09.09.2016

»MEINE FREUDE, WOHER WEIßT DU DIESE HEILIGEN DINGE? WER HAT SIE DIR GESAGT?«

nach Maria Valtorta

Ich sehe wieder Anna. Seit gestern abend sehe ich sie so: sie sitzt am Eingang der schattigen Laube bei einer Näharbeit. Sie ist ganz in sandgrau gekleidet, in ein sehr einfaches, lockeres Kleid; vielleicht wegen der großen Hitze, die herrscht.

Am Ende der Laube sieht man Schnitter, die mit Sicheln das Gras mähen. Doch es kann wohl kein Maiheu sein, denn die Weintraube beginnt sich schon zu färben, und ein großer Apfelbaum zeigt zwischen dunklen Blättern seine Früchte, die beginnen, wachsgelb und rosa zu werden. Das Kornfeld ist nur mehr ein Stoppelfeld, auf

dem sich die Flämmchen der Mohnblumen wiegen, während sich die Kornblumen steif und frei aufrichten, strahlend wie die Sterne in einem Blau, das dem des orientalischen Himmels ähnelt.

Aus der schattigen Laube kommt eine ganz kleine, aber schon flinke und selbständige Maria. Ihr kurzer Schritt ist sicher, und die Füße in den weißen Sandälchen stolpern nicht über die Steinchen. Sie hat schon andeutungsweise den lieblichen, leicht wiegenden Gang der Taube; sie ist weiß wie ein Täubchen in ihrem Leinenkleidchen, das bis zu den Fußknöcheln reicht und weit ist. Es ist durch himmelblaue Schnürchen aufgekrempelt am Hals und an den kurzen

Ärmeln, die die rosigen und molligen Vorderärmchen sehen lassen. Mit ihrem seidiges Haar, das honigblond leuchtet, nicht dicht ist, aber sanfte Wellen hat, die in Löckchen enden; mit ihren himmelblauen Augen und dem lieblichen, leicht geröteten, lächelnden Antlitz gleicht sie einem kleinen Engel. Auch der zarte Wind, der in ihre weiten Ärmel greift und das Linnen ihres Kleidchens an den Schultern bläht, trägt dazu bei, ihr das Aussehen eines Engelchens

mit schon zum Flug geöffneten Flügeln zu verleihen.

In ihren Händchen hat sie Mohn- und Kornblumen und andere Blümchen, die zwischen dem Korne wachsen, deren Namen ich aber nicht kenne. Als sie in die Nähe der Mutter kommt, beginnt sie zu laufen, stößt mit ihrem Stimmchen einen kurzen, freudigen Schrei aus und eilt wie ein Turteltäubchen im Flug an die Knie der Mutter, die sich ein wenig geöffnet haben, um sie zu empfangen. Die Mutter hat ihre Arbeit beiseitegelegt, damit sich das Kind nicht steche. Sie

hat ihm die Arme entgegengestreckt, um es zu umarmen.

»Mama, Mama!« Das weiße Täubchen ist nun ganz im Nest der mütterlichen Knie, mit den Füßchen auf dem niedrigen Gras und dem Gesichten im mütterlichen Schoß. Und man sieht nichts als das blasse Gold ihrer Härchen im feinen Nacken, den Anna liebevollküßt, wozu sie sich niederbeugt. Dann erhebt das Täubchen sein Köpfchen und gibt ihr Blumen. Alle gibt sie der Mutter und zu jeder Blume erzählt sie eine Geschichte, die sie sich selbst erdacht hat:

»Diese, blau und groß, ist ein Stern, der vom Himmel heruntergekommen ist, um den Kuß des Herrn seiner Mutter zu überbringen. Küsse, küsse sie auf das Herz, küsse das Herz dieses himmlischen Blümleins, und du wirst fühlen, dass es den Duft Gottes hat.

Diese andere hingegen ist blaßblau, wie die Augen Papas; auf ihren Blütenblättern steht geschrieben, dass der Herr Papa sehr liebt, weil er so gut ist.

Und dieses kleine, kleine, das einzige, das ich gefunden habe (ein Vergißmeinnicht), hat der Herr gemacht, um Maria zu sagen, dass er sie lieb hat.

Und diese roten, weißt du, Mama, was das für Blumen sind? Das sind Stücke vom Kleid des Königs David, eingetaucht in das Blut der Feinde Israels, gesät auf den Kampfes- und Siegesfeldern. Sie sind aus dem Saum des heroischen Königsgewandes entsprungen, das zerrissen ward im Kampf für den Herrn [2 Sam 5–8].

Dieses weiße und liebliche Blümchen hingegen, das aus sieben Seidenschalen gemacht zu sein scheint, die von Wohlgeruch erfüllt zum Himmel schauen, und das dort geboren wurde, dort bei der Quelle – Papa hat es ihr aus dem Dorngebüsch herausgeholt – ist aus dem Gewand gemacht worden, das der König Salomon in demselben Monat trug, als ihm sein Enkelkind geboren wurde . . . aber viele, viele Jahre früher, als er in der weißen Pracht seiner Gewänder einherging mit einer großen Schar aus Israel vor der Bundeslade und dem Zelt, aufjubelte wegen der Wolke, die zurückgekehrt war, um seinen Ruhm zu umgeben, und den Lobgesang anstimmte und das Gebet seiner Freude verrichtete. Ich will immer wie diese Blume sein, und wie der weise König will ich singen das ganze Leben und

beten vor dem Zelt.« [1 Kön 8]. Damit schloß sich der kleine Mund Marias.

»Mein Schatz! Woher weiß du diese heiligen Dinge? Wer hat sie dir gesagt? Dein Vater?«

»Nein, ich weiß nicht, wer es ist. Es scheint mir, als ob ich sie immer gewußt hätte. Aber vielleicht ist es einer, der sie mir sagt und den ich nicht sehe. Vielleicht einer der Engel, die Gott schickt, um mit den Menschen zu reden, die gut sind. Mama, erzählst du mir noch mehr davon? . . . «

»Oh, meine Tochter! Von was soll ich dir erzählen?«

Maria denkt nach, ernst und gesammelt. Man sollte sie malen, um den Ausdruck festzuhalten. In den kindlichen Geschichten spiegeln sich die Schatten ihrer Gedanken wieder: Lächeln und Seufzer, Strahlen der Sonne und Schatten der Wolken bei dem Gedanken an die Geschichte Israels . . . Dann wählt sie: »Noch einmal die Geschichte von Gabriel und Daniel, in der der Gesalbte versprochen wird« [Dan 9].

Und nun hört sie mit geschlossenen Augen zu und wiederholt leise die Worte der Mutter, um sie besser behalten zu können. Nachdem Anna ihre Erzählung beendet hat, fragt sie: »Wieviel fehlt noch, bis Immanuel kommt?«

»Ungefähr noch dreißig Jahre, mein Liebling.« »Oh, wie lange noch! Dann werde ich im Tempel sein . . . Sage mir, wenn ich beten würde, viel, sehr viel, Tag und Nacht, Nacht und Tag, und wenn ich ganz Gottes sein wollte, das ganze Leben lang, würde mir der Ewige dann die Gnade schenken und den Messias seinem Volk schneller geben?«

»Das weiß ich nicht, meine Liebe; der Prophet sagt: siebzig Wochen. Ich glaube, dass die Prophezeiung nicht irrt. Aber der Herr ist so gut«, beeilt Anna sich hinzuzufügen, als sie sieht, dass sich schon Tränenperlen auf den goldigen Wimpern ihres Kindleins bilden, »daß ich glaube, wenn du viel, viel, viel betest, wird er dich erhören.«

Das Lächeln kehrt auf ihr Gesichtchen zurück, das zur Mutter aufschaut, und ein Sonnenstrahl, der zwischen zwei Weinblättchen durchscheint, läßt die Tropfen des schon gestillten Weinens aufleuchten, wie Tautröpfchen an den so feinen Stengelchen des Bergmooses.

»Dann will ich beten, und werde mich als Jungfrau dafür weihen.«

»Aber weißt du, was das besagen will?«

»Das will besagen, nicht die Liebe eines Mannes kennenlernen, sondern nur die Liebe Gottes. Das will besagen, keinen Gedanken haben, der sich nicht auf Gott bezieht. Das will besagen, Kind im Fleisch bleiben und Engel im Herzen. Das will besagen, die Augen nur zu gebrauchen, um auf Gott zu schauen; die Ohren, um auf ihn zu hören; den Mund, um ihn zu loben; die Hände, um sich ihm als Opfer darzubringen; die Füße, um ihm schnell zu folgen; das Herz und das Leben, um sie ihm zu schenken.«

»Oh, du Gesegnete! Aber dann wirst du nie Kindlein haben, du, die du die Kinder so liebst, und die Lämmlein und die Täubchen . . . Weißt du, ein Kindlein ist für eine Frau wie ein weißes, krauses Lämmlein; wie ein Täubchen mit Flaumfedern aus Seide und einem Korallenmündchen, das man lieben und küssen kann, und das zu einem sagt: „Mama.“«

»Das macht nichts. Ich will Gottes sein. Im Tempel werde ich beten, und dann werde ich vielleicht eines Tages Immanuel sehen. Die Jungfrau, die seine Mutter sein wird, muss, wie der große Prophet sagt, schon geboren und im Tempel sein . . . Ich werde ihre Gefährtin sein . . . und ihre Magd! O ja! Wenn ich sie nur erkennen könnte im Licht Gottes, ich würde ihr dienen, der Glücklichen! Dann würde sie mir ihren Sohn bringen, und ich würde ihm dienen. Denke

dir, Mama! . . . Dem Messias dienen!« Maria ist ganz überwältigt von diesem Gedanken, der sie erhebt und zugleich vernichtet. Mit den auf der Brust gekreuzten Armen, dem ein wenig vorgebeugten Köpfchen und vor Aufregung entzückt, wie sie ist, scheint sie eine kindliche Nachbildung der Annunziata, die ich einmal in ihrem Heiligtum in Florenz gesehen habe. Sie fährt fort: »Aber wird es mir der König von Israel, der Gesalbte Gottes, erlauben, ihm zu dienen?«

»Daran zweifle nicht! Sagt der König Salomon nicht: „Sechzig sind die Königinnen und achtzig die übrigen Frauen, und die Mädchen sind ohne Zahl?“ [Hld 6,8]. Du siehst, im Palast des Königs werden zahllose Jungfrauen und Mädchen sein, die ihrem Herrn dienen werden.«

»Oh! Siehst du nun, dass ich Jungfrau sein muss? Ich muss es sein, ich muss! Wenn er als Mutter eine Jungfrau haben will, ist das ein Zeichen dafür, dass er die Jungfräulichkeit über alles liebt. Ich will, dass er mich liebt, mich, seine Dienerin, wegen meiner Jungfräulichkeit; dass er mich ein wenig seiner geliebten Mutter ähnlich macht . . . das will ich . . . Ich möchte aber auch Sünderin sein, eine große Sünderin, wenn ich nicht fürchten muss, den Herrn dadurch zubeleidigen . . . Sage mir, Mama, kann man Sünderin sein aus Liebe zu Gott?«

»Aber was sagst du, Schatz? Ich verstehe dich nicht.«

»Ich will sagen: sündigen, um von Gott geliebt zu werden; damit er zum Erlöser wird. Man rettet den, der verloren ist, nicht wahr? Ich möchte gerettet werden vom Erlöser, um seinem Blick der Liebe zu begegnen. Deswegen möchte ich sündigen; aber ohne eine Sünde zu begehen, die ihm mißfallen könnte. Wie kann er mich retten, wenn ich nicht verlorengehe?«

Anna ist ganz verblüfft. Sie weiß nicht, was sie sagen soll.

Da kommt ihr Joachim zu Hilfe, der, auf dem Gras schreitend, sich geräuschlos hinter dem Zaun der niederen Weinreben genähert hatte. »Er hat dich schon im voraus gerettet, weil er weiß, dass du ihn liebst und ihn allein lieben willst. Deswegen bist du schon erlöst und kannst Jungfrau sein, wie du es willst«, sagt Joachim.

»Wirklich, mein Vater?« Maria umschlingt seine Knie und blickt ihn an mit den hellen Sternlein ihrer Augen, die den väterlichen Augen so sehr ähneln und die nun glücklich sind in der Hoffnung, die ihr der Vater gegeben hat.

»Wirklich, meine Liebe. Schau! Ich bringe dir hier dieses Spätzlein. Es kam bei seinem ersten Flug zum Quellbrunnen. Ich hätte es sich selbst überlassen können; aber die schwachen Flügel und die Füßchen aus Seide hatten nicht die Kraft, sich zu neuem Flug zu erheben oder sich aufrecht zu erhalten auf dem moosigen, schlüpfrigen Stein. Es wäre in die Quelle gefallen. Ich habe nicht gewartet, bis es soweit kam. Ich habe es genommen und gebe es dir. Tu damit,

was du willst! So ist es gerettet worden, bevor es in der Gefahr umgekommen ist. Dasselbe hat Gott mit dir getan. Jetzt sage mir, Maria: Habe ich das Vöglein mehr geliebt, indem ich es jetzt gerettet habe, oder hätte ich es mehr geliebt, wenn ich es später gerettet hätte . . .?«

»Du hast es mehr geliebt, indem du es jetzt gerettet hast; denn du hast nicht erlaubt, dass es sich weh tue im kalten Wasser.«

»Auch Gott hat dich mehr geliebt, indem er dich gerettet hat, bevor du sündigen konntest.«

»Und nun werde ich ihn ganz lieben. Ganz! Ganz! Schönes Spätzlein, ich bin wie du. Der Herr hat uns in gleicher Weise geliebt; er gab uns das Heil . . . Jetzt werde ich dich aufziehen, und dann lasse ich dich fliegen. Und du wirst im Wald und ich im Tempel das Lob des Herrn singen, und wir werden sagen: „Schicke, schicke deinen Verheißenen dem, der ihn erwartet!“ Oh, Papa! Wann wirst du mich in den Tempel führen?«

»Bald, meine Perle. Aber schmerzt es dich nicht, deinen Vater zu verlassen?«

»Sehr! Aber du wirst kommen . . .! Wenn es mir nicht Schmerz bereiten würde, wäre es dann noch ein Opfer?«

»Und wirst du dich unser erinnern?«

»Immer. Nach dem Gebet für Immanuel werde ich für euch beten.

Möge Gott euch Freude und ein langes Leben schenken . . . bis zum Tag, da er der Erlöser sein wird. Dann werde ich ihm sagen, dass er euch nehme, um euch ins himmlische Jerusalem zu bringen.«

Die Vision entschwindet, während Maria von den väterlichen Armen umschlungen wird.