26.06.2016

«LASS DIE TOTEN IHRE TOTEN BEGRABEN!»

nach Maria Valtorta

Ich sehe Jesus, der sich mit seinen elf Aposteln zum Ufer des Sees begibt. Johannes fehlt immer noch. Die Leute drängen sich um ihn. Unter ihnen erkenne ich viele, die auf dem Berge waren, hauptsächlich Männer, die ihm nach Kapharnaum gefolgt sind, um noch mehr von seinen Predigten zu hören. Sie möchten ihn zurückhalten, doch er sagt: «Ich gehöre allen, und es sind viele, die meiner bedürfen. Ich werde wiederkommen und ihr werdet mich hier wieder treffen, doch jetzt laßt mich gehen.» Nur mühsam vermag er sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die sich durch das schmale Gäßlein drängt. Die Apostel, hierüber verärgert, arbeiten mit den Ellbogen, um ihm Platz zu schaffen. Doch es ist, als ob sie in eine weiche Masse schlagen würden, so schnell schließt sich jede Lücke wieder. Sie werden auch ärgerlich, doch es nützt nichts.
Schon sind sie in Sichtweite des Ufers, als ein Mann mittleren Alters und vornehmen Aussehens, der sich mühsam bis zum Meister durchgekämpft hat, diesen an der Schulter berührt, um seine Aufmerksamkeit
auf sich zu lenken. Jesus dreht sich um, bleibt stehen und fragt: «Was willst du?»
«Ich bin Schriftgelehrter. Doch deine Worte sind nicht zu vergleichen mit dem, was in unseren Geboten enthalten ist, und sie haben mich erobert, Meister! Ich verlasse dich nicht mehr. Ich werde dir folgen, wohin du auch gehen magst. Welches ist dein Weg?»
«Jener zum Himmel.»
«Ich meine nicht diesen. Ich frage dich, wohin du gehst. In welchen Häusern wirst du dich nach diesem hier aufhalten, damit ich dich jederzeit erreichen kann?»
«Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester, doch der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen könnte. Mein Haus ist die Welt, überall dort, wo es Menschen zu belehren, wo es Unglückliche aufzurichten und Sünder zu erlösen gibt.»
«Überall also!»
«So ist es. Könntest du, Gelehrter Israels, tun, was diese Geringsten aus Liebe zu mir tun? Das erfordert Opfer und Gehorsam, Liebe zu allen und die Fähigkeit, sich allem und allen anzupassen, denn durch Herablassung gewinnt man die Herzen. Im Himmel wird es einst Reinheit geben, doch hier befinden wir uns noch im Schlamm; und diesem Schlamm, auf den wir unsern Fuß setzen, müssen wir die schon eingesunkenen Opfer entreißen. Wir dürfen nicht einfach unsere Gewänder raffen und zurückweichen, dort wo der Schlamm besonders hoch ist. Die Reinheit muß in uns sein. Wir müssen so sehr von ihr erfüllt sein, daß nichts Unreines mehr in uns eindringen kann. Kannst du dies alles?»
«Laß es mich wenigstens versuchen.»
«Versuche es. Ich werde beten, daß du dazu fähig wirst.»
Jesus geht weiter, und seine Aufmerksamkeit richtet sich auf zwei Augen, die ihn betrachten. Es ist ein hochgewachsener, kräftiger Jüngling, der stehengeblieben war, um den Zug vorbei zu lassen. Es scheint, daß sein Weg in eine andere Richtung führt, aber Jesus wendet sich an ihn und sagt: «Folge mir!»
Der Jüngling fährt zusammen, erblaßt und seine Lider zucken wie durch ein Licht geblendet. Nach Antwort ringend öffnet er den Mund und sagt endlich: «Ich werde dir nachfolgen, aber laß mich vorerst meinen Vater zu Grabe tragen, der in Chorazim gestorben ist. Laß mich dies noch tun und dann werde ich kommen.»
«Folge mir! Laß die Toten ihre Toten begraben. Du bist schon vom "Leben" in den Bann gezogen und hast es auch gewünscht. Weine nicht wegen der Leere, mit der das "Leben" dich umgeben hat, um dich als Jünger zu gewinnen. Aus den verlorenen Zuneigungen wachsen dem nun umgewandelten Menschen die Flügel, um in den Dienst der Wahrheit Gottes zu treten. Laß der Verwesung ihren Lauf. Erhebe dich zum Reich, wo es keine Auflösung gibt. Dort wirst du auch die unverwesliche Perle deines Vaters finden. Gott ruft und geht vorüber. Morgen schon würdest du den Mut dazu nicht mehr finden und die Einladung Gottes käme nicht mehr. Geh und verkünde das Reich Gottes.»
Der Mann lehnt an einer Mauer; an seinen Armen hängen Taschen, die gewiß mit wohlriechenden Kräutern und Binden gefüllt sind; mit gesenktem Haupte denkt er nach, unentschlossen, im Zwiespalt zwischen Gottesliebe und Liebe zum Vater.
Jesus wartet und betrachtet ihn. Schließlich nimmt er ein Knäblein und sagt zu ihm: «Bete mit mir: "Ich preise dich, o Vater, und flehe um dein Licht für jene, die im Dunkel des Lebens weinen. Ich preise dich, o Vater, und flehe um deine Kraft für alle, die in ihrer kindlichen Hilflosigkeit deines Beistandes bedürfen. Ich preise dich, o Vater, und flehe um deine Liebe, damit du all jene, die nicht glauben können, daß in dir jegliches Glück im Himmel und auf Erden zu finden ist, alles vergessen läßt, was nicht du bist."» Das unschuldige, etwa vierjährige Knäblein, wiederholt mit seinem kleinen Stimmchen die heiligen Worte. Es hat die Händchen zum Gebet gefaltet, lehnt das Köpfchen an die rechte Schulter Jesu, der es an den rundlichen Handgelenken hält, als wären es zwei Blütenstengel.
Der Mann entscheidet sich. Er gibt seine Bündel einem Gefährten und geht auf Jesus zu, der das Kind wieder auf den Boden stellt und es segnet. Jesus legt seinen Arm auf die Schulter des Jünglings und setzt so und ihn ermutigend seinen Weg fort.
Ein anderer Mann gesteht ihm: «Auch ich möchte wie er mit dir kommen, doch vorher möchte ich mich von meinen Angehörigen verabschieden. Erlaubst du es mir?»
Jesus blickt ihn fest an und antwortet: «Zu tief bist du in deiner Menschlichkeit verwurzelt. Reiße diese Wurzeln aus, und wenn es dir nicht gelingt, dann haue sie aus. Zum Dienste Gottes kommt man in geistiger Freiheit und keine behindernden Bande dürfen dieser Hingabe im Wege stehen.»
«Aber Herr, Fleisch und Blut bleiben immer Fleisch und Blut! Ich werde langsam zur Freiheit gelangen, von der du sprichst...»
«Nein, du würdest es nicht tun. Gott ist ebenso anspruchsvoll, wie er unendlich großmütig im Belohnen ist. Wenn du Jünger sein willst, mußt du das Kreuz umfangen und mir folgen; sonst gehört man zu der Schar der einfachen Gläubigen. Der Weg des Dieners Gottes ist nicht ein Weg auf Rosenblättern und seine Forderungen sind absolut. Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat, um die Felder der Herzen zu pflügen und den Samen der Lehre Gottes auszuwerfen, darf sich umwenden und betrachten, was er zurückgelassen und was er verloren hat, was er auf dem gewöhnlichen Weg gewonnen hätte. Wer so handelt, taugt nicht für das Reich Gottes. Arbeite an dir, bereite dich vor; und dann komm, aber nicht jetzt.»
Das Ufer ist erreicht. Jesus besteigt das Boot des Petrus, dem er einige Worte zuflüstert. Ich sehe, daß Jesus lächelt, und Petrus macht eine Gebärde des Erstaunens. Aber er sagt nichts. Es steigt auch der Mann mit ein, der darauf verzichtet hat, seinen Vater zu begraben, um Jesus nachzufolgen.