18.05.2017

Hl. Johannes vom Kreuz (1542 — 1591), Kirchenlehrer über die dunkle Nacht der Seele

Diese Nacht, die mit der Kontemplation zusammenfällt, verursacht zwei Arten von Finsternissen oder Läuterungen in den Vergeistigten, entsprechend den beiden Teilen des Menschen, dem sinnlichen und dem geistigen. Und es wird die eine Nacht oder Läuterung dem Sinnenhaften gelten; darin wird die Seele in ihrem sinnengebundenen Teil geläutert und so dem Geist angepasst. Und die andere ist eine Nacht der geistigen Läuterung, darinnen die Seele nach ihrer geistigen Seite geläutert und entblößt wird, um sie für die Liebeseinigung mit Gott zu befähigen und vorzubereiten. Die Nacht der Sinne ist nicht ungewöhnlich und wird von vielen durchlitten, von den Anfangenden; und von ihr wollen wir zuerst sprechen. Die geistige Nacht wird nur von ganz wenigen durchlitten, und diese sind schon Erfahrene und Gottempfängliche; davon werde ich in der Folge sprechen.

Die erste Nacht der Läuterung ist für die Sinnlichkeit bitter und furchtbar, wie sich gleich erweisen wird. Die zweite ist mit nichts zu vergleichen, so grauenvoll und entsetzlich ist sie für den Geist.

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Diese dunkle Nacht ist eine gnadenvolle Einwirkung Gottes auf die Seele, wodurch sie von ihrer Unwissenheit wie von ihren gewohnheitsmäßigen Unvollkommenheiten, von den natürlichen wie den geistlichen, geläutert werden soll: ein Vorgang, den die Kontemplativen eingegebene Gotterfahrung oder mystische Theologie nennen. In dieser mystischen Erfahrung lehrt Gott die Seele im geheimen und lenkt sie zur Vollkommenheit der Liebe, ohne ihr Zutun, ohne ihre Einsicht in solche eingegebene Kontemplation. Als liebevolle Weisheit wirkt Gott mit übergewaltiger Hoheit auf die Seele ein und schmeidigt sie durch Läuterung und Erleuchtung für die Liebeseinigung mit seiner Gottheit.[. . . ] Warum aber wird das göttliche Licht, das läuternd und erhellend in der Seele die Unwissenheiten tilgt, hier von dieser Seele ((dunkle Nacht)) genannt? Ich antworte: aus zwei Gründen ist diese göttliche Weisheit nicht nur Nacht und Finsternis für die Seele, sondern auch Peinigung und Marter. Nacht ist sie wegen ihrer Erhabenheit, die weit ¨über die Fassungskraft der Seele hinausgeht; als überwahrnehmbar ist sie dunkel. Zum andern ist sie Nacht wegen der Niedrigkeit und Unreinheit der Seele, und darum für sie peinvoll, schmerzhaft und gleichfalls dunkel.