27.09.2016

JESUS WIRD VON DEN SAMARITERN ABGELEHNT

nach Maria Valtorta

Tirza verschwindet so völlig inmitten üppiger Olivenhaine, dass man schon ganz in seine Nähe kommen muss, um die Stadt zu bemerken. Ein Gürtel von äußerst fruchtbaren Gärten bildet den letzten Windschutz für die Häuser. In den Gärten gehen die verschiedenen Grüntöne von Rüben, Salat, Hülsenfrüchten und jungen Kürbispflanzen ineinander über, und Obstbäume und Weinlauben schlingen ihre fruchtverheißenden Blüten und die kleinen, schon große Genüsse

versprechenden Früchte ineinander. Die kleinen Blüten der Reben und die frühen Olivenblüten regnen beim leichtesten Windhauch herab und bedecken den Boden mit einem grünlichweißen Schnee.

Hinter einem Gebüsch aus Schilfrohr und Weiden an einem leeren, aber noch feuchten Mühlgraben tauchen, als die Schritte der Ankommenden hörbar werden, die acht Apostel auf, die vorausgeschickt worden waren. Sie sind sichtlich betrübt und unruhig und geben den anderen ein Zeichen, stehenzubleiben, während sie ihnen entgegeneilen. Als sie so nahe gekommen sind, dass man sie hören kann, ohne dass sie schreien müssen, sagen sie: »Fort! Fort! Zurück in die Felder. Ihr könnt nicht in die Stadt hineingehen. Sie hätten uns fast gesteinigt. Kommt, fort. Dort, in dem Dickicht werden wir euch alles erklären . . . « Sie drängen alle in den trockenen Mühlgraben und dann zurück, Jesus, die drei Apostel, den Knaben und die Frauen, in dem Bemühen, fortzukommen ohne gesehen zu werden, und sagen: »Daß sie uns nur nicht sehen. Gehen wir! Gehen wir!« Vergeblich versuchen Jesus, Judas und die beiden Söhne des Zebedäus zu erfahren, was vorgefallen ist. Vergeblich fragen sie: »Und Judas des Simon? Und Elisa?«

Die acht sind unerbittlich. Sie gehen durch das Gewirr von langen Stengeln und Wasserpflanzen. Sumpfbinsen verletzen sie an den Füßen. Weiden und Schilfrohr schlagen ihnen ins Gesicht. Auf dem Schlamm im Grund gleiten sie aus, halten sich an den Halmen fest, stützen sich am Rand des Grabens ab, werden gründlich schmutzig und entfernen sich so, immer gedrängt und gestoßen von den acht Aposteln, die fast ständig mit nach hinten gedrehten Köpfen gehen, um zu sehen, ob von Tirza jemand kommt und sie verfolgt. Aber auf dem Weg sieht man nur die untergehende Sonne und einen mageren streunenden Hund.

Endlich sind sie bei den dichten Brombeersträuchern angekommen, die einen Besitz umgeben. Hinter dem Gestrüpp wiegen sich die hohen Stengel eines großen Flachsfeldes im Wind, an denen sich schon die ersten himmelblauen Blüten öffnen.

»Hierher. Hier herein. Wenn wir uns setzen, kann uns niemand sehen. Und sobald es Abend wird, gehen wir weiter . . . « sagt Petrus und wischt sich den Schweiß von der Stirn . . .

»Wohin?« fragt Judas des Alphäus. »Wir haben die Frauen bei uns.«

»Irgendwohin. Übrigens liegt auf den Feldern viel Heu. Das wäre auch ein Bett. Für die Frauen machen wir Zelte aus unseren Mänteln, und wir halten Wache.«

»Ja, es genügt, nicht gesehen zu werden und dann im Morgengrauen zum Jordan hinunterzugehen. Du hast recht gehabt, Meister, die Straße von Samaria nicht gehen zu wollen. Für uns Arme sind die Räuber besser als die Samariter!« sagt Bartholomäus noch ganz atemlos.

»Aber was ist denn eigentlich passiert? Hat Judas etwas angestellt . . .?« fragt Thaddäus.

Thomas unterbricht ihn: »Judas hat sicher Prügel bekommen. Es tut mir leid für Elisa . . . «

»Hast du Judas gesehen?«

»Ich? Nein. Aber es ist leicht, hier den Propheten zu spielen. Wenn er sich als dein Apostel zu erkennen gegeben hat, ist er sicher geschlagen worden. Meister, sie wollen dich nicht haben.«

»Ja, sie sind alle gegen dich aufgebracht.«

»Sie sind eben wahre Samariter.«

Alle reden gleichzeitig. Jesus gebietet allen Schweigen und sagt: »Nur einer soll sprechen. Du, Simon Zelot, denn du bist der Gelassenste.«

»Herr, das ist bald gesagt. Wir gingen in die Stadt und niemand tat uns etwas zuleide, solange sie nicht wußten, wer wir waren, solange sie uns für Pilger auf der Durchreise hielten. Als wir dann aber fragten – und wir mussten es ja tun – ob ein junger, großer, dunkelhaariger Mann mit rotem Gewand und weiß-rot gestreiftem Talit und eine alte magere Frau mit mehr weißem als schwarzem Haar und einem dunkelgrauen Kleid in die Stadt gekommen seien und den Meister von Galiläa und seine Begleiter gesucht hätten, wurden sie sofort aufgeregt. Wir hätten vielleicht nichts von dir sagen sollen. Wir haben da gewiss einen Fehler gemacht. Aber in den anderen Orten sind wir immer so gut aufgenommen worden . . . Ich weiß wirklich nicht, was geschehen ist . . .! Sie gleichen Vipern . . . Dieselben Menschen, die noch vor drei Tagen so ehrerbietig dir gegenüber waren . . . «

Thaddäus unterbricht ihn: »Die Arbeit der Juden . . . «

»Ich glaube nicht. Ich glaube es nicht, wegen der Vorwürfe, die sie uns gemacht haben, und wegen ihrer Drohungen. Ich glaube . . . oder vielmehr, ich bin, wir sind sicher, der Grund des Zornes der Samariter ist, dass Jesus ihr Angebot, ihn zu schützen, abgelehnt hat. Sie haben geschrien: „Fort! Fort mit euch! Mit euch und eurem Meister! Er will auf den Berg Morija gehen, um dort zu beten. Er soll nur gehen und umkommen, mit allen, die zu ihm gehören. Es gibt keinen Platz bei uns für jene, die uns nicht als Freunde, sondern nur als Diener betrachten. Wir wollen nicht noch mehr Schwierigkeiten, wenn es uns keinen praktischen Nutzen bringt. Steine, und kein Brot mehr für den Galiläer. Wir wollen ihm nicht mehr unsere Häuser öffnen, sondern die Hunde auf ihn hetzen.“ Das und ähnliches haben sie gesagt. Und da wir darauf bestanden zu erfahren, ob Judas dagewesen ist, haben sie Steine aufgehoben, um sie auf uns zu werfen,

und haben tatsächlich ihre Hunde auf uns gehetzt. Sie riefen sich zu: „Wir wollen alle Eingänge bewachen. Wenn er kommt, werden wir uns rächen.“ Da sind wir geflohen. Eine Frau – es gibt auch unter den Bösen immer einige Gute – schob uns in ihren Garten und führte uns von dort auf einem schmalen Weg zwischen den Gärten zu dem Mühlgraben, in dem gerade kein Wasser ist, weil man vor dem Sabbat die Felder bewässert hat. Dort hat sie uns versteckt und

versprochen, dass sie uns wegen Judas Bescheid geben würde. Aber sie ist nicht mehr zurückgekommen. Wir wollen trotzdem hier auf sie warten, denn sie hat gesagt, dass sie hierher kommt, wenn sie uns im Mühlgraben nicht mehr vorfindet.«

Sie machen allerhand Bemerkungen. Die einen fahren fort, die Juden anzuklagen. Andere machen Jesus einen leichten Vorwurf, einen versteckten Vorwurf, mit den Worten: »Du hast in Sichem zu offen geredet und bist dann weggegangen. In diesen drei Tagen haben sie entschieden, dass es nutzlos ist, sich Illusionen zu machen und sich selbst zu schaden für einen, der sie nicht zufriedenstellt . . . Und so verjagen sie dich jetzt . . . «

Jesus antwortet: »Es reut mich nicht, die Wahrheit gesagt zu haben und meine Pflicht zu tun. Jetzt verstehen sie noch nicht. Bald aber werden sie meine Gerechtigkeit verstehen und mich mehr verehren, als wenn ich nicht an ihr festgehalten hätte; das ist wichtiger als meine Liebe zu ihnen.«

»Endlich! Dort kommt die Frau auf der Straße. Sie hat den Mut, sich hier zu zeigen . . . « sagt Andreas.

»Sie wird uns doch nicht verraten?« sagt Bartholomäus mißtrauisch.

»Sie ist allein!«

»Es könnten ihr Leute folgen, die sich im Mühlgraben versteckt halten . . . «

Aber die Frau, die sich mit einem Korb auf dem Kopf nähert, geht über die Flachsfelder hinaus, in denen Jesus und die Apostel warten.

Dann schlägt sie einen schmalen Pfad ein und entschwindet ihren Blicken . . . um unerwartet hinter dem Rücken der Wartenden wieder aufzutauchen, die sich fast erschrocken umdrehen, als sie die Stengel knistern hören.

Die Frau sagt zu den acht Aposteln, die sie kennt: »Hier bin ich. Verzeiht, dass ich euch so lange habe warten lassen . . . Ich wollte vermeiden, dass mir jemand folgt, und habe gesagt, dass ich zu meiner Mutter gehe . . . Und hier habe ich Verpflegung für euch gebracht. Der Meister . . . Welcher ist es? Ich möchte ihn verehren!«

»Dieser ist der Meister.«

Die Frau, die ihren Korb abgestellt hat, kniet nieder und sagt: »Verzeih die Schuld meiner Mitbürger. Wenn sie nicht aufgehetzt worden wären . . . Aber nach deiner Ablehnung haben viele gegen dich gear- beitet . . . «

»Ich hege keinen Groll gegen sie, Frau. Steh auf und sprich. Weißt du etwas von meinem Apostel und der Frau, die bei ihm war?«

»Ja. Man hat sie wie Hunde verjagt, und sie sind nun auf der anderen Seite der Stadt und warten dort auf die Nacht. Sie wollten zurückkehren nach Änon und dich suchen. Dann wollten sie hierherkommen, als sie erfuhren, dass ihre Gefährten hier sind. Ich habe ihnen davon abgeraten und gesagt, sie sollten sich ruhig verhalten, ich würde euch zu ihnen führen. Das werde ich auch tun, sobald es dunkel wird. Zum Glück ist mein Mann auswärts und ich bin frei,

das Haus zu verlassen. Ich werde euch zu einer meiner Schwestern 2bringen, die in der Ebene verheiratet ist. Ihr könnt dort schlafen, ohne zu sagen, wer ihr seid; nicht wegen Merod, sondern wegen der Männer, die bei ihr sind. Sie sind keine Samariter, sondern Leute aus der Dekapolis, die sich hier niedergelassen haben. Aber es ist immer besser . . . «

»Gott möge es dir vergelten. Sind die beiden Jünger verletzt wor-

den?«

»Nur der Mann ein wenig. Die Frau nicht. gewiss hat der Allmächtige sie beschützt, denn sie hat sich mutig vor ihren Sohn gestellt, als die Bürger Steine aufhoben. Oh, was für eine starke Frau! Sie hat gerufen: „So behandelt ihr einen, der euch nichts getan hat? Und ihr achtet nicht einmal mich, die ich ihn verteidige und eine Mutter bin? Habt ihr denn alle keine Mütter, dass ihr keine Ehrfurcht habt vor einer Frau, die geboren hat? Seid ihr denn von einer Wölfin geboren, oder seid ihr aus Erde und Lehm entstanden?“ Sie schaute den Angreifern ins Gesicht und breitete ihren Mantel weit aus, um den Mann zu schützen. Und dabei ging sie rückwärts und schob ihn so zur Stadt hinaus . . . Auch jetzt tröstet sie ihn noch und sagt:

„Möge der Allerhöchste, o mein Judas, dieses Blut, das du für den Meister vergossen hast, Balsam für deine Seele werden lassen.“ Aber die Verletzung ist sehr gering. Wahrscheinlich ist der Schrecken des Mannes größer als der Schmerz. Doch nun nehmt und eßt. Hier ist frischgemolkene Milch für die Frauen, und Brot, Käse und Obst. Ich

konnte kein Fleisch braten. Das hätte zu lange gedauert. Hier ist Wein für die Männer. Eßt, während es dämmert. Dann werden wir auf sicheren Wegen zu den beiden gehen, und danach zu Merod.«

»Gott möge es dir noch einmal vergelten«, sagt Jesus. Er opfert die Speisen auf und verteilt sie dann, wobei er etwas für die beiden Abwesenden zur Seite legt.

»Nein, nein. An die beiden habe ich schon gedacht. Ich habe Brot und Eier in meinem Gewand verborgen, und auch etwas Wein und Öl für die Wunden. Dies ist alles für euch. Eßt. Ich beobachte solange die Straße . . . «

Sie essen. Aber die Empörung läßt den Männern keine Ruhe und die Niedergeschlagenheit nimmt den Frauen den Appetit; allen, mit Ausnahme von Maria von Magdala, auf die das, was die anderen verängstigt und kränkt, immer wie ein die Nerven und den Mut stärkendes und anregendes Getränk wirkt. Ihre Augen blitzen in Richtung der feindseligen Stadt. Und nur die Gegenwart Jesu, der schon gesagt hat, dass er keinen Groll empfindet, hält sie davon ab, heftige Worte zu gebrauchen. Und da sie nicht reden und nichts unternehmen kann, läßt sie ihren Zorn an dem unschuldigen Brot aus, in das sie auf eine so bezeichnende Weise hineinbeißt, dass der Zelote sich nicht enthalten kann, lächelnd zu sagen: »Gut für die Leute von Tirza, dass sie nicht in deine Hände fallen können! Du gleichst einem Raubtier in Ketten, Maria!«

»Ich bin es. Das siehst du ganz richtig. Und vor Gott hat es größeren Wert, dass ich mich beherrsche und nicht dort hineingehe, wie sie es verdienen, als alles, was ich bisher an Sühne geleistet habe.«

»Sei gut, Maria! Gott hat dir größere Sünden vergeben als die Sünden dieser dort.«

»Das ist wahr. Sie haben dich, meinen Gott, nur einmal beleidigt und sind von anderen dazu verleitet worden. Ich viele Male . . . und aus eigenem Willen . . . und ich habe kein Recht, streng und stolz zu sein . . . « Maria senkt ihren Blick, und zwei große Tränen fallen auf ihr Brot.

Marta legt ihre Hand in den Schoß der Schwester und sagt leise:

»Gott hat dir verziehen. Sei nicht mehr traurig . . . Denk daran, was du dafür bekommen hast: unseren Lazarus . . . «

»Ich bin nicht traurig, sondern dankbar. Ich bin gerührt . . . Und ich muss auch feststellen, dass mir immer noch die Barmherzigkeit fehlt, die ich selbst in so reichem Maß empfangen habe . . . Verzeih mir, Rabbuni!« sagt sie und erhebt ihre herrlichen Augen, die die Demut wieder sanft macht.

»Die Vergebung wird niemals denen verweigert, die demütigen Herzens sind, Maria.«

Der Abend sinkt hernieder und verleiht der Atmosphäre eine zartviolette Tönung. Die etwas entfernteren Dinge sind nicht mehr zu unterscheiden. Die Halme des Flachses, die man zuvor in ihrer ganzen Grazie erkennen konnte, verschwimmen nun zu einer dunklen Masse. Die Vöglein in den Zweigen schweigen. Der erste Stern blitzt auf. Die erste Grille zirpt im Gras. Es ist Abend.