11.09.2016

MARIÄ DARSTELLUNG IM TEMPEL

nach Maria Valtorta

Ich sehe Maria zwischen Vater und Mutter auf dem Weg nach Jerusalem.

Die Vorübergehenden bleiben stehen, um das schöne Kind anzuschauen, das schneeweiß gekleidet und eingehüllt ist in ein leichtes Gewebe, das mit seinen dunklen Blatt- und Blumenmustern auf zartem Untergrund dasselbe zu sein scheint, das Anna am Tag ihrer Reinigung trug. Während es aber bei Anna nicht über den Gürtel hinausreichte, wallt es bei der noch ganz jungen, kleinen Maria fast bis zum Boden und hüllt sie in ein leichtes, leuchtendes Wölkchen

von seltener Lieblichkeit. Ihr blondes Haar, das über die Schulter, oder richtiger, über den feinen Nacken lose herabfällt, leuchtet an den Stellen durch, wo keine Damastverzierungen im Schleier sind. Der Schleier ist an der Stirn festgehalten von einem hellblauen Band, auf dem offenbar von der Mutter kleine silberne Lilien aufgestickt worden sind.

Das erwähnte blütenweiße Kleid reicht bis zur Erde, so dass die mit weißen Sandalen bekleideten Füßchen bei ihren Schritten kaum sichtbar werden. Die Händchen, die aus den langen Ärmeln hervorragen, gleichen zwei Blütenblättchen der Magnolie. Abgesehen von der himmelblauen Gürtelbinde ist keine andere Farbe sichtbar. Maria ist wie in Schnee gekleidet.

Joachim trägt dasselbe Kleid wie am Tag von Annas Reinigung; sie hingegen ist ganz in Violett gekleidet. Auch der Mantel, der ihr zugleich das Haupt bedeckt, ist dunkelviolett; sie läßt ihn weit über die Augen herabhängen. Zwei arme Mutteraugen, rot vom Weinen, die nicht weinen wollen und vor allem nicht weinend gesehen werden möchten, und denen es doch nicht möglich ist, nicht zu weinen unter dem Schutz des Mantels. Sie schützt sich so gegen die Blicke

der Vorübergehenden und auch gegen jene von Joachim, dessen Augen sonst stets heiter sind; heute aber sind auch sie gerötet und trübe wegen der vergossenen und immer noch fließenden Tränen. Er geht sehr gebeugt unter seinem Kopftuch, das er wie einen Turban zusammengebunden hat und dessen Seitenflügel rechts und links von seinem Gesicht herabhängen. Er ist jetzt ein Greis, Joachim. Wer ihn sieht, hält ihn für den Großvater oder Urgroßvater der Kleinen, die er an der Hand führt. Der Schmerz, sie zu verlieren, gibt dem armen Vater einen schleppenden Schritt; eine Müdigkeit in seiner ganzen Haltung, die ihn um zwanzig Jahre älter erscheinen läßt. Sein Gesicht scheint das Gesicht eines Kranken zu sein, nicht nur das eines Alten, so müde und traurig ist es mit dem leicht zitternden Mund zwischen den beiden Falten, die heute seitlich der Nase so ausgeprägt sind.

Die beiden versuchen, ihr Weinen zu verbergen. Aber wenn es ihnen auch bei vielen gelingt, bei Maria, die wegen ihrer kleinen Gestalt von unten nach oben blickt, gelingt es ihnen nicht; das kleine Haupt erhebend, sieht sie abwechselnd auf Vater und Mutter, die sich bemühen, ihr mit zitterndem Mund zuzulächeln. Jedesmal, wenn ihr Töchterlein sie anschaut und lächelt, drücken sie ihr das kleine Händchen. Sie denken: »Noch ein Lächeln weniger von denen,

die wir noch zu sehen bekommen.«

Sie gehen langsam, immer langsamer. Es scheint, als wollten sie so langsam wie möglich ihres Weges dahinziehen. Alles läßt sie haltmachen . . . Aber die Straße muss doch einmal enden. Und das Ziel ist jetzt schon nahe. Sieh da, auf der Höhe dieses letzten Teiles der steigenden Straße erscheinen die Ringmauern des Tempels. Anna seufzt und umklammert das Händchen Marias stärker.

»Anna, meine Teure, ich bin bei dir!« sagt eine Stimme aus dem Schatten eines niedrigen Bogens an einer Straßenkreuzung. Es ist Elisabet, die offenbar auf sie gewartet hat. Sie geht auf sie zu und drückt sie an ihr Herz. Und da sie Anna weinen sieht, sagt sie zu ihr:

»Komm! komm für kurze Zeit in dieses Freundeshaus. Dann gehen wir zusammen weiter. Auch Zacharias ist dort.«

Alle treten in eine niedere und dunkle Stube ein, in der ein großes Feuer als Beleuchtung dient. Die Hausfrau, sicher eine Freundin Elisabets, Anna aber fremd, zieht sich höflich zurück, um die Neuankömmlinge allein zu lassen. »Glaube nicht, dass ich es bereue oder unwillig bin, meinen Schatz dem Herrn zu weihen«, erklärt Anna unter Tränen . . . »Aber mein Herz . . . oh! mein Herz! Wie weh tut es ihm, meinem alten Herzen, das zurück muss in die kinderlose Zeit! Ach, wenn du es mitfühlen könntest! . . . «

»Ich verstehe dich, meine liebe Anna . . . aber du bist so gut, und Gott wird dich stärken in deiner Einsamkeit. Maria wird beten für den Frieden ihrer Mama, nicht wahr?«

Maria liebkost die mütterliche Hand und küßt sie, führt sie sich über das Gesicht, um von ihr geliebkost zu werden, und Anna nimmt dieses Gesichtchen in ihre Hände und küßt es. Sie wird nicht müde, es zu küssen.

Zacharias tritt ein und grüßt: »Den Gerechten der Friede des Herrn!«

»Ja«, sagt Joachim, »erflehe für uns den Frieden, denn unser Inneres erzittert vor dem Opfer, wie das unseres Vaters Abraham, während er den Berg bestieg [Gen 22,1–14], und wir finden keine andere Opfergabe, um uns loszukaufen. Wir möchten es auch nicht, denn wir wollen Gott treu bleiben. Aber wir leiden darunter; Zacharias, Priester des Herrn, verstehe uns und erzürne nicht über uns!«

»Nein, im Gegenteil, euer Schmerz, der die erlaubten Grenzen nicht überschreitet und euch nicht zur Untreue verführt, ist mir ein Vorbild der Liebe zum Allerhöchsten; aber faßt Mut! Die Prophetin Hanna wird reichlich Sorge tragen für diese Blüte Davids und Aarons. In diesem Augenblick ist sie die einzige Lilie des heiligen Stammes Davids im Tempel; und sie wird behütet wie eine königliche Perle. Und da die Zeiten dem Ende entgegeneilen, sollten die Mütter des Stammes darauf achten, ihre Töchter dem Tempel zu weihen, denn aus einer Jungfrau des Stammes Davids wird der Messias hervorgehen, auch wenn auf Grund des Glaubensschwundes viele Plätze der Jungfrauen leer sind. Allzu wenige sind im Tempel, und von diesem königlichen Stamm niemand, seit vor drei Jahren Sara ihn als Braut des Elischa verließ. Es ist wahr, dass noch sechs Lustren (dreißig Jahre) bis zum Ende fehlen; nun aber hoffen wir, dass Ma-

ria die erste von vielen Jungfrauen aus dem Haus Davids vor dem heiligen Vorhang sein wird. Und dann . . . wer weiß . . . «

Zacharias spricht nicht weiter; er betrachtet gedankenvoll Maria. Dann fährt er fort: »Auch ich werde über sie wachen. Ich bin Priester, und ich habe dort auch eine gewisse Macht. Ich werde sie für diesen Engel verwenden. Und Elisabet wird sie oft besuchen . . . «

»Oh! sicher! Ich habe so ein großes Verlangen nach Gott, und ich werde kommen, es diesem Kind mitzuteilen, damit sie es dem Ewigen sage.«

Anna fühlt sich etwas erleichtert. Um sie noch mehr aufzumuntern, fragt Elisabet: »Ist das nicht dein Brautschleier? Oder hast du einen neuen gewoben?«

»Er ist es. Ich weihe ihn zusammen mit ihr dem Herrn. Ich habe keine guten Augen mehr . . . Und auch die Reichtümer sind sehr geschwunden, der Steuern und der Unglücksfälle wegen . . . Ich konnte keine großen Ausgaben machen. Ich habe nur für eine gute Aussteuer für ihren Aufenthalt im Haus Gottes gesorgt und für später . . . ; denn ich denke nicht, dass ich es sein werde, die für ihre Hochzeitskleider sorgen wird. Und ich will, dass es die Hände ihrer Mama sind, auch wenn sie kalt und unbeweglich geworden, die sie für die Hochzeit ausstatten und ihr die Leinen und die Brautkleider

weben.«

»Oh! Warum so denken?!«

»Ich bin alt, meine Kusine. Nie fühlte ich mich so alt wie unter diesem Schmerz. Die letzten Kräfte meines Lebens habe ich dieser Blu-e gewidmet, um sie tragen und ernähren zu können, und jetzt . . . und jetzt am Ende läßt der Schmerz, sie zu verlieren, alle meine Kräfte schwinden.«

»Aber sprich nicht so, um Joachims willen!«

»Du hast recht. Ich will darauf achten, für meinen Mann zu leben.«

Joachim tut, als ob er nichts gehört und auf Zacharias gelauscht hätte. Aber er hat es gehört und seufzt schwer mit vor Tränen glänzenden Augen.

»Wir sind zwischen der dritten und sechsten Stunde. Ich glaube, es wäre Zeit, zu gehen«, sagt Zacharias.

Alle erheben sich, um die Mäntel anzuziehen und zu gehen. Bevor sie aber hinausgehen, kniet Maria auf der Schwelle nieder und fleht mit ausgebreiteten Armen, wie ein kleiner Kerub: »Vater! Mutter! Euren Segen!«

Sie weint nicht, die tapfere Kleine. Aber ihre kleinen Lippen zittern und die von einem inneren Schluchzen bebende Stimme gleicht mehr denn je dem bangen Klagen der Turteltaube. Das Gesichtchen ist bleicher; das Auge hat den Ausdruck der ergebenen Angst, die ich noch viel stärker auf dem Kalvarienberg sah, wo man sie nicht mehr ansehen konnte, ohne tief darunter zu leiden.

Die Eltern segnen und küssen sie. Einmal, zweimal, zehnmal. Sie können es nicht genug tun . . . Elisabet weint still, und Zacharias ist, obwohl er es nicht zeigen will, gerührt.

Sie verlassen das Haus, Maria zwischen Vater und Mutter, davor Zacharias und seine Frau. Sieh, schon sind sie innerhalb der Tempelmauern.

»Ich gehe zum Hohenpriester. Ihr steigt hinauf zur großen Terrasse.«

Sie durchqueren drei Höfe und drei übereinanderliegende Vorhallen, und nun sind sie zu Füßen des mit Gold beschlagenen, großen Marmorwürfels gelangt. Jede Kuppel, gewölbt wie eine riesige, halbe Orange, blitzt in der Sonne, die jetzt am Mittag senkrecht auf den weiten Vorhof fällt, der das feierliche Gebäude umgibt. Auch der weite Platz und die breite Treppe, die zum Tempel führt, sind mit Licht erfüllt. Nur die Säulenhalle, die der Fassade entlang der

breiten Treppe gegenüberliegt, liegt im Schatten, und die hohe Pforte aus Bronze und Gold erscheint noch dunkler und feierlicher bei soviel Licht.

Maria leuchtet stärker als Schnee in dieser hellen Sonne. Nun ist sie zwischen Vater und Mutter zu Füßen der breiten Treppe. Wie muss den dreien das Herz schlagen! Elisabet befindet sich auf der

Seite Annas, ein wenig hinter ihr. Ein silberner Trompetenklang und die Pforte dreht sich in den bronzenen Angeln. Das Innere zeigt sich mit seinen Lampen im Hintergrund, und ein festlicher Zug kommt auf den Ausgang zu. Ein

feierlicher Zug unter dem Schall der silbernen Trompeten, den Wolken von Weihrauch und den Lichtern.

Nun ist der Zug auf der Schwelle, angeführt vom Hohenpriester. Ein würdevoller Greis, gekleidet in feinste Leinwand, darüber eine kürzere Tunika, ebenfalls aus Leinwand, und über dieser eine Art Priestergewand, ein Mittelding zwischen dem Priestergewand und jenem eines Diakons, sehr farbenreich: Purpur und Gold, Violett und Weiß wechseln sich ab und leuchten wie Edelsteine in der Sonne.

Zwei echte Juwelen glänzen noch viel lebhafter auf den Schultern des Hohenpriesters; vielleicht sind es Schnallen in einer kostbaren Fassung. Auf der Brust ein breites Schild mit strahlenden Edelsteinen, das an einer goldenen Kette hängt. Quasten und Verzierungen leuchten unten an der kurzen Tunika, und Gold glänzt auf der Stirn über der Kopfbedeckung, die mich an die der orthodoxen Priester erinnert, deren Mitra kuppelförmig ist und nicht spitz wie die der Katholiken.

Die feierliche Persönlichkeit tritt allein hervor bis zur Freitreppe und steht nun im Gold der Sonne, die sie noch mächtiger erscheinen läßt. Die anderen warten, einen Halbkreis bildend, vor der Pforte im Schatten des Säulenganges. Auf der linken Seite befindet sich eine weiße Gruppe von Mädchen mit der Prophetin Hanna und anderen älteren Frauen, offenbar Erzieherinnen. Der Hohepriester schaut auf die Kleine und lächelt. Sie muss ihm sehr klein erscheinen zu Füßen der großen Treppe, die eines ägyptischen Tempels würdig ist! Er erhebt die Arme zum Himmel, um zu

beten. Alle neigen ihr Haupt, wie überwältigt von der priesterlichen Majestät, die mit der ewigen Majestät in Verbindung steht.

Und sieh da. Er macht Maria einen Wink. Sie löst sich von Mutter und Vater wie verzückt und steigt empor und lächelt. Sie lächelt im Schatten des Tempels, dort, wo der kostbare Vorhang herabwallt.

Jetzt ist sie oben angelangt vor den Füßen des Hohenpriesters, der ihr die Hände auf das Haupt legt. Das Opfer ist angenommen worden. Hatte der Tempel je eine reinere Opfergabe gesehen?

Dann wendet sich der Hohepriester um; er legt ihr die Hand auf die Schulter, wie um sie, das makellose Lämmlein, zum Altar zu führen; er geleitet sie zum Tor des Tempels, und bevor er sie eintreten läßt, fragt er sie: »Maria, Tochter Davids, kennst du dein Gelübde?«

Auf das mit dem silbernen Stimmchen gesprochene »Ja«, ruft er: »Tritt ein, wandle in meiner Gegenwart und sei vollkommen!« [Gen 17,1]. Maria tritt ein, der Schatten verschlingt sie, und die Gruppen der Jungfrauen und der Meisterinnen, dann auch die der Leviten, verdecken sie immer mehr und trennen sie . . .

Sie ist verschwunden . . . Jetzt drehen sich auch die Pfortenflügel in ihren harmonischen Angeln. Ein immer enger werdender Spalt erlaubt, den festlichen Zug noch zu sehen; jetzt ist es nur noch ein Faden, jetzt nichts mehr. Das Tor ist geschlossen.

Auf den letzten Akkord der klangvollen Angeln antwortet ein Schluchzen der beiden betagten Eltern und ein einziger

Ruf: »Maria, Tochter!« Dann ein Seufzen der beiden, die sich gegenseitig anrufen:

»Anna!«, »Joachim!« und schließlich sagen: »Ehre sei dem Herrn, der sie aufnimmt in sein Haus und sie auf ihren Wegen leitet!«