05.07.2017

Hl. Bernhard von Clairvaux (1090 — 1153), Kirchenlehrer: Gott hat uns zuerst geliebt und gesucht

„Des Nachts […] suchte ich ihn, den meine Seele liebt“ (Hld 3,1). Welch großes Gut ist doch die Suche nach Gott! Meiner Meinung nach gibt es kein größeres. Es ist die erste der Gaben Gottes, und noch dazu deren vollendete. Sie reiht sich nicht hinter einer anderen Tugend ein, denn keine geht ihr voran. Welche Tugend könnte man denn jemandem zuschreiben, der nicht Gott sucht, und wie sollte man die Suche nach Gott eingrenzen? „Sucht sein Antlitz allezeit“, sagt ein Psalm (105[104],4). Ich glaube, dass man nicht aufhören wird, ihn zu suchen, selbst wenn man ihn gefunden hat.

Man sucht Gott nicht, indem man irgendwohin läuft, sondern indem man sich nach ihm sehnt. Denn das Glück, ihn gefunden zu haben, löscht die Sehnsucht nicht aus, im Gegenteil, es lässt sie wachsen. Die Freude zu verkosten […] ist vielmehr wie Öl auf das Feuer zu gießen, denn die Sehnsucht ist eine Flamme. Die Freude wird vollkommen sein (Joh 15,11), aber die Sehnsucht hat kein Ende, also auch nicht die Suche […]

Jede Seele, die Gott sucht, soll wissen, dass Gott ihr zuvorgekommen ist: dass Gott sie schon gesucht hat, noch bevor sie sich auf die Suche nach ihm gemacht hat […] Dazu ruft euch die Güte dessen auf, der euch zuvorkommt, der euch zuerst gesucht und euch zuerst geliebt hat. Wäret ihr also nicht zuerst gesucht worden, würdet ihr selbst ihn keinesfalls suchen; wäret ihr nicht zuerst von ihm geliebt worden, würdet ihr selbst ihn nicht lieben. Man ist euch zuvorgekommen, und nicht durch eine einzige Gnade, sondern durch zwei Gnaden: durch Liebe und durch Suche. Die Liebe ist Ursache der Suche; die Suche ist Frucht der Liebe und auch Beweis für sie. Wegen der Liebe fürchtet ihr euch nicht davor, gesucht zu werden. Und weil ihr gesucht worden seid, werdet ihr nicht darüber klagen, umsonst geliebt zu werden.