05.03.2016

PREDIGT IN JERICHO

nach Maria Valtorta

Der Morgen ist bereits fortgeschritten, als Jesus mit Zachäus, Petrus und Jakobus des Alphäus das Haus verläßt. Die anderen Apostel haben sich vielleicht auf dem Land zerstreut, um zu verkünden, dass der Messias in der Stadt ist.

Hinter der Gruppe mit Jesus, Zachäus und den Aposteln folgt eine weitere aus Leuten sehr verschiedenartigen Aussehens, sowohl was die Gesichter als auch das Alter und die Kleidung betrifft. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass diese Menschen verschiedenen Rassen angehören, vielleicht sogar solchen, die einander nicht wohlgesinnt sind. Aber die Wechselfälle des Lebens haben sie in diese Stadt Palästinas geführt und sie zusammengeführt, damit sie aus ihrem Abgrund zum Licht emporsteigen. Meist sind es welke Gesichter von Menschen, die das Leben gelebt und es auch in mancherlei Weise mißbraucht haben, meist müde Augen. Bei anderen hat die lange gewohnheitsmäßige Beschäftigung mit... der fiskalischen Ausbeutung oder die brutale Befehlsgewalt den Blick raubgierig und hart gemacht. Und hin und wieder erscheint dieser frühere Blick noch unter dem feinen Schleier der Besinnung, den ihr neues Leben über sie geworfen hat. Das geschieht besonders dann, wenn ein Bewohner von Jericho sie voll Verachtung anschaut oder ihnen irgendeine Unverschämtheit zuruft. Gleich darauf wird der Ausdruck ihrer Augen wieder müde und demütig, während sie niedergeschlagen die Köpfe senken.

Jesus wendet sich zweimal um, um sie zu beobachten, und da er sieht, dass sie ihren Schritt verlangsamen, je näher sie dem Platz kommen, auf dem er sprechen will und der sich schon mit Menschen füllt, verlangsamt auch er den seinen, um auf sie zu warten, und sagt dann zu ihnen: «Geht mir nur voraus und fürchtet euch nicht. Ihr habt der Welt getrotzt, als ihr Böses tatet; so dürft ihr sie auch jetzt nicht fürchten, da ihr euch von eurer Vergangenheit gelöst habt. Was euch damals dazu gedient hat, sie zu bezwingen, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Urteil der Welt, die einzige Waffe, die sie des Urteilens müde werden läßt, macht auch jetzt davon Gebrauch, und sie wird die Lust verlieren, sich mit euch zu beschäftigen.

Sie wird euch akzeptieren, wenn auch nur langsam, und ihr werdet verschwinden in der großen anonymen Masse dieser elenden Welt, die sich wahrlich immer zu wichtig nimmt.»

Die Männer, es sind fünfzehn an der Zahl, gehorchen und gehen voraus.

«Meister, dort sind die Kranken vom Land», sagt Jakobus des Zebedäus, der Jesus entgegenkommt und auf einen sonnenbeschienenen Winkel zeigt.

«Ich komme. Und wo sind die anderen?»

«Unter dem Volk. Aber sie haben dich schon gesehen und werden gleich hier sein. Bei ihnen sind auch Salomon, Joseph von Emmaus, Johannes von Ephesus und Philippus von Arbela. Sie sind auf dem Weg zum Haus des letzteren und kommen von Joppe, Lydda und Modin. Sie haben Männer von der Küste und Frauen bei sich. Sie haben dich sogar gesucht, denn sie sind uneinig hinsichtlich der Verurteilung einer Frau. Aber sie werden selbst mit dir sprechen ...»

Jesus ist in der Tat bald von den anderen Jüngern umgeben, die ihn ehrfurchtsvoll begrüßen. Hinter diesen sind neue Leute, die sich von der Lehre Jesu angezogen fühlen. Doch Johannes von Ephesus ist nicht da, und Jesus fragt nach dem Grund.

«Er hält sich mit einer Frau und deren Verwandten in einem Haus fern von der Menge auf. Man weiß nicht, ob die Frau besessen oder ob sie eine Prophetin ist. Die Leute ihres Dorfes behaupten, sie sage wunderbare Dinge. Aber die Schriftgelehrten, die sie gehört haben, halten sie für besessen. Die Verwandten haben mehrmals Exorzisten kommen lassen, aber diese konnten den aus ihr redenden Dämon nicht vertreiben. Einer sagte schließlich dem Vater der Frau – sie ist eine in der Familie lebende, noch jungfräuliche Witwe -: „Für deine Tochter brauchen wir Jesus, den Messias. Er wird ihre Worte verstehen und wissen, woher sie kommen. Ich habe versucht, dem Geist, der aus ihr spricht, zu befehlen, sie im Namen Jesu, der Christus genannt wird, zu verlassen; denn die Geister der Finsternis sind immer geflohen, wenn ich diesen Namen angerufen habe. Diesmal aber nicht. Daher sage ich: entweder ist es Beelzebub selbst, der da spricht und auch diesem Namen, den ich ausspreche, zu widerstehen vermag, oder es ist der Geist Gottes, und dieser fürchtet sich nicht, denn er ist eins mit Christus. Ich bin eher vom letzteren als vom ersteren überzeugt. Aber mit Sicherheit kann nur Jesus darüber urteilen. Er wird die Worte und ihren Ursprung verstehen. Und er wurde von den anwesenden Schriftgelehrten angegriffen, die erklärten, er sei ebenso besessen wie die Frau und wie du. Verzeih, wenn wir dir das sagen müssen... Die Schriftgelehrten haben uns seither nicht mehr in Ruhe gelassen. Sie bewachen die Frau, denn sie wollen sehen, ob ihr deine Ankunft mitgeteilt wird. Die Frau sagt nämlich, dass sie dein Antlitz und deine Stimme kennt und dich unter Tausenden und Abertausenden erkennen würde, während doch sicher ist, dass sie das Dorf nie verlassen hat; nicht einmal ihr Haus hat sie verlassen, seit ihr Bräutigam vor fünfzehn Jahren am Vorabend der Hochzeit gestorben ist. Es steht auch fest, dass du nie durch ihr Dorf gekommen bist, dass Beth Lechi heißt. Und die Schriftgelehrten warten nun auf diesen letzten Beweis, um sie als besessen bezeichnen zu können. Willst du sie sofort sehen?»

«Nein. Ich muss zum Volk sprechen. Es wäre eine allzu aufsehenerregende Begegnung hier, mitten unter den Volksmassen. Geh und sage Johannes von Ephesus, den Verwandten der Frau und auch den Schriftgelehrten, dass ich sie alle bei Beginn des Sonnenunterganges in den Wäldern am Fluß erwarte, auf dem Weg, der zur Furt führt. Geh nun.»

Nachdem Jesus Salomon, der für alle gesprochen hat, entlassen hat, geht er zu den Kranken, die um Heilung bitten, und heilt sie. Eine alte, durch Arthritis steif gewordene Frau, ein Gelähmter, ein blöder Jüngling, ein anscheinend schwindsüchtiges Mädchen und zwei Augenkranke.

Das Volk jubelt vor Freude.

Aber die Reihe der Kranken ist noch nicht zu Ende. Eine Mutter tritt vor, entstellt von Schmerz und gestützt von zwei Freundinnen oder Verwandten. Sie kniet nieder und spricht: «Ich habe einen sterbenden Sohn. Er kann nicht hierher gebracht werden... Hab Erbarmen mit mir!»

«Hast du einen unbegrenzten Glauben?»

«Ja, mein Herr.»

«Dann geh zurück nach Hause.»

«Nach Hause? ... Ohne dich? ...» Die Frau schaut ihn einen Augenblick traurig an. Dann geht ihr ein Licht auf. Ihr armes Gesicht verklärt sich, und sie ruft aus: «Ich gehe, Herr. Gepriesen seist du und der Allerhöchste, der dich geschickt hat!» Und sie läuft davon, schneller als ihre Begleiterinnen...

Jesus wendet sich an einen Mann von Jericho, an einen würdevollen Bürger der Stadt: «Ist diese Frau eine Jüdin?»

«Nein. Wenigstens nicht von Geburt. Sie kommt aus Milet. Doch ist sie mit einem der unseren verheiratet und hat unseren Glauben angenommen.»

«Sie hat mehr Glauben als viele Hebräer», bemerkt Jesus.

Dann steigt er auf die höchste Stufe einer Haustreppe und breitet in seiner üblichen Geste die Arme aus, wie immer, wenn er sprechen will und Schweigen gebietet. Als Ruhe eingetreten ist, rafft er die Falten seines Mantels, der sich bei dieser Geste über der Brust geöffnet hat, und hält sie mit der Linken, während er die Rechte wie zum Schwur senkt mit den Worten: «Bürger von Jericho, hört die Gleichnisse des Herrn, und jeder betrachte sie dann in seinem Herzen und ziehe daraus die Lehre, um seinen Geist zu nähren. Ihr könnt es tun, denn nicht erst seit gestern, seit einem Monat oder auch seit dem letzten Winter kennt ihr das Wort Gottes.

Bevor ich der Meister wurde, hat mein Vorläufer Johannes euch auf mein Kommen vorbereitet, und nachdem ich es geworden war, haben meine Jünger dieses Erdreich siebenmal und abermals siebenmal gepflügt, um allen Samen zu säen, den ich ihnen gegeben hatte. So könnt ihr also das Wort und das Gleichnis verstehen.

Womit soll ich die vergleichen, die sich bekehren, nachdem sie Sünder gewesen sind? Ich werde sie vergleichen mit geheilten Kranken.

Womit soll ich die anderen vergleichen, die nicht öffentlich gesündigt haben oder sich – was seltener vorkommt als schwarze Perlen – niemals, nicht einmal im geheimen, schwer verfehlt haben? Ich werde sie vergleichen mit gesunden Personen.

Die Welt besteht aus diesen beiden Gruppen von Menschen, sei es im geistigen, sei es im körperlichen. Aber wenn man auch diesen Vergleich machen kann, so ist doch die Art, in der die Welt die im Fleisch geheilten Kranken behandelt, sehr verschieden von der Art, in der sie die bekehrten Sünder, deren Seele krank war und die zum Heil zurückkehren, behandelt.

Wir können es am Beispiel selbst eines Aussätzigen sehen, der an der gefährlichsten aller Krankheiten leidet und daher isoliert wird. Wenn er die Gnade der Heilung erlangt, wird er wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, nachdem er vom Priester untersucht und gereinigt worden ist; die Bürger seiner Stadt feiern ihn sogar, weil er geheilt und dem Leben, der Familie und den Kindern zurückgegeben wurde. Ein großes Fest wird in der Familie und in der Stadt gefeiert, wenn ein Aussätziger die Gnade der Heilung erlangt. Und die Familienmitglieder und die Mitbürger wetteifern miteinander, ihm dies und das zu bringen oder, wenn er allein ist und kein Haus und keine Möbel mehr besitzt, ihm ein Bett und anderen Hausrat anzubieten. Alle sagen: „Er ist ein von Gott Bevorzugter. Der Finger Gottes hat ihn geheilt. Erweisen wir ihm daher Ehre, denn so ehren wir auch den, der ihn erschaffen und nun neu erschaffen hat.“ Es ist gerecht, so zu handeln. Und wenn sich andererseits an jemand unglücklicherweise die ersten Anzeichen des Aussatzes zeigen, mit welch ängstlicher Liebe überhäufen ihn dann Verwandte und Freunde mit Zärtlichkeiten, solange es noch möglich ist. Es scheint, als wollten sie ihm in der kurzen, noch verbleibenden Zeit den ganzen großen Schatz ihrer Zuneigung auf einmal geben, den er sonst im Laufe vieler Jahre erhalten hätte, damit er ihn mit in sein lebendiges Grab nehme.

Aber warum tut man nicht dasselbe, wenn es sich um die anderen Kranken handelt? Ein Mensch beginnt zu sündigen. Die Verwandten und besonders die Mitbürger, kümmern sie sich darum? Warum versuchen sie nicht, ihn mit Liebe der Sünde zu entreißen? Eine Mutter, ein Vater, eine Braut oder eine Schwester tun es vielleicht noch... Aber es kommt schon sehr selten vor, dass es die Geschwister tun, ganz zu schweigen von den Vettern und den Kusinen. Die Mitbürger schließlich wissen nichts anderes zu tun als zu kritisieren, zu schmähen, zu verhöhnen, sich zu ärgern, die Sünden des Sünders zu übertreiben, mit Fingern auf ihn zu zeigen und sich von ihm fernzuhalten wie von einem Aussätzigen. So machen es die noch etwas Besseren, während die nicht Gerechten seine Komplizen werden, um von ihm zu profitieren. Aber nur sehr selten findet sich ein Mund und besonders ein Herz, dass sich dem Unglücklichen mit Festigkeit und Geduld, mit Mitleid und übernatürlicher Liebe zuwendet und versucht, ihn von einem weiteren Abgleiten in die Sünde abzuhalten.

Und warum? Ist die Krankheit der Seele nicht gefährlich, viel gefährlicher und wahrhaft tödlich? Beraubt sie nicht, und für immer, des Reiches Gottes? Wäre es nicht die erste Aufgabe für einen, der Gott und seinen Nächsten liebt, einen Sünder zu heilen zum Wohl seiner Seele und zur Ehre Gottes?

Und wenn ein Sünder sich bekehrt, wozu dann dieses eigensinnige

Beharren auf dem Urteil über ihn, als ob man es fast bedaure, dass er zur Gesundheit der Seele zurückgefunden hat? Seht ihr eure Vorhersagen über die sichere Verdammung eines eurer Mitbürger Lügen gestraft? Ihr solltet glücklich darüber sein; denn der euch Lügen straft, ist der barmherzige Gott, der euch ein Zeichen seiner Güte gibt und euch ermutigt für den Fall, dass auch ihr mehr oder weniger große Schuld auf euch geladen habt.

Und warum darauf bestehen, etwas als schmutzig und verachtenswert zu betrachten und isolieren zu wollen, was Gott und der gute Wille eines

Herzens in bewunderungswürdiger Weise gereinigt und wiederhergestellt haben, so dass es wirklich die Achtung und Bewunderung der Brüder verdient?

Ihr jubelt doch auch, wenn ein Ochse, ein Esel, ein Kamel, ein Schaf der Herde oder eine Lieblingstaube von einer Krankheit gesundet! Ihr jubelt, wenn ein Fremder, an dessen Namen ihr euch kaum erinnert und von dem ihr nur gehört habt, als er wegen seines Aussatzes fortgeschickt wurde, geheilt zurückkehrt. Warum also freut ihr euch nicht über diese Heilungen der Seelen, über die Siege Gottes? Der Himmel frohlockt,

wenn ein Sünder sich bekehrt. Der Himmel: Gott und die reinsten Engel, die nicht wissen, was sündigen ist. Und ihr, ihr Menschen, wollt strenger sein als Gott?

Macht rechtschaffen euer Herz und erkennt die Gegenwart Gottes, nicht nur in den Weihrauchwolken und den Gesängen des Tempels, an

dem Ort, wo die Heiligkeit des Herrn nur durch den Hohenpriester verehrt werden darf und der heilig sein sollte, wie sein Name besagt. Erkennt ihn auch in dem Wunder der Auferstehung dieser Seelen, dieser wiedergeweihten Altäre, auf die die Liebe Gottes herabsteigt mit ihrem Feuer, um das Opfer zu entzünden.»

Jesus wird unterbrochen durch die Mutter von vorher, die ihm unter Segensrufen huldigen will. Jesus hört sie an und segnet sie. Dann schickt er sie nach Hause und nimmt seine unterbrochene Rede wieder auf.

«Und wenn ein Sünder, der euch früher zum Ärgernis gereichte, nun ein erbauliches Beispiel für alle ist, dann verhöhnt ihn nicht, sondern ahmt ihn nach. Denn niemand ist so vollkommen, dass er nichts mehr von einem anderen lernen könnte. Und das Gute ist immer eine Lehre, die man annehmen muss, auch wenn der, der es tut, früher Gegenstand der Mißbilligung gewesen ist. Ahmt ihn nach und helft ihm, denn dadurch verherrlicht ihr den Herrn und zeigt, dass ihr sein Wort verstanden habt. Seid nicht wie die, die ihr in euren Herzen verurteilt, weil ihre Handlungen ihren Worten nicht entsprechen. Bemüht euch vielmehr, dass jedes eurer guten Werke die Krönung eines guten Wortes sei. Dann wird euch der Allerhöchste wahrhaft mit Wohlwollen ansehen und anhören.

Und nun hört noch ein Gleichnis, damit ihr versteht, welches die Dinge sind, die in den Augen Gottes einen Wert haben. Es wird euch helfen, euch von einem unguten Gedanken befreien, der viele Herzen beherrscht. Die meisten Menschen beurteilen sich selbst, und da unter tausend Menschen nur einer wahrhaft demütig ist, kommt es, dass der Mensch sich für vollkommen hält, während er beim Nächsten Hunderte von Fehlern sieht.

Eines Tages gingen zwei Männer, die auf einer Geschäftsreise nach Jerusalem gekommen waren, zum Tempel, wie es sich für jeden guten Israeliten geziemt, wenn er die heilige Stadt betritt. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der erste war gekommen, um die Miete für einige Warenlager einzuziehen und mit seinen Verwaltern abzurechnen, die in der Nähe der Stadt wohnten. Der andere war gekommen, um die Steuergelder abzugeben. Er wollte auch um Barmherzigkeit bitten für eine Witwe, die ihre Steuern für das Boot und die Netze nicht zahlen konnte, da der Fischfang ihres ältesten Sohnes kaum ausreichte, um die vielen anderen Kinder zu ernähren.

Bevor er zum Tempel ging, suchte der Pharisäer die Mieter seiner Geschäfte auf. Er warf einen Blick in die Läden und war sehr zufrieden mit sich selbst, da er sie voller Waren und Käufer sah. Dann rief er den ersten Mieter zu sich und sagte: „Ich sehe, dass deine Geschäfte gut gehen.“

„Ja, Gott sei Dank. Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit. Ich habe meine Waren vermehrt und hoffe, es noch weiter tun zu können. Ich habe den Laden verschönert, und da ich im kommenden Jahr keine Ausgaben für Bänke und Gestelle mehr habe, wird der Gewinn größer sein.“

„Gut. Sehr gut. Das freut mich. Wieviel bezahlst du für dieses Geschäft?“

„Hundert Doppeldrachmen im Monat. Es ist teuer, aber die Lage ist gut...“

„Du hast es gesagt: die Lage ist gut. Daher verdopple ich die Miete.“

„Aber, Herr“, rief der Kaufmann aus, „auf diese Weise nimmst du mir jeden Verdienst.“

„Das ist nur recht und billig. Soll vielleicht ich dich bereichern? Und das auf meinem Boden? Schnell. Entweder du gibst mir zweitausendvierhundert Doppeldrachmen, und zwar sofort, oder ich jage dich fort und behalte die Ware. Der Laden gehört mir, und ich mache damit, was ich will.“

So machte er es mit dem ersten, mit dem zweiten und mit dem dritten Mieter. Allen verdoppelte er die Miete, taub gegen jede Bitte. Und da der dritte, der viele Kinder hatte, Widerstand leisten wollte, rief er die Ordnungshüter und ließ die Siegel der Beschlagnahme anbringen; den Unglücklichen aber jagte er fort.

Dann kehrte er in seinen Palast zurück, prüfte die Register der Verwalter, schimpfte sie Faulpelze und beschlagnahmte den Anteil, der ihnen von Rechts wegen zustand. Einer hatte einen Sohn, der im Sterben lag, und wegen der vielen Ausgaben hatte er einen Teil seines Öls verkaufen müssen, um die Arzneien bezahlen zu können. Er besaß daher nichts, was er seinem habgierigen Herrn hätte geben können.

„Hab Erbarmen mit mir, Herr. Mein armer Sohn liegt im Sterben, und ich werde später zusätzliche Arbeiten verrichten, um dir geben zu können, was du für richtig hältst. Aber jetzt, dass wirst du verstehen, kann ich nicht.“

„Du kannst nicht? Ich werde dir zeigen, ob du kannst oder nicht.“ Und er ging mit dem armen Verwalter in die Vorratskammer und nahm ihm auch noch den Rest Öl, den der Mann aufbewahrt hatte für seine armselige Nahrung, und um die Lampe für die Nachtwachen bei seinem Sohn unterhalten zu können.

Der Zöllner hingegen ging zu seinem Vorgesetzten, und nachdem er die eingetriebenen Steuern abgegeben hatte, musste er hören: „Aber da fehlen ja dreihundertsiebzig Asses. Wie kommt das?“

„Sieh, ich will es dir erklären. In der Stadt lebt eine Witwe mit sieben Kindern. Nur der Erstgeborene ist schon imstande zu arbeiten. Aber er kann sich noch nicht sehr weit vom Ufer entfernen mit dem Boot, denn seine Arme sind zu schwach für die Ruder und das Segel, und er kann auch keinen Schiffsjungen bezahlen. Da es in der Nähe des Ufers wenig Fische gibt und der Fang kaum ausreicht, um acht Unglückliche zu ernähren, habe ich es nicht übers Herz bringen können, die Steuern von ihr zu verlangen.“

„Ich verstehe. Aber Gesetz ist Gesetz. Wehe, wenn man erführe, dass es Mitleid hat. Alle würden Ausreden finden, um nicht zahlen zu müssen. Der Jüngling soll sich eine andere Arbeit suchen und das Boot verkaufen, wenn sie nicht bezahlen können!“

„Aber das Boot bedeutet für sie das tägliche Brot... und ist ein Andenken an ihren Vater.“

„Ich verstehe. Aber man darf nicht nachgiebig sein!'

„Nun gut. Aber ich bringe es nicht fertig, acht Unglückliche ihres einzigen Gutes zu berauben. Dann werde ich die dreihundertsiebzig Asses bezahlen.“

Nachdem sie ihre Angelegenheiten erledigt hatten, stiegen die beiden zum Tempel hinauf, und als sie am Opferkasten vorüberkamen, zog der Pharisäer ostentativ einen großen Geldbeutel aus seiner Brusttasche und schüttete den Inhalt bis zum letzten Heller in den Tempelschatz. In dieser Geldbörse waren vor allem die Geldstücke, die er den Kaufleuten abverlangt hatte, und der Erlös für das Öl, dass er dem Verwalter abgenommen und sofort an einen Händler verkauft hatte. Der Zöllner hingegen warf eine Handvoll kleiner Münzen hinein und behielt so viel zurück, als er für die Rückreise in die Heimat benötigte. Der eine wie der andere gaben alles, was sie hatten. Scheinbar war sogar der Pharisäer der Großzügigere, da er alles bis zum letzten Heller hergab. Aber man muss bedenken, dass er in seinem Palast noch viel Geld hatte und außerdem Kredit bei reichen Geldwechslern.

Dann begaben sich beide vor den Herrn. Der Pharisäer ging nach vorn, bis zur Grenze des Atriums der Hebräer vor dem Heiligtum. Der Zöllner blieb hinten stehen, fast unter dem Gewölbe, dass zum Vorhof der Frauen führt. Er stand da, gebeugt und niederschmettert bei dem Gedanken an sein Elend im Vergleich zur göttlichen Vollkommenheit. Beide beteten.

Der Pharisäer stand aufrecht, fast anmaßend da, als ob er der Hausherr wäre, der sich herabläßt, einen Besucher zu empfangen, und sprach: „Sieh, ich bin gekommen, um dich in dem Haus zu verehren, dass unser Ruhm ist. Ich bin gekommen, obwohl ich fühle, dass du in mir bist, da ich ein Gerechter bin. Ich weiß, dass ich es bin. Und obwohl ich weiß, dass ich es nur durch mein Verdienst bin, danke ich dir, wie das Gesetz es verlangt, für das, was ich bin. Ich bin kein Räuber. Ich bin nicht ungerecht, kein Ehebrecher und kein Sünder wie jener Zöllner dort, der fast gleichzeitig mit mir eine Handvoll Kupfermünzen in den Schatz geworfen hat. Ich, du hast es gesehen, habe dir alles gegeben, was ich bei mir hatte. Dieser Geizhals dagegen hat zwei Teile gemacht und dir den kleineren gegeben. Den anderen Teil wird er wohl für Schwelgereien und für Frauen behalten haben. Ich bin rein. Ich beflecke mich nicht. Ich bin rein und gerecht, faste zweimal in der Woche und bezahle den Zehnten von allem, was ich besitze. Ja, ich bin rein, gerecht und gesegnet, weil ich heilig bin. Erinnere dich daran, Herr.“

Der Zöllner in seinem entfernten Winkel wagte kaum, die Augen zu den kostbaren Pforten des Heiligtums zu erheben. Er schlug an seine Brust und betete so: „Herr, ich bin nicht würdig, an diesem Ort zu stehen. Aber du bist gerecht und heilig, und du gestattest es mir, weil du weißt, dass der Mensch ein Sünder ist und ein Teufel wird, wenn er nicht zu dir kommt. Oh, mein Herr, ich möchte dich ehren Tag und Nacht, aber ich bin so viele Stunden der Sklave meiner Arbeit. Es ist eine harte Arbeit, die mich demütigt, denn ich füge meinem unglücklichen Nächsten Schmerz zu. Aber ich muss meinen Vorgesetzten gehorchen, um mein tägliches Brot zu verdienen. Hilf mir, o mein Gott, dass ich das Pflichtgefühl gegenüber meinen Vorgesetzten immer mäßige durch die Liebe zu meinen armen Brüdern, damit meine Arbeit nicht zu meiner Verdammung führe. Jede Arbeit ist heilig, wenn sie mit Liebe getan wird. Laß deine Liebe stets in meinem Herzen gegenwärtig sein, damit ich, armselig wie ich bin, mit meinen Untergebenen Mitleid habe, wie du mit mir, dem großen Sünder, Mitleid hast. Ich hätte dich gerne mehr geehrt, o Herr, du weißt es. Aber ich hielt es für besser, mit dem für den Tempel bestimmten Geld acht unglückliche Herzen zu trösten als es in den Opferkasten zu werfen und dann acht unschuldige und unglückliche Menschen verzweifelt weinen zu lassen. Wenn ich jedoch gefehlt habe, laß es mich wissen, o Herr, und ich werde dir alles bis zum letzten Heller und sogar zu Fuß und um Brot bettelnd nach Hause zurückkehren. Laß mich deine Gerechtigkeit erkennen. Habe Erbarmen mit mir, o Herr, denn ich bin ein großer Sünder!'

Das ist das Gleichnis. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, während der Pharisäer den Tempel verließ, nachdem er noch eine Sünde zu den schon bevor er den Moriah erstieg begangenen hinzugefügt hatte, ging der Zöllner gerechtfertigt hinaus, und der Segen Gottes begleitete ihn bis zu seinem Haus und ruhte darauf. Denn er war demütig und barmherzig, und seine Werke waren noch heiliger als seine Worte; der Pharisäer dagegen war nur mit Worten und nach außen hin gut, in seinem Inneren aber und mit seinem Hochmut und seiner Hartherzigkeit vollbrachte er Werke des Teufels, weshalb er Gott verhaßt war.

Wer sich selbst erhöht, wird immer, früher oder später, erniedrigt werden; wenn nicht in diesem, dann im anderen Leben. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden, besonders droben im Himmel, wo die Handlungen der Menschen in ihrem wahren Wert erscheinen.

Komm, Zachäus. Kommt ihr, die ihr mit ihm seid, und ihr, meine Apostel und Jünger. Ich werde noch allein mit euch sprechen.»

Er hüllt sich in seinen Mantel und kehrt in das Haus des Zachäus zurück.