgengrauens hat Mühe, sich durch die dunklen Wolkenmassen, die den Himmel bedecken und von immer stärkeren Windstößen getrieben werden, einen Weg zu bahnen. Auch der See ist nicht mehr ruhig. Ein Sturm scheint aufzukommen, der sehr dem ähnelt, den ich schon in der Vision vom Sturm auf dem Meer gesehen habe. Das Rauschen der Blätter und das Schäumen des Wassers erfüllen nun die Luft, die noch vor kurzem so ruhig war.

Jesus erwacht aus seiner Betrachtung. Er erhebt sich und schaut auf den See. Im Licht der letzten Sterne und des ärmlichen Morgengrauens sucht er etwas und sieht die Barke des Petrus, die sich mühsam dem gegenüberliegenden Ufer nähern will, es aber nicht schafft. Jesus hüllt sich fester in seinen Mantel, zieht den Saum, der ihm beim Abstieg hinderlich wäre, wie eine Kapuze über sein Haupt und eilt, nicht auf der Straße, sondern auf einem Pfad, direkt zum See hinunter. Er geht so rasch, dass er zu fliegen scheint.

Am Ufer angelangt, dass von den Wellen gepeitscht wird, die auf dem Kies einen flockigen Schaum bilden, schreitet er rasch weiter, als ob er nicht auf einem flüssigen Element, sondern auf dem glattesten und festesten Grund und Boden wandle. Jetzt wird er Licht. Es scheint, als ob das wenige Licht, dass von den verblassenden Sternen und der stürmischen Dämmerung ausgeht, sich auf ihn konzentriere und sein schlanker Körper phosphoresziere. Er fliegt auf den Wellen, auf den schäumenden Wellenkronen und in den dunklen Tälern zwischen Welle und Welle dahin, mit nach vorn gestreckten Armen und dem sich um sein Antlitz blähenden Mantel, der wie ein kurzer Flügelschlag flattert, da er eng um den Leib gezogen ist.

Die Apostel sehen Jesus und stoßen einen Angstschrei aus, den der Wind zu Jesus trägt.

«Fürchtet euch nicht, ich bin es!» Die Stimme Jesu dringt mühelos über den See, obwohl Gegenwind herrscht.

«Bist du es wirklich, Meister?» fragt Petrus. «Wenn du es bist, dann laß mich zu dir kommen und mit dir auf dem Wasser wandeln.»

Jesus lächelt. «Komm!» sagt er einfach, als wäre es die einfachste Sache der Welt, auf dem Wasser zu wandeln.

Und Petrus, nur mit der kurzen ärmellosen Tunika bekleidet, springt über Bord und geht Jesus entgegen.

Doch als er ungefähr fünfzig Meter von der Barke und ebensoweit von Jesus entfernt ist, packt ihn die Angst. Bis dahin hat ihn sein Liebesimpuls getragen. Nun überkommt ihn das Menschliche,... und er fürchtet für sein Leben. Wie einer, der sich auf schlüpfrigem Boden oder vielmehr auf Treibsand befindet, beginnt er zu wanken, zu gestikulieren und unterzugehen. Und je mehr er gestikuliert und sich fürchtet, um so mehr sinkt er ein.

Jesus ist stehengeblieben und schaut auf ihn. Ernst und erwartungsvoll. Aber er streckt nicht einmal seine Hände aus. Er hat vielmehr die Arme vor der Brust verschränkt, sagt kein Wort und macht keinen Schritt.

Petrus sinkt ein. Die Knöchel, die Waden, die Knie verschwinden. Das Wasser reicht ihm schon bis an die Lenden und ist bald beim Gürtel angelangt. Ein großer Schrecken zeichnet sein Gesicht. Ein Schrecken, der auch seine Gedanken lähmt. Er ist nur noch ein Mensch, der fürchtet, ertrinken zu müssen. Er denkt nicht einmal daran, dass er schwimmen kann. Er ist vor Furcht betäubt.

Endlich blickt er auf Jesus. Dieser Blick genügt, um ihn begreifen zu lassen, wo die Rettung zu suchen ist: «Meister, Herr, rette mich!»

Jesus löst die Arme und wie von Wind oder Wellen getragen, eilt er auf den Apostel zu, streckt ihm die Hand entgegen und sagt: «Oh, was bist du für ein kleingläubiger Mensch! Warum hast du an mir gezweifelt? Warum hast du es allein schaffen wollen?»

Petrus, der sich krampfhaft an der Hand Jesu festhält, antwortet nicht. Er schaut ihn nur mit einem Gemisch aus einem Rest von Furcht und aufkommender Reue an, um zu sehen, ob er erzürnt ist.

Doch Jesus lächelt und hält ihn am Handgelenk fest, bis sie das Boot erreicht haben und eingestiegen sind. Dann befiehlt er: «Geht ans Ufer. Dieser hier ist ganz durchnäßt.» Und er betrachtet lächelnd den gedemütigten Apostel.

Die Wellen glätten sich und erleichtern die Landung, und die Stadt, die zuvor einmal von einer Anhöhe sichtbar war, liegt nun am Gestade.

Hier endet die Vision.

«WENN IHR GLAUBEN HABT, KOMME ICH UND BRINGE EUCH außer GEFAHR»

Jesus sagt: «Oft warte ich nicht einmal, bis ich gerufen werde, wenn ich meine Kinder in Gefahr sehe. Und oft komme ich auch dem zu Hilfe, der ein undankbarer Sohn ist.

Ihr schlaft oder seid von den Sorgen des Lebens und den Geschäften der Welt eingenommen. Ich wache und bete für euch. Als Engel aller Menschen stehe ich schützend über euch, und nichts ist mir schmerzlicher, als euch nicht beistehen zu können, weil ihr meinen Beistand ablehnt und es vorzieht, selbst mit allem fertig zu werden, oder, was noch schlimmer ist, den Bösen um Hilfe anruft.

Wie ein Vater, der von einem Sohn hören muss: „Ich liebe dich nicht, ich will dich nicht, geh fort aus meinem Haus!“, so fühle ich mich gedemütigt und schmerzlich berührt, mehr als durch meine Wunden. Aber wenn ihr mich nicht ablehnt und nicht sagt: „Geh fort!“, sondern durch das Leben abgelenkt seid, dann bin ich der ewig Wachende, der bereit ist, einzugreifen, bevor ihr mich angerufen habt. Und wenn ich auf ein Wort von euch warte, wie ich es manchmal tue, so nur, um mich gerufen zu fühlen. Welche Liebkosung und wie süß ist es für mich, wenn ich mich von den Menschen angerufen höre und fühle, dass sie sich daran erinnern, dass ich der Erlöser, der Retter, bin.

Ich kann dir nicht sagen, welch unendliche Freude mich durchdringt und erhebt, wenn mich jemand liebt und anruft, noch bevor die Stunde der Not gekommen ist. Er ruft mich an, weil er mich mehr als alles in der Welt liebt und ihn eine Freude, die der meinen gleicht, erfüllt, wenn er nur ruft: „Jesus, Jesus!“, wie es die Kinder tun, wenn sie „Mama, Mama!“ rufen und es ihnen scheint, als ob Honig auf ihre Lippen käme, da schon allein das Wort „Mama“ die Wonne des mütterlichen Kusses mit sich bringt.

Die Apostel ruderten gemäß meinem Befehl, Kapharnaum zu erreichen und mich dort zu erwarten. Ich hatte mich nach dem Wunder der Brotvermehrung von der Menge abgesondert, aber nicht aus Unwillen über sie oder aus Müdigkeit. Ich bin nie der Menschen überdrüssig geworden, nicht einmal, wenn sie mich schlecht behandelt haben. Nur wenn ich das Gesetz mit Füßen getreten und das Haus Gottes entweiht sah, überkam mich Entrüstung. Aber dann war es nicht meinetwegen, sondern wegen der Sache des Vaters, denn ich war auf Erden der erste der Diener Gottes, um dem Vater im Himmel zu dienen.

Ich bin nie müde geworden, mich dem Volk zu widmen, auch wenn ich sie so verbohrt, langsam und menschlich sah, dass selbst jene den Mut verloren hätten, die sich ihrer Sendung vollkommen gewachsen fühlten. Gerade weil ich sie so schwach sah, habe ich meine Belehrungen immer wiederholt. Ich habe sie wie zurückgebliebene Schüler behandelt und ihren Geist auch bei den einfachsten Entdeckungen und Unternehmungen geleitet, so wie ein geduldiger Lehrer die unerfahrenen Händchen seiner Schüler führt, wenn sie die ersten Buchstaben schreiben, damit sie immer fähiger werden, zu begreifen und auszuführen.

Wieviel Liebe habe ich den Menschen geschenkt! Ich faßte sie an ihrer Menschlichkeit, um sie zum Geist zu führen. Auch ich habe mit dem Fleisch begonnen. Aber während Satan sich des Fleisches bedient, um zur Hölle zu führen, führte ich sie durch das Fleisch zum Himmel.

Ich hatte mich zurückgezogen, um dem Vater für die Brotvermehrung zu danken. Viele Tausende hatten gegessen. Ich hatte ihnen ans Herz gelegt, zu sagen: «Dank dem Herrn.» Aber wenn der Mensch einmal Hilfe erlangt hat, dann weiß er nicht Dank zu sagen. So habe ich es für sie getan. Und danach... Und danach habe ich mich mit dem himmlischen Vater in einer unendlichen Sehnsucht der Liebe vereinigt. Ich war auf der Erde, aber wie eine Hülle ohne Leben. Mein Geist war hingezogen zu meinem Vater, den ich wie über sein Wort gebeugt verspürte, dass zu ihm sagte: „Ich liebe dich, o Heiliger Vater!“ Meine Freude war es, ihm zu sagen: „Ich liebe dich.“ Es ihm als Mensch zu sagen, nicht nur als Gott. Ihm zu huldigen mit dem Gefühl des Menschen, so wie ich ihm meinen Herzschlag als Gott anbot. Ich hatte das Gefühl, der Magnet zu sein, der alle Liebe der Menschen, die ein wenig Gott lieben, an sich zieht und sie in der Schale seines Herzens darbietet. Es schien mir, als ob ich ganz allein wäre: der Mensch, oder besser, dass Menschengeschlecht, dass wie in den Tagen der Unschuld wieder in der Abendfrische mit Gott sprach.

Aber obgleich meine Seligkeit, denn es war Seligkeit der Liebe, vollkommen war, machte sie mich dennoch nicht blind für die Nöte der Menschen, und ich bemerkte die Gefahr meiner Söhne auf dem See. Und ich löste mich um der Menschen willen von der Liebe. Die Liebe muss immer hilfsbereit sein!

Sie hielten mich für ein Gespenst. Oh, wie oft haltet ihr armen Kinder mich für ein Gespenst, für ein furchterregendes Wesen! Wenn ihr immer an mich dächtet, würdet ihr mich sofort wiedererkennen. Aber ihr habt so viele andere Sorgen in euren Herzen, und diese verwirren euch die Sinne. Doch ich gebe mich zu erkennen. Oh, wenn ihr mich fühlen könntet!

Warum ist Petrus eingesunken, nachdem er schon so viele Meter auf dem Wasser gewandelt war? Du hast es gesagt: weil sein Menschsein seinen Geist überwältigt hatte.

Petrus war zu sehr Mensch. Wäre Johannes an seiner Stelle gewesen, hätte er weder so viel gewagt noch wäre er so wankelmütig gewesen. Die Reinheit verleiht Klugheit und Festigkeit. Aber Petrus war „Mensch“ im wahrsten Sinn des Wortes. Er hatte das Verlangen, der erste zu sein; zu zeigen, dass niemand den Meister mehr liebte als er. Er wollte sich vordrängen und glaubte sich schon über die Schwächen des Fleisches erhaben, nur weil er einer der Meinen war. Statt dessen versagte der arme Simon bei den Prüfungen in wenig erhabener Weise. Aber es war notwendig, denn er war dazu bestimmt, die Barmherzigkeit des Meisters in der entstehenden Kirche fortzusetzen.

Petrus läßt sich nicht nur von der Furcht um sein gefährdetes Leben übermannen, sondern wird, wie du gesagt hast, „ein zitterndes Fleisch“. Er überlegt nicht mehr und schaut mich nicht mehr an.

Auch ihr macht es so. Je größer die Gefahr ist, um so mehr wollt ihr euch selbst helfen. Als ob ihr selbst etwas tun könntet! Niemals entfernt ihr euch, verschließt ihr mir euer Herz und verurteilt ihr mich sogar so sehr wie in den Stunden, in denen ihr auf mich vertrauen und mich anrufen müßtet.

Petrus verflucht mich nicht. Aber er vergißt mich, und ich muss die Macht meines Willens benützen, um seinen Geist zu mir zurückzurufen: damit er seine Augen zu seinem Meister und Erlöser erhebe. Ich spreche ihn im voraus von seiner Sünde des Zweifels los, weil ich ihn liebe, diesen impulsiven Menschen, der, einmal in der Gnade gefestigt, in der Gnade voranzuschreiten weiß, ohne je in Verwirrung oder Müdigkeit zu verfallen bis zu seinem Märtyrertod; der unermüdlich bis zu seinem Tod sein mystisches Netz auswirft, um seinem Meister Seelen zuzuführen. Und wenn er mich anruft, dann gehe ich nicht nur zu ihm: ich eile ihm zu Hilfe und halte ihn fest, um ihn in Sicherheit zu bringen.

Milde kann man mir vorwerfen, denn ich habe Verständnis für alle Milderungsgründe meines Petrus. Ich bin der beste Verteidiger und Richter, den es je gegeben hat und je geben wird. Für alle. Ich verstehe euch, meine armen Kinder! Und selbst wenn ich euch ein Wort des Tadels sage, so wird mein Lächeln es mildern. Ich liebe euch. Damit ist alles gesagt.

Ich will, dass ihr Glauben habt. Und wenn ihr ihn habt, komme ich und führe euch aus der Gefahr. Oh, wenn die Erde es verstände zu sagen: „Meister, Herr, rette mich!“ Ein Schrei – aber von der gesamten Menschheit – würde genügen, und augenblicklich würde Satan mit seinen Henkersknechten besiegt zu Boden fallen! Aber ihr könnt es nicht glauben. Ich bemühe mich, immer neue Mittel zu finden, um euch zum Glauben zu bringen. Doch sie fallen in euren Schlamm wie der Stein in den Schlamm eines Sumpfes und bleiben dort begraben.

Ihr wollt die Gewässer eures Geistes nicht reinigen. Ihr liebt es, faulender Schlamm zu sein. Trotzdem werde ich als ewiger Erlöser weiterhin meine Pflicht tun. Und wenn ich auch nicht die ganze Welt retten kann, weil sie nicht gerettet werden will, so werde ich doch jene vor der Welt retten, die, um mich lieben zu können, wie ich geliebt werden soll, nicht mehr von der Welt sind.»