12.08.2016

VOM EHEBRUCH UND VON DER EHESCHEIDUNG

nach Maria Valtorta

Es kommt nun Bewegung in die Menschenmenge, die sich beeilt, drei Gruppen zu bilden: die Kranken, die Armen und jene, die einfach nach der Lehre Jesu verlangen. Es sind aber auch zwei, dann drei Personen da, die anscheinend etwas anderes als Gesundheit oder Almosen suchen, etwas noch notwendigeres. Es sind eine Frau und zwei Männer. Sie sehen die Apostel an, wagen jedoch nicht, sie anzusprechen. Simon der Zelote geht mit ernster Miene vorbei. Petrus kommt eilfertig mit einem ganzen Schwarm von Buben daher, denen er Oliven verspricht, wenn sie bis zum Ende der Predigt Jesu ruhig bleiben, oder aber Schläge, wenn sie unruhig werden. Bartholomäus kommt alt und ernst daher. Dann sehe ich Matthäus mit Philippus mit einem Krüppel auf den Armen, für den es zu mühsam war, durch die dichte Menschenmenge nach vorne zu gelangen. Nun erscheinen die Vettern Jesu, die einen fast blinden Bettler und eine arme alte Frau, die dem Jakobus bereits mehrmals unter Tränen ihre Nöte vorgejammert hat, an den Händen halten. Jakobus des Zebedäus trägt in seinen Armen ein armes, kleines Mädchen, dass sicher krank ist, denn er hat es seiner Mutter abgenommen, die ihm atemlos folgt, da sie befürchtet, die Menschenmenge könnte der Kleinen wehtun. Die letzten, die vorbeikommen, sind die – ich möchte sagen – Unzertrennlichen, Andreas und Johannes; denn wenn Johannes in seiner frohen Natürlichkeit eines heiligen Jünglings mit allen Gefährten gleichermaßen zurechtkommt, so bevorzugt Andreas in seiner großen Zurückhaltung, mit dem alten Gefährten des Fischfangs und der Zeit der Nachfolge Johannes des Täufers zusammen zu sein. Die beiden waren an der Stelle geblieben, wo die zwei Hauptwege sich treffen, um noch ankommende Menschen an ihre Plätze zu weisen. Doch nun zeigen sich keine Pilger mehr auf den steinigen Pfaden des Berges, und die beiden gehen zum Meister, um ihm die zuletzt empfangenen Almosen zu überbringen.

Jesus hat sich bereits über die Kranken gebeugt, und die Hosannarufe der Menge künden die einzelnen Wunder an.

Die Frau, ganz in Leid aufgelöst, wagt es, Johannes, der mit Andreas spricht und lächelt, am Gewand zu ziehen. Er beugt sich zu ihr nieder und fragt:

«Was willst du, Frau?»

«Ich möchte mit dem Meister sprechen.»

«Bist du krank? Du bist doch nicht arm...»

«Ich bin weder krank noch arm. Aber ich brauche ihn, denn es gibt Krankheiten ohne Fieber und Elend ohne Armut, und meine... meine...»und sie weint weiter.

«Höre, Andreas. Die Frau hat einen seelischen Kummer und möchte ihn dem Meister anvertrauen. Wie machen wir es?»

Andreas betrachtet die Frau und sagt: «Sicher ist es etwas, dass schmerzt, wenn andere davon erfahren...» Die Frau nickt zustimmend mit dem Kopf. Andreas sagt: «Weine nicht... Johannes, führe sie hinter unser Zelt. Ich werde inzwischen den Meister holen.»

Johannes bahnt sich lächelnd einen Weg, und Andreas geht in entgegengesetzter Richtung zu Jesus. Doch die beiden traurigen Männer haben die Szene beobachtet, und einer von ihnen hält Johannes auf, während der andere sich an Andreas wendet, und bald darauf sind die beiden zusammen mit der Frau hinter den schützenden Zweigen, die die Zeltwand bilden.

Andreas kommt zu Jesus, als dieser gerade den Krüppel heilt und der Geheilte die beiden Krücken wie Trophäen schwingt, wie ein Tänzer hüpft und den Herrn preist. Andreas flüstert: «Meister, hinter unserem Zelte sind drei Personen, die weinen. Sie haben ein Herzeleid, dass anderen verborgen bleiben soll...»

«Es ist gut. Ich habe noch dieses kleine Mädchen und diese Frau, dann werde ich kommen. Sag ihnen, sie sollen Vertrauen haben.»

Andreas geht, während Jesus sich über das Mädchen beugt, dass die Mutter wieder auf ihren Schoß genommen hat.

«Wie heißt du», fragt Jesus.

«Maria.»

«Und wie heiße ich?»

«Jesus», antwortet das Mädchen.

«Wer bin ich?»

«Der Messias des Herrn, der gekommen ist, um den Menschen das Heil des Leibes und der Seele zu bringen.»

«Wer hat es dir gesagt?»

«Mutter und Vater, die ihre Hoffnung für mein Leben auf dich setzten.»

«Lebe und sei brav!»

Das Mädchen hat anscheinend eine Rückgraterkrankung, da es, obwohl es schon sieben oder etwas älter ist, nur die Hände bewegen kann und von den Achseln abwärts bis zu den Waden mit straffen Binden eingewickelt ist. Man sieht es gut, da die Mutter das Kleidchen geöffnet hat. Es bleibt für einige Minuten unbeweglich, dann zuckt es zusammen, gleitet vom Schoße der Mutter zur Erde und eilt zu Jesus, der soeben eine Frau heilt, deren Krankheit ich nicht erkennen kann.

Die Kranken sind alle erhört worden und schreien lauter als alle anderen in der Menge, die dem „Sohn Davids, Gottes Ruhm und unser Ruhm“, zujubeln.

Jesus geht zum Zelt. Judas Iskariot ruft: «Meister! Und diese?» Jesus wendet sich um und sagt: «Sie sollen warten, wo sie sind. Auch sie werden getröstet werden.» Dann geht er langsam hinter das Laubwerk, wo Andreas und Johannes mit den Trauernden warten.

«Zuerst die Frau. Komm mit mir zu den Büschen. Sprich ohne Furcht.»

«Herr, mein Mann verläßt mich wegen einer Dirne. Ich habe fünf Kinder, dass jüngste ist zwei Jahre alt... Mein Schmerz ist groß... und ich denke an die Kinder... Ich weiß nicht, ob er sie haben will, oder ob er sie mir überläßt. Die Knaben, den ältesten wenigstens, wird er haben wollen... und ich, die ich ihn geboren habe, sollte mich nicht mehr an seinem Anblick erfreuen können? Was werden sie vom Vater oder von mir denken? Von einem von uns beiden müssen sie schlecht denken. Ich möchte nicht, dass sie ihren Vater verurteilen...»

«Weine nicht. Ich bin der Herr über Leben und Tod. Dein Mann wird jene Frau nicht heiraten. Geh in Frieden und sei weiterhin gut.»

«Aber du wirst ihn doch nicht töten? Oh, Herr, ich liebe ihn!»

Jesus lächelt: «Ich werde niemanden töten. Ein anderer wird sein Werk vollbringen. Wisse, dass Satan nicht über Gott steht. Wenn du in deine Stadt zurückgekehrt bist, wirst du erfahren, dass jemand das unglückselige Geschöpf umgebracht hat, und zwar auf eine Art und Weise, die deinem Mann klarmachen wird, was er im Begriff war zu tun. Er wird dich mit einer neu erwachten Liebe lieben.»

Die Frau ergreift die Hand, die Jesus auf ihren Kopf gelegt hat, küßt sie und geht dann weg.

Einer der Männer kommt heran: «Ich habe eine Tochter, Herr. Zu ihrem Unglück ging sie mit ihren Freundinnen nach Tiberias und es scheint, als habe sie dort Gift geatmet. Sie ist wie liebestrunken zu mir zurückgekehrt. Nun will sie mit einem Griechen fortgehen... und dann... Warum ist sie mir geboren worden? Ihre Mutter ist krank vor Kummer und wird vielleicht sterben... Ich... nur deine Worte, die ich letzten Winter gehört habe, halten mich davor zurück, sie umzubringen. Aber ich muss es dir bekennen, mein Herz hat sie schon verflucht.»

«Nein. Gott, der Vater, verflucht erst bei begangener Sünde und Verstocktheit. Was willst du von mir?»

«Daß du sie umstimmst.»

«Ich kenne sie nicht, sie wird sicher nicht zu mir kommen.»

«Aber du kannst ihr Herz auch aus der Ferne umwandeln. Weißt du, wer mich zu dir schickt? Johanna des Chuza. Sie war gerade dabei, nach Jerusalem abzureisen, als ich zu ihrem Palast kam, um sie zu fragen, ob sie diesen infamen Griechen kenne. Ich nahm an, dass sie ihn nicht kennen würde, denn sie ist gut, obwohl sie in Tiberias wohnt... Aber da Chuza mit Heiden verkehrt... Sie kennt ihn nicht. Aber sie sagte mir: „Geh zu Jesus. Obwohl wir durch eine weite Entfernung voneinander getrennt waren, hat er zu meiner Seele gesprochen und mich zu sich gerufen, und sein Ruf bedeutete meine Heilung von der Schwindsucht. Er wird auch das Herz deiner Tochter heilen. Ich werde beten, und du, habe Vertrauen.“ Vertrauen habe ich, du siehst es. Erbarme dich, Meister.»

«Deine Tochter wird noch heute abend auf dem Schoß ihrer Mutter weinend um Verzeihung bitten. Sei auch du gut wie die Mutter und verzeih! Die Vergangenheit ist tot.»

«Ja, Meister, dein Wille geschehe, und sei dafür gepriesen!»

Er ist schon im Begriff zu gehen, doch dann wendet er sich noch einmal um: «Verzeih, Meister... Ich habe solche Angst... Die Unzucht ist ein so schlimmer Dämon! Gib mir nur einen Faden deines Gewandes. Ich werde ihn ins Kopfkissen meiner Tochter legen, so wird sie der Teufel nicht versuchen, während sie schläft.»

Jesus lächelt und schüttelt das Haupt... aber er stellt den Mann zufrieden und sagt: «Damit du beruhigt bist. Doch glaube, wenn Gott sagt: „Ich will“ ' dann flieht der Teufel, ohne dass noch mehr nötig wäre. Du wirst es einfach als Andenken an mich behalten», und er schenkt ihm einen kleinen Bausch seiner Fransen.

Nun kommt der dritte Mann: «Meister, mein Vater ist gestorben. Wir glaubten, er besitze eine größere Menge Geld, doch wir haben nichts gefunden. Das wäre alles nicht so schlimm, denn uns Brüdern fehlt es nicht an Brot. Aber ich wohnte bei meinem Vater, da ich der Erstgeborene bin, und die beiden anderen Brüder behaupten nun, ich hätte das Geld verschwinden lassen und wollen Klage wegen Diebstahls gegen mich einreichen. Du kennst meine Gesinnung. Ich habe nicht die kleinste Münze gestohlen. Mein Vater verwahrte sein Geld in einem eisernen Kästchen in einem Schrein. Nach seinem Tode öffneten wir den Schrein, und das Kästchen war nicht mehr da. Nun sagen sie: „In der Nacht, während wir schliefen, hast du es an dich genommen.“ Das ist nicht wahr. Hilf mir, dass wieder Friede und gegenseitige Achtung bei uns einkehren.»

Jesus sieht ihn fest an und lächelt.

«Warum lächelst du, Meister?»

«Weil der Schuldige dein Vater ist... schuldig wie ein Kind, dass sein Spielzeug versteckt, damit es ihm niemand wegnimmt.»

«Aber er war nicht geizig. Glaube mir, er hat viel Gutes getan.»

«Ich weiß es, aber er war sehr alt... Das sind Krankheiten des Alters... Er wollte es aufbewahren für euch und hat euch durch seine übergroße Liebe gegeneinander aufgebracht. Die Kassette ist unter der Kellertreppe eingegraben. Ich sage es dir, damit du siehst, dass ich davon weiß. Während ich mit dir redete, stampfte dein jüngerer Bruder aus Zorn auf den Boden und entdeckte so zufällig das Versteck. Jetzt sind die Brüder verwirrt und bereuen, dich beschuldigt zu haben. Gehe unbeschwert nach Hause und sei gut zu ihnen. Verliere keine Worte über den Verdacht, den sie gegen dich hegten.»

«Nein, Herr, ich gehe noch nicht. Ich bleibe hier, um dir zuzuhören. Erst morgen werde ich heimkehren.»

«Und wenn sie dir Geld wegnehmen?»

«Du sagst, man soll nicht habgierig sein. Ich will es nicht sein. Mir genügt es, wenn unter uns wieder Frieden herrscht. Übrigens, ich habe keine Ahnung, wieviel Geld in der Kassette war, und ich werde daher auch nicht mißmutig sein über eine Mitteilung, die der Wahrheit vielleicht nicht entspricht. Ich denke auch, dass das Geld ebenso gut hätte verloren sein können. Wie ich bisher gelebt habe, so werde ich auch weiterhin leben können, sollte man mir das Geld vorenthalten. Es genügt mir, dass sie mich nicht mehr „Dieb“ nennen.»

«Du bist auf dem Wege Gottes sehr weit fortgeschritten. Mach so weiter, und der Friede sei mit dir!»

Auch dieser geht zufrieden weg. Jesus kehrt zur Menge zurück, zu den Armen, und verteilt nach eigenem Gutdünken die Almosen. Nun sind alle zufrieden, und Jesus kann sprechen.

«Der Friede sei mit euch.

Wenn ich euch die Wege des Herrn erkläre, dann tue ich es, damit ihr auf ihnen wandelt. Könnt ihr gleichzeitig die Wege, die rechts und links bergab führen, gehen? Nein, dass könntet ihr nicht, denn wenn ihr den einen Weg einschlagt, dann müßt ihr den anderen verlassen. Selbst wenn beide Wege nebeneinander verlaufen würden, könntet ihr nicht lange mit dem einen Fuß auf diesem und mit dem anderen Fuß auf jenem gehen. Ihr würdet ermüden und den Tritt verfehlen, selbst wenn es um eine Wette ginge. Doch zwischen dem Weg Gottes und dem Weg Satans liegt eine große Entfernung, und sie wird immer größer; so wie die beiden Wege, die hier nebeneinander beginnen, sich talabwärts immer weiter voneinander entfernen, da der eine nach Kapharnaum, der andere nach Ptolemais führt.

So ist es mit dem Leben. Es verläuft zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, zwischen dem Bösen und dem Guten. In der Mitte ist der Mensch mit seinem Willen, einem freien Willen; an den beiden Enden: auf der einen Seite Gott und sein Himmel, auf der anderen Satan und seine Hölle. Der Mensch kann wählen. Niemand zwingt ihn. Sagt mir nicht: „Aber Satan versucht mich...“ als Ausrede für den Abstieg auf dem Weg nach unten. Auch Gott lockt mit seiner Liebe, und zwar sehr mächtig: Er ruft uns mit Worten voll der Heiligkeit, und er sucht uns mit seinen verlockenden Verheißungen. Warum läßt man sich gerade von dem betören, der am wenigsten verdient, angehört zu werden? Die Worte, die Verheißungen, die Liebe Gottes, sind sie nicht ausreichend, um das Gift Satans unwirksam zu machen?

Gebt acht, denn der Teufel vermag euch in schlimmer Weise zu schwächen. Ein kräftiger und gesunder Mensch ist zwar auch nicht immer gefeit gegen Ansteckungen, doch er überwindet sie mit Leichtigkeit. Während jemand, der schon krank und dadurch geschwächt ist, durch eine neue Ansteckung ziemlich sicher zugrunde geht; und wenn er überlebt, ist er kränker als zuvor, da sein Blut nicht mehr die Kraft besitzt, die Ansteckungskeime vollständig zu vernichten. Dasselbe gilt für den höheren Teil des Menschen. Wenn jemand moralisch und seelisch stark und gesund ist, ist er zwar nicht frei von Versuchungen, aber das Böse kann sich in ihm nicht festsetzen. Wenn ich jemand sagen höre: „Ich bin diesem oder jenem nahegekommen, ich habe dieses oder jenes gelesen, ich habe versucht, diesen oder jenen vom Guten zu überzeugen, stattdessen ist die Bosheit seines Geistes und Herzens und der schädliche Einfluß des Buches auf mich übergegangen“ ' dann muss ich ihm entgegnen: „Ich schließe daraus, dass das Böse, um sich bei dir einnisten zu können, schon einen günstigen Nährboden vorgefunden hat. Das beweist, dass du ein Schwächling ohne moralischen und geistigen Widerstand bist. Denn selbst unsere Feinde können uns Gutes lehren. Wenn wir nämlich ihre Fehler beobachten, soll uns dies lehren, nicht in die gleichen Irrtümer zu verfallen. Der intelligente Mensch wird nicht zum Spielball der erstbesten Lehre, die er vernimmt. Der Mensch, dessen Geist bereits von einer Lehre durchdrungen ist, hat keinen Platz für andere Lehren. Dies erklärt auch die Schwierigkeiten, auf die man bei dem Versuch stößt, überzeugte Anhänger einer anderen Lehre für die wahre Lehre zu gewinnen. Aber wenn du mir sagst, dass du deine Ansicht bei jedem geringsten Windhauch änderst, dann sehe ich, dass in dir eine große Leere ist. Deine geistige Festung ist voller Risse, die Deiche deiner Gedanken sind an tausend Stellen undicht und das gute dringt Wasser nach außen, während das verseuchte Wasser hineingelangt; und du bist so töricht und apathisch, dass du es nicht einmal merkst und keine Vorsorge triffst. Du bist ein Unglückseliger.“

Daher wißt von den beiden Wegen den guten zu wählen, beschreitet ihn und widersteht jederzeit den Verlockungen der Sinne, der Welt, der Wissenschaft und des Teufels. Die Halbheiten im Glauben, die Kompromisse und die Pakte zwischen zwei gegensätzlichen Partnern, überlaßt sie den Menschen der Welt. Auch sie dürften eine solche Geisteshaltung nicht annehmen, wenn sie ehrlich wären. Aber ihr, ihr wenigstens, ihr Männer Gottes, dürft sie nicht haben. Weder Gott noch Satan würde sich damit zufrieden geben. Darum duldet sie auch bei euch selber nicht; wenn in euren Werken Gutes mit Bösem vermischt ist, sind sie wertlos. Gute Taten verlieren durch die schlechten ihren Wert, denn die schlechten treiben euch geradewegs in die Arme des Feindes. Tut sie daher nicht und seid aufrichtig in eurem Dienen.

Niemand kann zwei Herren dienen, die verschiedenen Sinnes sind. Entweder wird er den einen lieben und den anderen hassen, oder umgekehrt.

So könnt ihr auch nicht gleichzeitig Gott und dem Mammon dienen. Der Geist Gottes läßt sich mit dem Geist der Welt nicht vereinbaren. Der eine führt nach oben, der andere nach unten. Der eine heiligt, der andere verdirbt. Wenn ihr aber verdorben seid, wie könnt ihr dann noch in Reinheit wirken? Die sinnliche Begierde erwacht im Verdorbenen und zieht noch andere Gelüste nach sich. Ihr wißt schon, wie Eva verführt wurde, und Adam durch sie.

Satan küßte das Auge der Frau und bezauberte es so, dass alle Dinge, die ihr bis dahin rein erschienen waren, nun ein unreines Aussehen annahmen und in ihr eine ungewohnte Neugier weckten. Dann küßte Satan ihre Ohren und machte sie hellhörig für Worte einer unbekannten Wissenschaft: der seinen. Auch der Verstand Evas wollte erfahren, was nicht notwendig war. Dann zeigte Satan den dem Bösen nun zugänglich gewordenen Augen und Verstand, was sie vorher nicht gesehen hatten. Da erwachte Eva und wurde verdorben, und das Weib ging zum Mann und enthüllte ihm das Geheimnis. Eva überzeugte Adam, von der neuen Frucht zu kosten, die schön anzusehen und bis dahin verboten war. Sie küßte ihn mit dem Mund und schaute ihn an mit den Augen, in denen schon die Verwirrung Satans war. Und die Verderbnis drang in Adam ein, der sah, und durch das Auge begehrte er nach dem Verbotenen. Mit seiner Gefährtin zusammen aß er, und sie fielen von erhabener Höhe in den Schlamm.'

' Um Einwendungen vorzubeugen, erkläre ich, worin die Verführung des Auges und des Ohres Evas bestand. Man überlege und beachte, dass es sich um einen geistigen Kuß handelte, um eine intellektuelle Lehre über die Bosheit, um eine Neugierde zu erwecken, die anfänglich geistiger Natur war, so wie auch die von Gott gestellte Prüfung geistig war, um Adam und Eva in der Gnade zu festigen: Im Gehorsam gegenüber dem einzigen Gebot Gottes. Die anfänglich geistige Neugierde entartete zu einer Neugierde für das Stoffliche, die sich immer mehr dem Fleischlichen zuwandte. Eva war ganz Gnade und Unschuld, mit einer Fülle übernatürlicher Gaben ausgestattet und sah und erkannte Gott und sich selbst in Gerechtigkeit, als ein zur übernatürlichen Höhe des Kindes Gottes erhobenes Geschöpf. Sie sah und erkannte ihr Verhältnis als Geschöpf zu ihrem Schöpfer, den Unterschied zwischen ihm und ihr, der weder dadurch aufgehoben wurde, dass Gott der Vater den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen hat, noch durch seine göttliche Liebe zu seinem Geschöpf. Nichts hatte sie dazu verleitet, sich für Gott ebenbürtig zu halten, zu sein wie Gott, was ihre Natur und Macht betraf. Nichts hatte sie begierlich gemacht, alles sein zu wollen und zu können, so wie Gott alles ist und alles kann. Unschuldig und glücklich wie ein Kind war sie zufrieden mit dem, was ihr geschenkt worden war. Sie war seelisch und körperlich gesund, weil sie frei von abnormalen Begierden und Trieben war. Sie erkannte sich als Kind Gottes, und als solche erkannte sie auch ihren Gefährten. Als Königin über Tier- und Pflanzenreich, lag die Schöpfung zu ihren Füßen, doch ihr Anblick verführte ihre Seele nicht zur Sünde, sondern spornte sie an, über das Natürliche hinauszuwachsen; denn die Herrlichkeiten des Paradieses, in denen sie Gott erkannte, führten sie zu einer immer vollkommeneren Liebe zu ihrem Herrn. Sie erkannte sich in ihrem erhabenen Teil als Kind Gottes und nicht als animalisches Geschöpf. – Satan näherte sich ihr in Gestalt einer Schlange und zog die Unbedachte an sich.

Wenn einer verdorben ist, zieht er auch den anderen ins Verderben, sofern der andere nicht ein Heiliger im wahrsten Sinne des Wortes ist.

Hütet eure Blicke, Männer! Sowohl die Blicke der Augen als auch die Blicke des Geistes. Sind sie verdorben, können sie nur alles übrige auch noch verderben. Das Licht des Körpers ist das Auge. Das Licht des Herzens ist dein Denken. Ist dein Auge unrein, dann wird alles in dir trübe sein, und verführerische Nebel werden in dir unreine Trugbilder erzeugen. Alles ist rein in dem, der reine Gedanken hat, die einen reinen Blick erzeugen, und das Licht Gottes steigt da, wo es die Sinne nicht behindern, machtvoll hernieder. Hast du aber dein Auge durch deinen schlechten Willen zu unreinen Betrachtungen erzogen, wird alles in dir Finsternis.

Die Schlange verstand es, mit ihrer Eigenart Eva zu begeistern und strömte ihr tödliches Gift mit ihrem magischen Zauber aus, wodurch geistige Erkenntnis und Einsichtsvermögen der Frau getrübt wurden, so dass sich das geschmeichelte Weib in Eva enthüllte. Eva würde sich nun mächtig wie Gott glauben, sobald sie das Kennzeichen eines Geschöpfes, d.h., die Pflicht, dem Gebot Gottes zu gehorchen und nur das zu tun, was Gott erlaubt, weit von sich werfen würde.

Als sie sich dieses Kennzeichens entledigt hatte, um wie Gott zu sein, überkam sie die seelische Ausschweifung des „Alles-Können“, und diese zeugte die geistige Ausschweifung des „Alles-Kennen-Wollen“, dass Gute und vor allem das Böse, dass Gott ihr zu kennen verbot, während die Schlange sie dazu anspornte, es kennenzulernen; denn nur durch die vollständige Kenntnis des Guten und Bösen würden sie und Adam „wie Götter“, und damit ihr Geschlecht und Same aus eigener Kraft unsterblich. Die Schlange bot sich ihr als Lehrmeisterin der unbeschränkten Erkenntnis an, und Eva nahm diese als Lehrmeisterin an. Die geistige Ausschweifung als Tochter der seelischen, zeugte nun die fleischliche Ausschweifung. Eva, die ihr Seh- und Hörvermögen schon zum Bösen benutzt hatte, wollte nun auch ihren Tastsinn dazu benützen, die Geheimnisse der verbotenen Frucht zu erkennen; mit dem Geruchssinn nahm sie deren betörenden Duft in sich auf, mit dem Geschmack öffnete sie die Schale einer neuen Erkenntnis, um den unbekannten Geschmack zu kosten. – In ihr erwachte die böse Begierde, das, was sie kaum versucht hatte, nunmehr vollständig auszukosten.

Der Gnade, der Unschuld und Unversehrtheit beraubt, erschien ihr das Böse gut. Sie war nicht mehr fähig, ihre Sinnlichkeit der Vernunft zu unterstellen. – Sie erkannte sich und ihren Gefährten und wollte auch ihn zu dieser Erkenntnis führen. Arglistig näherte sie sich Adam und konnte ihn dazu verleiten, dass Gebot Gottes mit Füßen zu treten.

Sie verführte ihn zu dem, was sie schon getan hatte: in den Apfel zu beißen. Nachdem sie ihn in Unkeuschheit und Bosheit ihr gleichgemacht hatte, überredete sie ihn, die verbotene Frucht zu essen, um sich einen neuen, sofortigen Genuß zu verschaffen, und dazu die Macht, künftig Gott im Erschaffen neuer Menschen ähnlich zu sein, nach den Naturgesetzen, denen auch die Tiere unterworfen sind und anders als von Gott bestimmt. – Satan wollte erstens aus dem Menschen als Kind Gottes einen tierischen Menschen machen und zweitens versuchen, aus dem göttlichen Eingeborenen, der Mensch geworden war, einen Sünder zu machen. – Sein erstes Ziel, den Geist durch das Fleisch zu besiegen, erreichte er im unglückseligen Sündenfall. Sein zweites Vorhaben, den Messias zur Sünde zu verführen, schlug fehl. So satanisch auch sein Plan war, den Messias in die Sünde zu stürzen und dadurch jede Möglichkeit einer Wiedergeburt des Menschen zum Kinde Gottes zu verhindern, so diente doch dieser Plan der „Vollendung“ des Gott-Menschen, indem Christus in seiner Gnade als Mensch bestätigt wurde und somit in seiner Macht als Messias, als Ursache des ewigen Heils für die erlösten Kinder (Nachkommenschaft) Adams.

Und vergeblich betrachtest du dann auch heiligste Dinge. Im Dunkel wird es nichts als Finsternis geben und du wirst Werke der Finsternis tun.

Daher, Kinder Gottes, hütet euch vor euch selbst! Seid wachsam und hütet euch vor allen Versuchungen. Dass ihr versucht werdet, ist nichts Schlechtes. Der Wettkämpfer bereitet sich durch den Kampf auf den Sieg vor. Schlimm ist es, besiegt zu werden wegen ungenügender Vorbereitung und Unachtsamkeit. Ich weiß, dass alles der Versuchung dient. Ich weiß, dass andauernde Verteidigung zermürbt. Ich weiß, dass der Kampf ermüdet. Doch Mut! Überlegt euch, was ihr durch all dies gewinnt! Möchtet ihr für eine Stunde des Vergnügens, welcher Art es auch sei, eine Ewigkeit des Friedens verlieren? Was bleibt euch von der Sinnenlust, von der Freude am Gold und den Gedanken daran? Nichts! Was gewinnt ihr, wenn ihr auf sie verzichtet? Alles! Ich spreche zu Sündern, denn der Mensch ist ein Sünder. Sagt mir also ganz ehrlich: Wenn ihr eure Sinnenlust, euren Hochmut und euren Geiz befriedigt habt, fühlt ihr euch dann frischer, zufriedener und sicherer? Empfindet ihr nach deren Befriedigung, der immer ein Moment des Nachdenkens folgt, wirklich das Gefühl echten Glückes? Ich habe dieses Brot der Sinne nicht verkostet, doch ich antworte euch: Nein! Niedergeschlagenheit, Unzufriedenheit, Unsicherheit, Ekel, Angst und Unruhe sind die traurigen Folgen des Nachgebens.

Aber ich bitte und sage euch: Gebt nie nach; ich sage euch ebenfalls: Seid nicht unerbittlich gegen jene, die fehlen. Denkt daran, dass ihr alle Brüder seid, aus Fleisch und Seele. Bedenkt, dass es viele Ursachen gibt, die einen Menschen zur Sünde verleiten können. Seid barmherzig mit den Sündern, helft ihnen mit Güte, sich zu erheben und führt sie zu Gott; zeigt ihnen, dass der von ihnen eingeschlagene Weg voller Gefahren für das Fleisch, den Geist und die Seele ist. Tut dies, und euer Lohn wird groß sein, denn der Vater im Himmel ist barmherzig mit den Guten und vergilt jede gute Tat hundertfach. Daher sage ich euch...»

Hier teilt Jesus mir mit: «Siehe und schreibe. Das ist das Evangelium der Barmherzigkeit für alle und besonders für jene, die sich in der Sünderin wiedererkennen. Ich lade sie ein, ihr in ihrer Erlösung nachzufolgen.»

Jesus steht auf einem Felsblock und spricht zu einer großen Menge in einer gebirgigen Gegend, wo sich ein einsamer Hügel zwischen zwei Tälern erhebt. Der Gipfel des Hügels hat die Form eines Joches oder besser, die Form eines Kamelhöckers, so dass sich einige Meter unter der Kammlinie ein natürliches Amphitheater befindet, in welchem die Stimme klar erschallt wie in einem sehr gut gebauten Konzertsaal.

Der Hügel ist von Blumen übersät und ich nehme an, dass die warme Jahreszeit angebrochen ist. Die Getreidefelder in den Ebenen beginnen sich gelblich zu färben und sind bald reif zur Ernte. Im Norden strahlt die schneebedeckte Kuppe eines hohen Berges in der Sonne. Darunter, im Osten, liegt das galiläische Meer wie ein in zahllose Stückchen zersplitterter Spiegel, und jeder einzelne Splitter leuchtet wie ein von der Sonne entflammter Saphir. Der See blendet mit seinem bläulichen Schimmern, nur einige Wolkenflöcklein spiegeln sich wider, die im tiefen Blau des reinen Himmels schweben wie fliehende Schatten eines Segelschiffes. Jenseits des Sees Genesareth liegen auf den fernen Ebenen leichte Bodennebel oder vielleicht der Dunst des Taus – es müssen die ersten Morgenstunden sein, denn das Gras in der Höhe trägt noch diamantene Tautropfen -; der Dunst scheint den See zu verlängern, aber in der Farbe eines grün geäderten Opals; dahinter zeigt sich eine Bergkette mit einem steinigen Abhang, der einem Wolkengebilde am klaren Himmel gleicht.

Das Volk sitzt im Gras oder auf dem Steinen, und viele Leute hören auch stehend zu. Das Schar der Apostel ist nicht vollzählig. Ich sehe Petrus und Johannes, Andreas und Jakobus und höre, wie man zwei andere, nämlich Nathanael und Philippus, ruft. Ich sehe noch einen anderen, der vielleicht auch zur Gruppe gehört; er ist wahrscheinlich erst angekommen: man nennt ihn Simon. Weitere sind nicht da, wenigstens sehe ich sie inmitten der vielen Leute nicht.

Jesus hat erst vor kurzem zu sprechen begonnen. Es ist mir klar, dass es die Bergpredigt ist. Doch die Seligpreisungen sind bereits erwähnt worden. Mir scheint, dass die Rede ihrem Ende zugeht, denn Jesus sagt: «Tut dies, und euer Lohn wird groß sein, denn der Vater im Himmel ist barmherzig mit den Guten und wird hundertfach vergelten. Darum sage ich euch...»

Eine starke Bewegung kommt in das Volk, dass sich am Weg, der zur Hochebene hinaufführt, befindet. Die Köpfe derer in der Nähe Jesu wenden sich um. Die Aufmerksamkeit wird abgelenkt. Jesus hört auf zu reden und wendet seinen Blick in dieselbe Richtung wie die anderen. Er ist ernst und schön in seinem dunkelblauen Gewand mit den auf der Brust gekreuzten Armen. Die Sonne streift sein Haupt mit dem ersten Strahl, der über den östlichen Gipfel des Hügels dringt.

«Macht Platz, Gesindel, dass ihr seid», schreit eine zornige Männerstimme. «Macht Platz der Schönheit, die vorübergeht!» Es kommen vier aufgeputzte Gecken, von denen einer Römer sein muss, da er mit einer römischen Toga bekleidet ist. Sie tragen auf ihren Armen, die zu einem Sitz verschränkt sind, Maria von Magdala, die immer noch große Sünderin, im Triumph daher.

Maria lacht mit ihrem entzückenden Mund und wirft ihren Kopf mit der goldenen Haarpracht zurück, deren Zöpfe und Locken von wertvollen Spangen, Nadeln und einem goldenen Band gehalten werden. Das mit Perlen bedeckte Band schmückt ihre Stirn wie ein Diadem, leichte Löckchen fallen darüber und verschleiern die an sich schon herrlichen Augen, die durch einen geschickten Kunstgriff noch größer und verführerischer erscheinen. Das Diadem verliert sich hinter den Ohren unter der Fülle ihrer geflochtenen Haare, die über den weißen, bloßen Nacken hängen. Die Blöße reicht sogar weit unter den Nacken. Ihre Achseln sind bis zu den Schulterblättern frei und die Brust noch weit mehr. Das Gewand wird auf den Schultern von zwei goldenen Kettchen gehalten und ist ärmellos. Alles ist sozusagen von einem Schleier bedeckt, der nur die Aufgabe hat, die Haut vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Das Kleid ist sehr leicht, und wenn sie sich in ihrem gezierten Getue einmal an diesen, dann an jenen Verehrer lehnt, ist es fast, als würde sie es mit dem nackten Körper tun. Ich habe den Eindruck, dass der Römer der Bevorzugte ist, denn ihm gelten hauptsächlich ihr Lachen und ihre Blicke, und an seine Schulter legt sie besonders gern ihren Kopf.

«Die Göttin ist befriedigt», sagt der Römer. «Rom hat sich zum Reittier der neuen Venus gemacht, und dort ist Apollo, den du zu sehen gewünscht hast. Verführe ihn nun, aber laß auch uns einige Brosamen deiner Gunst!»

Maria lacht und springt mit einer behenden, herausfordernden Bewegung zu Boden und entblößt die kleinen Füße in den weißen Sandalen mit goldenen Spangen, und auch ziemlich viel Bein. Dann deckt das weite Kleid aus leichter Wolle, dass wie ein schneeweißer Schleier auf den Hüften von einem Gürtel aus goldenen Schuppen gehalten wird, alles wieder zu. Die Frau steht da wie eine Blume aus Fleisch und Blut, eine unreine Blume, durch einen Zauber auf der grünen Ebene erblüht, in der es Maiglöckchen und wilde Narzissen in großer Zahl gibt.

Maria von Magdala ist schön wie nie zuvor. Ihr kleiner, purpurroter Mund gleicht einer aufbrechenden Nelke, die auf dem Weiß der vollendet schönen Zähne blüht. Das Antlitz und der Körper könnten den anspruchsvollsten Maler oder Bildhauer sowohl durch die Farben als auch durch die Formen zufriedenstellen. Die volle Brust und die Hüften im rechten Verhältnis zur schmalen, geschmeidigen Taille, gleicht sie einer Göttin, wie der Römer gesagt hat... einer Göttin, aus zartem rosa Marmor gemeißelt, auf deren Hüften der leichte Stoff sanft aufliegt, um dann in einem reichen Faltenwurf nach vorn zu fallen. Alles ist für den Genuß der Augen ausgeklügelt.

Jesus blickt sie fest an. Frech hält sie seinem Blick stand und lacht und windet sich unter der Berührung ihrer Schultern und Brust mit einem von dem Römer unterwegs gepflückten Maiglöckchen. Dann hebt sie unter gekünsteltem Jammern den Schleier und sagt: «Respektiert meine Unberührtheit!», wobei die vier Männer in ein schallendes Gelächter ausbrechen.

Jesus blickt sie weiterhin fest an. Als das Gelächter verstummt, nimmt er seine Rede wieder auf und würdigt sie keines Blickes mehr. Es ist, wie wenn das Auftauchen dieser Frau Jesus zur Wiederaufnahme der Rede entflammt hätte, die schon auf ihr Ende zuging und am Erlöschen war. Er schaut nun wieder auf seine Zuhörer, die durch den Vorfall verwirrt und entsetzt zu sein scheinen.

Jesus fährt fort: «Ich habe gesagt, dass man dem Gesetz treu sein, demütig und barmherzig sein soll, dass man nicht nur die Menschen seines eigenen Geblütes lieben soll, sondern auch jene, die wie wir Menschen und somit unsere Brüder sind. Ich habe euch gesagt, dass Vergebung besser ist als Groll, dass Nachsicht besser ist als Unerbittlichkeit. Nun aber sage ich euch, dass man nicht verurteilen darf, wenn man nicht selbst frei von der Sünde ist, die man verurteilen will. Macht es nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, die streng mit allen, aber nicht mit sich selbst sind, die unrein nennen, was äußerlich ist und nur das Äußere verunreinigen kann, und dann in tiefster Brust, im Herzen, der Unreinheit Raum gewähren.

Gott ist nicht mit den Unreinen, denn die Unreinheit zerstört, was Gottes Eigentum ist: die Seele, und besonders die Seelen der Kinder, der auf der Erde verstreuten Engel. Wehe allen, die ihnen mit der Roheit dämonischer Bestien die Flügel ausreißen, diese Himmelsblumen in den Schmutz ziehen und in ihnen den Lebensgenuß wecken! Wehe! Es wäre besser, sie würden vom Blitz getroffen verbrennen, als einer solchen Sünde zu verfallen!

Wehe euch Reichen und Genießern! Gerade unter euch gärt die größte Unreinheit, der Müßiggang und Geld als Bett und Polster dienen. Ihr seid jetzt überfüttert. Bis an die Kehle reicht euch die Speise der Begehrlichkeit und würgt euch. Aber einst werdet ihr einen Hunger kennenlernen, einen schrecklichen, unersättlichen Hunger, der nicht gelindert werden kann und ewig dauert! Jetzt seid ihr reich. Wieviel Gutes könntet ihr mit eurem Reichtum tun! Aber ihr benützt ihn zum Bösen, sowohl für euch als auch für die anderen. Eines Tages werdet ihr eine entsetzliche Armut kennenlernen, und sie wird kein Ende nehmen. Nun lacht ihr. Ihr wähnt zu triumphieren, doch eure Tränen werden die Pfuhle der Hölle (Gehenna) füllen, und sie werden endlos fließen.

Wo nistet sich der Ehebruch ein? Wo ist das Verderben der Mädchen? Wer hat außer seinem Ehebett noch zwei oder drei Betten der Zügellosigkeit, auf denen er sein Geld verschwendet und die Kraft seines Körpers vergeudet, den er von Gott gesund erhalten hat, damit er für seine Familie arbeite und nicht, damit er sich in sündhaften Verbindungen aufreibe, die ihn unter ein unreines Tier erniedrigen? Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: „Du sollst nicht ehebrechen“? Ich aber sage euch, dass jeder, der eine Frau lüstern ansieht, und jede, die sich mit Begierde dem Manne nähert – und selbst, wenn es bei bloßer Begierde bleibt – im Herzen bereits Ehebruch begangen hat. Kein Grund rechtfertigt den Ehebruch. Keiner! Nicht das Verlassen- und Verstoßensein durch einen Ehemann. Nicht das Mitleid mit einer Verstoßenen. Ihr habt nur ein Herz. Ist es durch ein Treuegelöbnis mit einem anderen verbunden, so dürft ihr nicht verleugnen, sonst wird euer schöner Körper, mit dem ihr sündigt, zusammen mit eurer unreinen Seele in das nie erlöschende Feuer geworfen. Verstümmelt ihn eher, aber tötet ihn nicht, indem ihr ihn auf ewig verdammt. Werdet wieder zu Menschen, ihr Reichen, ihr lasterhaften, wurmstichigen Gestalten, werdet wieder zu Menschen, um nicht den Himmel mit Abscheu vor euch zu erfüllen.

Maria, die anfänglich mit einem Gesicht zugehört hat, dass ein Gedicht von Verführung und Ironie war, und ab und zu ein spöttisches Kichern hören ließ, wird gegen Ende der Rede schwarz vor Wut. Sie versteht, dass Jesu Worte ihr gelten, obwohl er sie nicht anblickt. Ihre wachsende Empörung wird immer aufsässiger und schließlich kann sie nicht mehr widerstehen; sie hüllt sich verächtlich in ihren Schleier, und verfolgt von den Blicken der spottenden Menschenmenge und der Stimme Jesu, beginnt sie wütend und mit höhnischem Gelächter den Abhang hinunterzurennen und läßt ganze Fetzen ihres Kleides an den Disteln und wilden Rosensträuchern am Wegrand zurück.

Jesus fährt fort: «Das Vorkommnis hat euch entrüstet. Seit zwei Tagen wird unser Zufluchtsort, hoch über dem Schlamm, vom Zischen der Schlange heimgesucht. Daher ist er kein Zufluchtsort mehr und wir werden ihn verlassen. Doch ich will die Darlegung des Gesetzes des „höchst Vollkommenen“ in dieser Fülle von Licht und der Weite des Horizontes zu Ende führen. Hier zeigt Gott sich wahrlich in seiner Majestät als Schöpfer, und durch die Betrachtung seiner Wunderwerke kommen wir zum festen Glauben, dass er der Herr ist, und nicht Satan. Der Böse könnte nicht einmal einen Grashalm erschaffen. Gott aber kann alles. Dies gereiche uns zum Trost. Ihr aber seid nunmehr alle der Sonne ausgesetzt, dass ist nicht gut. Verteilt euch auf die schattigen und kühlen Hänge. Nehmt eure Mahlzeit ein, wenn ihr wollt. Ich werde noch über das gleiche Thema weitersprechen. Unser Aufenthalt hat sich aus verschiedenen Gründen hinausgezogen, doch ihr sollt nicht bereuen. Hier seid ihr bei Gott.»

Die Leute rufen: «Ja, ja, bei dir!» und begeben sich zu den Hainen, die auf der östlichen Seite wachsen und einen Schutz bilden gegen die Sonne, die nun schon zu heiß herniederbrennt.

Jesus beauftragt indessen Petrus, dass Schutzdach abzubrechen.

«Aber gehen wir wirklich weg?»

«Ja!»

«Weil sie gekommen ist...?»

«Ja. Aber sage es niemandem, besonders nicht dem Zeloten. Er würde traurig werden, des Lazarus wegen. Ich kann nicht zulassen, dass das Wort Gottes zum Spott der Heiden wird...»

«Ich verstehe, ich verstehe...»

«Dann wirst du auch etwas anderes verstehen.»

«Was, Meister?»

«Die Notwendigkeit, in gewissen Fällen zu schweigen. Ich lege es dir ans Herz. Du bist sehr gut, aber du bist auch so impulsiv, dass du dich zu beißenden Bemerkungen hinreißen läßt.»

«Ich verstehe... du willst es nicht wegen Lazarus und Simon...»

«Auch anderer wegen.»

«Denkst du, dass heute solche hier sein werden?»

«Heute, morgen, übermorgen und immer. Immer wird es notwendig sein, dass Aufbrausen meines Simon des Jonas zu überwachen. Geh und tue, was ich dir gesagt habe.»