18.07.2017

Hl. Alfons Maria de Liguori (1696 — 1787), Kirchenlehrer — Notwendigkeit des innerlichen oder betrachtenden Gebetes

Im Verlaufe des Tages soll man, sobald es geschehen kann, durch eine halbe Stunde das innerliche oder betrachtende Gebet üben. Die Betrachtung ist zwar nicht unbedingt notwendig, um sich im Stande der Gnade zu erhalten, aber sie ist moralisch notwendig, das heißt: diejenigen, die sie nicht üben, werden schwer im Stande der Gnade ausharren, und zwar aus einem doppelten Grunde. Der erste Grund ist: weil man die ewigen Wahrheiten nicht mit den leiblichen Augen sehen kann, sondern nur mit den Augen des Geistes, wenn man sich nämlich daran erinnert, sie erwägt und so auf geistliche Weise sich vor Augen stellt. Wer also nicht betrachtet, sieht diese Wahrheiten nicht, und weil er sie nicht sieht, sieht er auch nicht, wie wichtig das Geschäft seines ewigen Heiles ist, und er sieht weder die Hindernisse und Gefahren, die ihn umgeben, noch die Mittel, die er dagegen anzuwenden lernt: und so wird es ihm sehr schwer sein, sein Heil zu wirken.

Der zweite Grund ist: weil eine Seele, welche nicht betrachtet, auch das Bittgebet nicht übt, das Bittgebet aber zu unserem Heile unbedingt notwendig ist, nicht bloß, weil es uns Gott geboten hat, sondern auch, weil es an und für sich ein unerläßliches Mittel ist, um die göttlichen Gebote zu erfüllen. Denn nach dem gewöhnlichen Wege der göttlichen Vorsehung gewährt der Herr seinen Beistand den Erwachsenen nur dann, wenn Er darum gebeten wird. Wer aber nicht betrachtet, erkennt nur wenig oder gar nicht seine geistlichen Bedürfnisse und die Notwendigkeit des Gebetes, um den Versuchungen zu widerstehen und sein Heil zu wirken: er betet deshalb wenig oder gar nicht, und wenn er nicht betet, wie er soll, wird er ganz gewiss zu Grunde gehen. Der gottselige Bischof Palafor sagt: „Wie wird uns der Herr die Beharrlichkeit verleihen, wenn wir Ihn nicht darum bitten? Wie werden wir Ihn aber darum bitten, wenn wir nicht betrachten?” Die heilige Theresia dagegen sagt, dass derjenige, der das Gebet übt, nicht lange in der Sünde bleiben werde; denn er werde entweder das Gebet oder die Sünde lassen, weil Gebet und Sünde nicht nebeneinander bestehen können.